Chemie - Verbindungen fürs Leben

Chemie - Verbindungen fürs Leben

von: Armin Börner

wbg Theiss, 2019

ISBN: 9783806239416

Sprache: Deutsch

392 Seiten, Download: 16020 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Chemie - Verbindungen fürs Leben



1 Die Formelsprache der Chemie – Symbole als Fenster zur molekularen Welt


1.1 Verbundene Elemente


Im ersten Kapitel wollen wir der Frage nachgehen, was Höhlenzeichnungen aus der Altsteinzeit, die Entdeckung der räumlichen Perspektive während der Renaissance und die Formelsprache der Chemie gemeinsam haben.

Beim Betrachten der berühmten Malereien in den Höhlen des spanischen Ortes Valtorta sind wir fasziniert von der Realitätsnähe der dargestellten Bilder. Auch nach ca. 13.000 Jahren erkennen wir sofort Rehe, Hirsche und Menschen mit Pfeil und Bogen. Wir können uns sogar ohne viel Fantasie die Dramatik der dargestellten Jagdszenen vorstellen.

Höhlenmalerei in Valtorta (Spanien) (ca. 11.000 Jahre v. Chr.)

Relief mit ptolemäischem Hieroglyphentext am Tempel von Kom Ombo (Oberägypten) (ca. 304 bis 31 v. Chr.)

Wir würden sie heute in ähnlicher Weise malen, wenn wir keine anderen Aufzeichnungsgeräte, zum Beispiel einen Fotoapparat, zur Verfügung hätten. Fotos liefern sehr detaillierte Abbildungen, aber aufgrund der Unmenge an Details gehen beim flüchtigen Betrachten viele Informationen verloren. Aufgrund unterschiedlicher Vorkenntnisse und Vorlieben nehmen unterschiedliche Betrachter unterschiedliche Aspekte wahr.

Angenommen, die Künstler der letzten Eiszeit hätten schon eine Schriftsprache verwendet, so würde es uns heute schwerfallen, deren Intentionen und Aussagen zu verstehen. Es würde uns ergehen wie den Entdeckern der ägyptischen Hieroglyphen im Doppeltempel von Kom Ombo am östlichen Nilufer in Oberägypten. Dort sind menschenähnliche Wesen umgeben von rätselhaften Zeichen in den Stein eingraviert. Deren Deutung gelang erst nach Jahren mühseliger Entschlüsselungstätigkeit, und bis heute sind die wenigsten von uns in der Lage, diese Schriftzeichen zu lesen. Auch unsere modernen Schriftsprachen basieren auf Symbolen, die irgendwann einmal eine reale Bedeutung hatten, mittlerweile aber so abstrakt sind, dass wir ihre Interpretation erst mühsam in der Schule erlernen müssen.13

Die allerersten Symbolsprachen, mit denen unsere Vorfahren über die sie umgebende Welt hinausdrängten, sind hingegen viel anschaulicher. Auch Kinder zeichnen konsequent einfach, wenn sie beispielsweise einen Menschen darstellen wollen. Heraus kommen dabei die berühmten Strichmännchen, deren Bedeutung so eindeutig ist, dass sie als standardisierte Piktogramme überall auf der Welt auf Flughäfen oder Bahnhöfen Anwendung finden.

Eindeutig zu verstehen sind auch Verkehrszeichen auf unseren Straßen. Man muss nicht die Landessprache kennen, um sie deuten zu können. Nach diesem Prinzip funktioniert auch die Formelsprache der Chemie. Die chemischen Strukturformeln basieren auf Symbolen für die beteiligten Atomsorten und beschreiben deren Beziehungen zueinander.14 Die Beziehungen sind nicht willkürlich, sondern ergeben sich aus den Eigenschaften der Elemente. Strukturformeln korrespondieren auf diese Weise mit einem physikalisch determinierten Ordnungsrahmen. Die Atomsymbole repräsentieren Elemente, die mit den Abkürzungen ihrer lateinischen Namen wiedergegeben und im Periodensystem der chemischen Elemente (PSE) erfasst werden. Dabei stehen, um die wichtigsten zu nennen, C (carboneum) für Kohlenstoff, H (hydrogenium) für Wasserstoff, O (oxygenium) für Sauerstoff und N (nitrogenium) für Stickstoff. Die chemische Symbolsprache auf der Basis von Formeln kann jeder, der sich ein wenig in der Chemie auskennt, interpretieren. Der Begriff des Symbols steht mit dem altgriechischen Wort συμβάλλειν symbállein für „zusammenbringen“ und „vergleichen“ in Zusammenhang. Damit wird die Forderung deutlich, dass den chemischen Symbolen ein physikalischer Realitätsgehalt zukommen muss. Tatsächlich geben die chemischen Formeln in diesem Buch die Bindungsverhältnisse und die räumliche Anordnung der Atome in Molekülen mit ungefähr 108-facher Vergrößerung wieder.

Hin und wieder werden in der Chemie auch Molekülmodelle mit Stäbchen und Kugeln verwendet. Diese ergänzen die chemischen Formeln auf sehr praktische Weise, indem sie die relativen Größen von Atomen und deren räumlicher Beziehungen zueinander noch fassbarer abbilden. Dadurch werden geometrische Relationen sichtbar und ein dreidimensionales Abbild der molekularen Struktur entsteht. Im Begriff der chemischen „Ver-Bindung“ wird das strukturbildende Prinzip deutlich hervorgehoben; es wird ersichtlich, dass Teilchen, hier Atome, miteinander verbunden worden sind.*

Selbstverständlich kann man einer chemischen Verbindung auch einen Namen geben, aber oftmals sind diese Bezeichnungen ungenau oder sogar falsch. Und wenn sie exakt sind, dann sind sie so kompliziert, dass sie sich kein Mensch merken kann. Chemiker aus der ganzen Welt können sich mittels der Formelsprache auf Tagungen austauschen, wobei es völlig belanglos ist, ob die Konferenz in Tokio, Peking, Bagdad, São Paulo oder Berlin stattfindet und ob das Englisch der Beteiligten glänzend oder nur rudimentär ist.

Das ist aber noch nicht alles, was die chemische Formelsprache so attraktiv und vielseitig macht: Ebenso wie ein Strichmännchen die wichtigsten Merkmale eines realen Menschen mit Kopf, Armen, Rumpf und Beinen wiedergibt, so geben chemische Formeln Auskunft über Art und Anzahl der beteiligten Atome und ihre Bindungsverhältnisse zueinander. Die Realitätsnähe dieser Formeln können wir durch die Kristallstrukturanalyse überprüfen, bei der mittels einer physikalischen Methode, der Röntgenbeugung, Lage und Abstände der einzelnen Atome zueinander exakt ermittelt werden.

Aus den chemischen Formeln kann man zahlreiche chemische Eigenschaften der betreffenden Verbindung ableiten. Man muss diese Formeln nur interpretieren können. Der Eingeweihte kann dann, ohne ein einziges chemisches Experiment im Labor zu machen, etwa vorhersagen, ob die Verbindung in Wasser oder in Pflanzenöl löslich ist, wie es um deren saure oder basische Eigenschaften steht oder ob sie brennbar ist. Ein bloßer Name hat bei Weitem nicht diese Aussagekraft.*

Für eine erste Übungseinheit schauen wir uns D-Glucose, gemeinhin als Traubenzucker bekannt, an. D-Glucose bildet zusammen mit D-Fructose unseren Haushaltszucker, der auch als Saccharose bezeichnet wird (altgriech. σάκχαρον sákcharon, „Zucker“). Beide gehören zu den Kohlenhydraten. Was verrät uns das? Um mit Goethes Faust zu sprechen: „Hier stock ich schon! Wer hilft mir weiter fort?“15 – dem realen molekularen Aufbau der Glucose kommen wir so nicht näher. Nimmt man das Kohlenhydrat beim Wort, müsste es eine wässrige Lösung von Kohle bezeichnen, was es aber nicht ist.** Hydrat ist nämlich nichts anderes als die altgriechische Übersetzung (ὕδωρ hýdōr) von Wasser. Auch das Wort „D-Glucose“ bringt uns nicht wirklich weiter. Aus dem Namen kann man gerade einmal ablesen, dass die damit bezeichnete chemische Verbindung süße Eigenschaften hat, vorausgesetzt man weiß, dass im Wortstamm die altgriechische Bezeichnung γλυκύς glykýs für „süß“ steckt. Diese Eigenschaft können wir zwar nicht ohne weitere Kenntnisse aus der chemischen Formel ableiten, obwohl es mittlerweile auch darüber schon Theorien gibt, welchen räumlichen Aufbau eine Verbindung haben muss, damit unsere Zunge sie als süß vermeldet.16 Aber wir können anhand der Formel sofort sagen, dass die Verbindung gut in Wasser löslich sein muss. Die H–O-Symbole (meist in der Formel zu „HO“ verkürzt), die sogenannten Hydroxygruppen, verweisen auf eine große Ähnlichkeit mit dem Wassermolekül, H–O–H (Summenformel: H2O). Nach dem in der Chemie geltenden Grundsatz: Similia similibus solvuntur (lat. „Ähnliches löst Ähnliches“) können wir folgerichtig davon ausgehen, dass sich D-Glucose in Wasser auflöst.***

Nun werden Sie sicher sofort einwenden: „Dazu brauche ich keine chemische Formel, das weiß ich aus eigener Erfahrung, wenn ich beispielsweise ein Stück Würfelzucker im Tee auflöse.“ Was die Erfahrung aber nicht hergibt, ist der Aufbau des Moleküls, also die Anordnung der Hydroxygruppen an einer langen Kette, die nachzählbar in der Glucose aus sechs Kohlenstoffatomen besteht. Die Kohlenstoffatome bauen das Rückgrat dieser Verbindung auf, indem sie über chemische Bindungen fest miteinander verknüpft sind. Wir können weiterhin erkennen, dass von den sechs Kohlenstoffen fünf mit jeweils einer Hydroxygruppe verbunden sind.

Oftmals wird die Glucose auch mit ihrer Summenformel C6H12O6 beschrieben. Diese verkürzte Darstellung ist zweifelsohne einfacher zu merken, verschweigt uns jedoch wichtige Informationen: In der Strukturformel der D-Glucose zeigt nur eine einzige Hydroxygruppe nach links, die restlichen sind auf der rechten Seite. Offensichtlich könnte es auch anders sein. Und...

Kategorien

Service

Info/Kontakt