Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer - Roman

Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer - Roman

von: José Eduardo Agualusa

Verlag C.H.Beck, 2019

ISBN: 9783406733758

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 2767 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Gesellschaft der unfreiwilligen Träumer - Roman



1


Ich wachte früh auf. Durch das schmale Fenster sah ich längliche, schwarze Vögel ziehen. Ich hatte von ihnen geträumt. Als wären sie nun aus dem Traum in den Himmel geflohen, ein feuchtes Blatt Seidenpapier, dunkelblau und mit bitteren, stockigen Rändern.

Ich stand auf und ging runter zum Strand, barfuß und in Unterhosen. Die ganze Gegend war menschenleer. Nur den Mann, der mich aus einem dunkelgrünen Schaukelstuhl heraus beobachtete, sah ich nicht, während die Sonne die Hügel erklomm. Gleich würde die Luft sich mit Licht füllen. Winzige Wellen kräuselten sich hintereinander zu zierlichen Schaumrändern. Hinter mir ragten die Klippen auf. Auf den Klippen erhoben sich wie stachelige Kathedralen Kakteen, und dahinter begann nun wie rasend der Himmel zu brennen.

Ich ging ins Wasser und schwamm, langsam, mit kräftigen Zügen. Es gibt Leute, die schwimmen aus reiner Freude, andere, um sich fit zu halten. Ich schwimme, um besser nachdenken zu können. Oft muss ich an einen Vers der mosambikanischen Dichterin Glória de Sant’Anna denken: «Im Wasser bin ich genau.»

Am Vortag war ich geschieden worden. Der Anruf hatte mich in der Redaktion des O Pensamento Angolano erreicht, als ich gerade an einem Interview arbeitete, das ich mit einem Piloten geführt hatte. Der Pilot, Domingos Perpétuo Nascimento, früher Militärflieger, in der Sowjetunion ausgebildet, hatte in Mavinga gekämpft und in dieser größten Schlacht auf afrikanischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg eine MiG-21 gesteuert. Später hatte ihn die Guerilla bei einem Überfall auf einen zivilen Konvoi zwischen Luanda und Benguela entführt, und er war zu ihnen übergelaufen. Nach dem Krieg war er zu einer angolanischen Luftfahrtgesellschaft gegangen. Vor ein paar Tagen hatte er auf der Flugzeugtoilette eine Tüte gefunden, mit einer Million Dollar darin, und zur Polizei gebracht. Eine gute Geschichte. Die Art von Geschichten, auf die ich mich spezialisiert habe. Ich war so vertieft in das Interview, dass ich das Telefon erst einmal klingeln ließ. Es hörte kurz auf und klingelte dann weiter. Schließlich nahm ich das Gespräch an. Ich erkannte Lucrécia sofort an der rauen Stimme und am Befehlston:

«Wo bist du?»

«In der Redaktion …»

«Und warum nicht im Gericht? Der Termin ist in fünfzehn Minuten.»

Ich wisse nichts von einem Termin, antwortete ich. Man hatte mir nichts gesagt. Lucrécias Stimme wurde um eine Spur lauter: «Sie haben dir eine Vorladung geschickt. Allerdings an die falsche Adresse. Ich habe das selbst erst vor Kurzem gemerkt. Ich hatte mir das falsch aufgeschrieben. Jedenfalls ist die Verhandlung in zehn Minuten.»

Lucrécia hatte ich einst auf einem Fest kennengelernt. Als ich sie sah, wusste ich, dass ich sie heiraten würde. Einem Freund schwärmte ich vor, wie perfekt sie sei, «schade nur, dass sie ihr Haar glättet». Die ganze Zeit über, die wir verheiratet waren, gelang es mir nie, sie zu überreden, ihre Locken einmal natürlich auf die Schultern fallen zu lassen. «Dann sehe ich aus wie ein Raubtier», sagte sie immer.

Im September 1992 kamen wir zusammen, zur Zeit der ersten Parlamentswahlen. Damals zog Euphorie durch die Straßen, Arm in Arm mit der Gewalt. Ich verbrachte die Zeit auf Kundgebungen, Feiern und mit Reisen ins Hinterland, endlosen Diskussionen in Kneipen, auf Terrassen und Hinterhöfen. Wer schlafen ging, wusste, Angola stand kurz vor dem Ende, und beim Aufwachen war man fest davon überzeugt, am Beginn eines endlosen Friedens zu stehen. Dann ging der Krieg wieder los, schlimmer als je zuvor, und wir heirateten. Ich leitete damals das Feuilleton des Jornal de Angola, schrieb Rezensionen, führte Interviews mit Schriftstellern, Musikern, Filmleuten. Meine Arbeit machte mir Spaß. Lucrécia hatte in London Innenarchitektur studiert und brauchte für ihre Tätigkeit nicht so viel Zeit.

Ihr Vater, Homero Dias da Cruz, war auf wundersame Weise zu Geld gekommen, am Ende des Einparteiensystems und der Zentralwirtschaft, als Begriffe wie «proletarischer Internationalismus» und «revolutionäre, demokratische Diktatur» noch in aller Munde waren und «Kapitalakkumulation» noch kein Euphemismus für Korruption.

Nach seinem Jurastudium 1973 im portugiesischen Coimbra war er gleich nach der Unabhängigkeit Direktor eines wichtigen Staatsunternehmens geworden, hatte 1990, schon reich und im Zentralkomitee der Partei, den staatlichen Sektor verlassen und eine Firma für Bergbauconsulting gegründet. Er ist ein harscher, kurz angebundener Mann, oft nicht sehr freundlich zu seinen Angestellten und Partnern, aber als Ehemann aufmerksam und ein zärtlicher Vater. Bis heute besteht er darauf, sich um seine Kinder zu kümmern, die alle schon weit über vierzig sind. Uns schenkte er damals eine Wohnung in Maianga, wo es uns gut ging. Der Krieg konnte uns wenig anhaben.

Lucrécia wurde schwanger, an einem herrlichen, sonnigen Märzmorgen kam unsere Tochter in einer Londoner Privatklinik auf die Welt, und wir nannten sie Lúcia. Sie wurde ein fröhliches, gesundes Kind, das schon früh eine glühende Leidenschaft für Singvögel entwickelte, wie sie Homero in seinem Garten in einer riesigen Voliere hielt: Dutzende Fliegenschnäpper, Schmetterlingsfinken, Diamantpfäffchen, Prachtfinken und Kanarienvögel in lärmendem Durcheinander. Stundenlang klammerte Lúcia sich an die Gitter des Käfigs und versuchte, sich mit den Vögeln zu unterhalten. Noch bevor sie ein Wort sprechen konnte, beherrschte sie schon den Gesang eines jeden Einzelnen. Ich glaubte jahrelang, dass mein Vater sie deswegen scherzhaft Karinguiri genannt hatte, nach einem Singvogel aus Benguela. Ihr Spitzname blieb es jedenfalls.

Die Probleme zwischen mir und Lucrécia begannen erst, als ich anfing, als Korrespondent einer portugiesischen Zeitung auch über Politik und Gesellschaft zu schreiben. Nicht, dass sie etwas dagegen gehabt hätte, sie interessierte sich nicht für Politik. Es war Homero, dem es nicht gefiel.

«Man wäscht seine schmutzige Wäsche zu Hause», erklärte er mir. «Es gefällt mir nicht, dass du in einer Zeitung im Ausland schlecht über dein Land redest.»

Ich versuchte, ihm klarzumachen, dass Land und Regierung nicht eins seien und die Regierung zu kritisieren gewiss keine Missachtung Angolas und der Angolaner, im Gegenteil, ich kritisierte die Regierung, weil ich von einem besseren Land träumte. Doch Homero wischte meine Ausführungen ärgerlich weg: «Du hast es nicht nötig, für diese Zeitung zu schreiben. Was zahlen sie?»

«Tausend Dollar im Monat.»

«Tausend Dollar? Eintausend? Das alles für läppische eintausend Dollar? Ich gebe dir zehntausend, und du hörst auf damit. Ihr habt ein Kind. Du musst dich um deine Familie kümmern.»

Ich schaute ihn entgeistert an und lehnte sein Angebot ab. Ein paar Tage später rief mich João Aquilino in sein Büro, der Direktor des Jornal de Angola, dem klar war, dass jeder in der Redaktion ihn verachtete. Sein Spitzname war Maulwurf, was genau auf ihn passte: ein schmächtiger Typ, leicht gebeugt und mit kleinen, zusammengekniffenen Augen, an dessen schmieriger, derber Erscheinung auch der teuerste Anzug nichts ändern konnte. Er war Direktor nicht wegen journalistischer Qualitäten geworden, denn er besaß keine, sondern aufgrund seiner Vergangenheit als beflissener Parteigänger. Und der erklärte mir nun mit seiner säuselnden Stimme, dass meine Tätigkeit für ein ausländisches Organ ein Verstoß gegen die Regeln des Hauses sei. Die Zeitung bestehe auf Exklusivität, also dürfe ich entweder nicht mehr für die Portugiesen schreiben, oder er sei gezwungen, mich zu entlassen. Als ich ihn darauf hinwies, dass etliche andere Journalisten, sogar der Chefredakteur, ebenfalls für Blätter im Ausland schrieben und die Zeitung, wenn sie etwas dagegen habe, nur besser bezahlen müsse, erhob er sich, ging mit hinter dem Rücken verschränkten Armen um seinen Schreibtisch herum, baute sich vor mir auf, stellte sich auf die Zehenspitzen und sagte: «Wissen Sie, warum Sie nicht längst schon entlassen sind? Allein aus Respekt vor ihrem Herrn Schwiegervater. Ihre Unverschämtheit bin ich leid. Was glauben Sie eigentlich, wer Sie sind? Sie halten sich wohl für was Besseres, nur weil Sie im Ausland studiert und ein paar Bücher auf Englisch gelesen haben. Ich warne Sie: Noch ein einziger Text in irgendeiner Zeitung der Kolonialmacht, und Sie fliegen raus.»

Ich trat zwei Schritte zurück, drehte mich um, wollte gehen, doch als ich bereits an der Tür war, überkam mich der Benchimol-Dämon, wie ich ihn nenne. Ich schloss die Tür wieder, ging mit ausgestrecktem Zeigefinger auf den Maulwurf zu und sagte: «Und das ist Ihnen nicht einmal...

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