Die allerseltsamsten Orte der Welt - Aufsteigende Inseln, bodenlose Städte, abseitige Paradiese

Die allerseltsamsten Orte der Welt - Aufsteigende Inseln, bodenlose Städte, abseitige Paradiese

von: Alastair Bonnett

Verlag C.H.Beck, 2019

ISBN: 9783406734427

Sprache: Deutsch

269 Seiten, Download: 3880 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Die allerseltsamsten Orte der Welt - Aufsteigende Inseln, bodenlose Städte, abseitige Paradiese



Einleitung


Die Geografie wird immer seltsamer: Neue Inseln entstehen, vertraute Gebiete zerfallen und Türen zu bislang verborgenen Territorien öffnen sich. Die wilden Zonen auf dieser Welt werden immer mehr und verändern sich rasch.

Im Folgenden erzähle ich 39 Geschichten von 39 außergewöhnlichen Orten, die uns alle etwas darüber verraten, wie Orte sich wandeln und die Entstehung von Orten sich verändert. Wir stoßen auf kriegführende Enklaven und gegenwärtige Utopias, auf geografische Sonderfälle und Außenseiter. Sie alle sind einzigartig, weisen aber auch Gemeinsamkeiten auf: Die unheimlichen Ruinen, die unnatürlichen Orte, die Fluchtzonen und die Dazwischenräume sind Stätten der Überraschung, aber auch des Befremdens und Unbehagens. Die Kompassnadel zappelt hin und her. Das Abenteuer, das vor Ihnen liegt, ist die Folge eines neuen geografischen Schwindelgefühls. Die irritierende Fragmentierung von Gebieten, die Überlappung und Verschiebung von Grenzen, die wir in so vielen Teilen dieser Welt erleben, macht uns deutlich, dass Geografie kein verschmockter, verstaubter Gegenstand ist, sondern eine spannende, oft auch alarmierende Angelegenheit.

Ich habe Orte mit faszinierenden Geschichten ausgewählt, die uns etwas über die gegenwärtigen geografischen Turbulenzen verraten. Einige wie die Trap Streets oder das Ferghanatal gehen auf Vorschläge von Lesern meiner früheren Bücher zurück, andere sind die Früchte meiner «abseitigen» Reisen und Forschungsvorlieben.

Beginnen will ich mit ungebärdigen Inseln: mit umstrittenen, fantastischen und nicht zu zählenden Eilanden, die überall auf der Welt en vogue sind, vom kühlen Ärmelkanal bis zu den warmen Gewässern der Philippinen. Anschließend erkunden wir einige alte Verbündete der Insel: Enklaven und neue Länder. In den tiefen Tälern der Dolomiten und hinter einer Mauer, die quer durch die Sahara verläuft, werden ganz unterschiedliche Formen des Überlebenskampfs praktiziert. Diese eigenartigen, oft auch unsicheren Territorien strotzen nur so vor kühnen Ambitionen. Von dort ist es nur ein kleiner Sprung zu unserem nächsten Ziel: utopischen Orten. Das Zerfasern traditioneller geografischer Grenzen und Loyalitäten setzt utopische Energien ganz unterschiedlicher Couleur frei, ziemlich düstere, aber auch sehr verspielte. Die radikalen Islamisten in Syrien und im Irak zerfetzen nicht nur die Landkarte, sondern zeigen uns auch eine erschreckende Ausgeburt utopischen Denkens – sie sind ein brutales, mörderisches Beispiel für den Wunsch nach einem reinen Territorium. Zum Glück gibt es viele andere Möglichkeiten, nach Vollkommenheit zu streben: etwa das wunderbare Christiania mit all seinen kunterbunten Eigenbauten oder die beweglichen Behausungen und Kapseln der «neuen Nomaden», eines wohlhabenden, exklusiven Völkchens permanent Reisender. Auch wenn in der Kulturwelt Dystopien alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen, so arbeiten doch an vielen Orten im wirklichen Leben, oft sogar gleich um die Ecke, Menschen eifrig an funktionierenden Alternativen.

In «Die seltsamsten Orte der Welt» habe ich zu zeigen versucht, warum Orte für mich zu einer Obsession geworden sind. Ganz bestimmt nicht nur deshalb, weil ich Professor für Geografie bin. Offen gestanden hat diese Besessenheit überhaupt nichts mit dem Verstand zu tun, sondern mit Freude und Drama, Liebe und Abscheu – mit all den mächtigen Gefühlen, die sich mit Orten verbinden. Doch auch das ist noch nicht alles: Ich leide an einer nostalgischen Sehnsucht nach verlorenen Orten. Diese Sehnsucht nach dem Verschwundenen lenkt diese meine 39 Schritte. In der zweiten Hälfte des Buches nehme ich Sie mit an geisterhafte und verborgene Orte: auf einen aufgelassenen britischen Friedhof in Indien und zur Müllstadt in Kairo, in die versteckten Zonen außerhalb des Blickfelds von Google Street View und zu den Mysterien des Tokioter U-Bahn-Systems. All diese Orte sorgen für eine verstörende Desorientierung.

Ich glaube, ich fühle mich deshalb so sehr zu Verborgenem und Gespenstischem hingezogen, weil unsere Umwelt so flüchtig und unbeständig ist. Solange ich zurückdenken kann, ähnelt ein Großteil der Landschaft, die mich umgibt, einer Baustelle und fühlt sich auch so an. Auf meinen langen Fahrten zur Arbeit stoße ich links und rechts des Weges allerorten auf Straßen, die aufgerissen und umgegraben werden, auf immer komplexere Verkehrssysteme und auf billige, barackenartige Gebäude, die einem die Sicht versperren. Als Reaktion darauf gewinnen zaghafte Spuren der Vergangenheit, Überbleibsel und Relikte geradezu totemistische Kraft.

Warum ist das so? Es sind ganz gewöhnliche Gründe, doch sie haben alle mit mir zu tun. Wenn ich als kleiner Junge meine Großmutter in ihrem schlichten Häuschen umgeben von üppig blühenden Feldern besuchte, rümpfte ich die Nase ob des durchdringenden Geruchs nach Teerseife, Mottenkugeln und den muffigen Türdecken. Ich hörte die Uhr über den knisternden Kohlen im Kamin ticken. Ich war förmlich durchdrungen von Vergangenheit. Auf dem Weg zu ihrem abgelegenen Dorf in Suffolk fuhren wir durch sandige Heidelandschaften und vorbei an hübschen neuen Reihenhaussiedlungen hinter dem hohen Stacheldrahtzaun der angrenzenden US-Luftwaffenbasis. So wie die wie auf einer Schnur aufgereihten Grillplätze in den rückwärtigen Gärten schienen auch die «freifallenden Atombomben», die auf der Basis in beträchtlicher Menge gelagert wurden, nur auf den Startschuss für ihren Einsatz zu warten. Der Kontrast zwischen der miefigen Behaglichkeit im Haus meiner Großmutter und der Aussicht auf Armageddon, zwischen dem Niedergang des dörflichen Lebens und der protzenden Zurschaustellung weltbestimmender Macht hat sich tief in meinem Herzen und meiner geografischen Fantasie eingegraben.

Das ist fünfzig Jahre her, aber ich glaube, daher kommt es, dass ich mich zu Orten hingezogen fühle, an denen Vergangenheit und Gegenwart auf oft etwas unbehagliche Weise präsent sind. Viele der Orte, die ich in diesem Buch erkunde, weisen eine ähnliche Schichtung auf. Moderne Orte mögen sich mitunter wie Sprünge in herrlich leerer Luft anfühlen, aber auch dort lassen die Geister sich nicht vertreiben. Ich habe sie inzwischen als notwendige, ja sogar hoffnungsvolle Existenzen anerkannt. Als ich durch die Ruinen von Boys’ Village kletterte, das im Schatten eines Elektrizitätswerks in Südwales liegt, eine Feriensiedlung für die Bergarbeitersöhne aus den umliegenden Gemeinden, die nun unter der Last des Gestrüpps zerfällt und über und über mit Graffiti verziert ist, suchte ich unwillkürlich nach den Feuerstellen und rechnete fest mit dem anheimelnden Geruch von Mottenkugeln, den Zeichen von Behaglichkeit in einer ungeliebten Landschaft.

Ein Ort ist eine von Geschichten eingesponnene Landschaft, ein Irgendwo, das eine menschliche Bedeutung hat. Inzwischen haben wir aber auch oder wieder gelernt, dass es bei Orten nicht nur um Menschen geht, sondern auch darum, das Nicht-Menschliche zu erfassen und zu verstehen: die Landschaft und ihre vielen Bewohner, die schon immer um uns und jenseits von uns dort sind. Das kann ein nervenaufreibender Austausch sein, insbesondere wenn wir etwas ganz Natürliches zu entdecken hoffen und stattdessen auf unser eigenes Spiegelbild stoßen. Die Küstenlinien nehmen mit wachsender Geschwindigkeit zu und wieder ab, alte Königreiche wie Doggerland, aber auch neue in der einst unzugänglichen Arktis kommen zutage und verlangen von uns, dass wir die Landschaft – und die Karte – auf neue Weise betrachten: als etwas, das in Bewegung ist und sich von der Tradition losgemacht hat.

Die immer ungebärdigeren Karten menschlicher und physischer Geografie können etwas Überwältigendes an sich haben. Vielleicht ist das der Grund, warum kleine Orte – die kleinen Geheimnisse, die versteckten Überraschungen – sich oft so bedeutsam anfühlen. Einige dieser Rückzugsorte sind das reine Vergnügen, etwa Nek Chands Felsengarten, ein Labyrinth aus Pfaden, Wasserfällen und Zehntausenden Skulpturen von Menschen mit großen Augen und tänzelnden Tieren, die allesamt aus den Abfällen der verkehrsgeplagten neuen Stadt ringsum gestaltet wurden. Andere sind weniger erfreulich, etwa die fußgängerfeindlichen Zwischenräume zwischen vielbefahrenen Straßen. Doch ihnen allen ist eine widerspenstige Autonomie eigen, als seien sie dem eisernen Käfig des Gewöhnlichen entkommen. Diese Fragmente sind auf ihre ganz eigene, seltsame Weise Versuche einer Utopie. Das vorliegende Buch beginnt mit «Ungebärdigen Inseln», und am Ende dieses ersten Teils steht wieder die einsame Verkehrsinsel, das Stückchen namenlosen Landes inmitten von Schnellstraßen, dem ich schon in Die seltsamsten Orte der Welt ein Kapitel gewidmet habe....

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