Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde - Eine wahre Geschichte

Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde - Eine wahre Geschichte

von: Michael Greenberg

dtv, 2019

ISBN: 9783423436632

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 2012 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Tag, an dem meine Tochter verrückt wurde - Eine wahre Geschichte



 

 

 

 

5. Juli. Ich wache in unserem Apartment in der Bank Street auf, einer Mietwohnung im obersten Stockwerk eines der ansehnlicheren Wohnblocks im West Village. Der Platz neben mir im Bett ist leer. Pat ist früh aus dem Haus gegangen, zu ihrem Tanzstudio in der Fulton Street, um Buch zu führen und ein paar Dinge zu erledigen. Wir sind seit zwei Jahren verheiratet, und unser Zusammenleben muss sich erst noch von dem Gewicht der getrennten Welten befreien, die jeder von uns in die Ehe eingebracht hat.

Was ich einbrachte, das »Greifbarste« von allem, war meine halbwüchsige Tochter Sally, die, wie ich zu meiner Überraschung feststelle, ebenfalls nicht zu Hause ist. Es ist acht Uhr und bereits stickig heiß. Die Sonne brennt durch das Teerdach, das sich nicht einmal einen Meter über ihrem Hochbett befindet. Gegen Mitternacht ist die letzte Reservesicherung unserer Klimaanlage durchgebrannt; Sally wird wohl das Gefühl gehabt haben, sich ins Freie retten zu müssen, um überhaupt atmen zu können.

Auf dem Wohnzimmerboden liegen die Überreste einer ihrer durchwachten Nächte: ein Walkman, der einen Sprung hat und notdürftig mit Klebeband zusammengehalten wird, eine halbvolle Tasse kalter Kaffee und der in Leinen gebundene Band mit Shakespeares Sonetten, über dem sie nun schon seit Wochen mit zunehmendem Eifer brütet. Als ich aufs Geratewohl eine Seite aufschlage, stoße ich auf ein schockierendes Gewirr von Pfeilen, Definitionen und umkringelten Wörtern. Sonett Nr. 13 sieht aus wie eine Seite aus dem Talmud, die Ränder sind mit so vielen Anmerkungen vollgekritzelt, dass der Originaltext kaum mehr als ein Pünktchen in der Mitte ausmacht.

Dann gibt es Blätter mit Sallys eigenen Gedichten, bestehend aus Verszeilen, die ihr – wie sie mir vor wenigen Tagen anvertraute – »zufliegen, wie Vögel zum Fenster hereinfliegen«. Einen dieser gefallenen Vögel hebe ich auf:

Und wenn alles still sein müsste,

versengt dein Feuer einen Fluss aus Schlaf.

Weshalb, Liebster, soll der große

Höllenatem küssen, was du siehst?

Heute Nacht gegen zwei Uhr saß sie auf der Cordcouch und schrieb etwas in ihr Notizheft, während sie in ihrem Walkman immer wieder Bachs Goldberg-Variationen hörte, gespielt von Glenn Gould. Ich war erst spät nach Hause gekommen, ich hatte den Abschluss einer meiner Auftragsarbeiten als freier Schriftsteller gefeiert, eines Textes für ein zweistündiges Video über die Geschichte des Golfspiels, einer Sportart, die ich selbst nie betrieben habe.

»Bist du nicht müde?«, fragte ich.

Heftiges Kopfschütteln, eine Handbewegung, die »Hör auf und lass mich in Ruhe« bedeutete, während die andere Hand, die den Füller hielt, nur noch flinker über die Seite huschte. Kränkende Zurückweisung. Zugleich aber empfand ich heftige Sehnsucht nach einer Periode meines Lebens, in der ich mit den Gedichten von Hart Crane Ähnliches angestellt, all die fremden jazzigen Wörter nachgeschlagen und mich auf die schiere Kraft seiner (mir nahezu unverständlichen) Sprache eingelassen hatte. Ich blieb in der Tür zum Wohnzimmer stehen und sah zu, wie sie mich ignorierte: ihre mandelförmigen galizischen Augen, ihr Haar, das aus ihrem Kopf nicht so sehr wächst als vielmehr in einem ungestümen Ausbruch von Bernsteingelb hervorschießt, ihr Hunger nach Sprache, nach Wörtern.

Ich bin überzeugt, dass diese Nächte der Lernbegier eine Befreiung von den Minderwertigkeitsgefühlen bewirken, die sich seit dem Tag ihrer Einschulung vor nunmehr fast neun Jahren in ihr angestaut haben. Vielleicht denke ich ja nur aus Gründen der Symmetrie von Damals und Heute, dass Sallys Kindheit an jenem Tag zerflossen war, wie das Einzelbild in einem Stummfilm, bei dem das Licht auf die Größe eines Nadelstichs in der Mitte des Bildschirms zusammenschrumpft. Aber so war es mir vorgekommen. Sie tat sich schwer mit dem Lesenlernen, doch ihre Schwierigkeiten reichten noch tiefer. Das Alphabet war für sie ein Kryptogramm: Das w hätte ebenso gut ein Mund voll schiefer Zähne sein können, das h ein Stuhl. Die Fibel war für sie ein Buch mit sieben Siegeln. Die Konvention willkürlich festgesetzter und allseits akzeptierter Bedeutung, auf der so gut wie alle menschliche Kommunikation beruht, entzog sich ihrem Verständnis.

Es schmerzte mich, mitansehen zu müssen, wie dieser erbarmungswürdige Ausdruck in ihr Gesicht trat, als hätte sie die Freude an allem verloren. Und doch meisterte ihre Zunge, befreit von der Bürde schriftlich fixierter Sprachzeichen, dieselben Wörter, die ihre Augen auf einer Buchseite nicht zu entziffern vermochten, mit einer Gewandtheit, die ihr Wortspiele, Gedichtvorträge, Argumente, ja ganze Reden ermöglichte, wenn sie denn beliebte, sie mitzuteilen -all das zeugte von verblüffend scharfer Intelligenz.

Als ich sie einmal von der Schule abholte, war das Schultor von Reportern und Kamerateams umlagert. Ein Mädchen aus Sallys Klasse war von ihrem Vater ermordet worden. Schlagartig wurde mir die Gefährdung meiner sechsjährigen Tochter bewusst, zumal der Mörder, Joel Steinberg, und ich eine gewisse physische Ähnlichkeit aufwiesen. Beide waren wir Aschkenasi-Juden – gleicher Teint, gleiche Körpergröße, gleiche Brille. Aufgrund meiner Herkunft fühlte ich mich an dem Verbrechen beteiligt, schuldig, weil aus demselben Umfeld stammend wie der Täter. Was früher einmal unvorstellbar gewesen war, mochte auf geradezu teuflische Weise Nachahmungstäter heraufbeschwören, und so hatte ich das Gefühl, Sally und ich seien einer neuen Gefahrenquelle ausgesetzt: In Amerika meuchelten die Urenkel des jüdischen Milchmanns Tevje ihre Töchter.

Ich drängte mich durch das Gewühl von Journalisten und fand sie inmitten der Menschenmenge. Sie hielt eine Klassenkameradin an der Hand. Ein Reporter hatte sein Mikrofon auf die beiden Mädchen gerichtet und wollte ihre Reaktion herauskitzeln. Sally blinzelte zu ihm auf. Sie hatte ihren Mantel verkehrt herum angezogen, ihre Schnürsenkel waren lose. Ihre Haarspange baumelte nutzlos herab wie ein Insekt, das sich in ihrem Schopf verfangen hatte. Ich sammelte die Mädchen ein und bahnte mir einen Weg durch die Menge.

Etwa um diese Zeit geschah es, dass Sallys Mutter und ich uns trennten. Wir hatten uns in der Highschool kennengelernt, und unsere Scheidung war wie die allzu lange hinausgezögerte Trennung von Zwillingen: notwendig und herzzerreißend. Nach den Turbulenzen jener Monate kamen Sally und ich uns näher. Ich wurde ihr Fürsprecher, der sie umständlich in Schutz nahm: vor ihren Lehrerinnen, vor anderen Eltern und vor unseren eigenen Familienangehörigen, die bestürzt waren über den Abgrund, der sich zwischen Sallys Weltsicht und der der meisten anderen Menschen auftat. Bezeichnet dieser Abgrund nicht genau den Ort, wo die Einbildungskraft gedeiht?, argumentierte ich. Ist er nicht Ausdruck dessen, dass sie Zutritt zu jener erhabenen Sphäre des Geistes hat, die uns anderen verwehrt bleibt?

»Du bist genauso klug wie alle anderen auch«, versicherte ich ihr. »Deine Intelligenz ist angeboren, sie steckt in dir drin. Sieh zu, dass du diese Jahre hinter dich bringst, und das Leben wird anders werden, du wirst schon sehen.«

Und das Leben wurde anders. Wir suchten ein Lernlabor auf, erschwingliche Spezialisten in einem Gemeindezentrum in Chelsea. Als sie in eine Sonderklasse aufgenommen wurde, lernte sie mit der Zähigkeit eines Gelehrten, der sich bemüht, eine tote Sprache zu verstehen, einfache Wörter und Zahlen. Sie schien um eine innere Leistungsfähigkeit zu ringen, die zum Erliegen käme, wenn es ihr nicht gelang, diesen Code zu knacken. Sie erreichte ihr Ziel, machte sich das Selbstvertrauen zunutze, das sie dabei gewonnen hatte, und durfte wieder in den normalen Unterricht zurückkehren – ein Erfolg des Schulsystems. Zwar musste sie sich abermals abplagen, aber mein Versprechen, dass ihre verborgenen Talente früher oder später ans Licht kommen würden, war glaubhaft geworden.

Und jetzt war es so weit! Bach, Shakespeare, die überschäumenden Hieroglyphen ihrer Tagebücher – wenn sie die ganze Nacht aufbleibt, dann deswegen, weil sie nach den Strapazen jener Jahre jede Minute des Triumphes auskostet.

 

Ich verlasse das Apartment und begebe mich nach unten, fünf Treppen durch ein farbverschmiertes Treppenhaus, in dem seit Menschengedenken nicht mehr sauber gemacht worden ist. Der 5. Juli. Das Wochenende des amerikanischen Unabhängigkeitstages. Das Village kommt mir vor wie ein Hotel, aus dem die anspruchsvollsten Gäste abgereist sind. Wir Zurückgebliebenen wissen, wer wir sind: der Sessionmusiker, der Korrektor, die Dame mit dem Strohhut, von dem Plastiktrauben herabhängen (sie rettet die streunenden Hunde der Nachbarschaft) … Nun, da ihre Besitzer im Urlaub sind, wirken die blassen Reihenhäuser, als lägen sie im Koma. Die Bank Street ist einem trägen Glanz anheimgefallen.

Ich gehe zu dem Café in der Greenwich Avenue, wo sich Sally morgens gern herumtreibt, und stoße um ein Haar mit ihr zusammen, als sie eben um unsere Ecke biegt. Sie scheint erhitzt, irritiert, und als ich sie routinemäßig frage, was sie vorhat, wendet sie sich mit einem merkwürdig wilden Blick gegen mich, der mich völlig überrumpelt.

»Wenn du wüsstest, was sich in meinem Kopf abspielt, würdest du diese Frage nicht stellen. Aber du hast ja keine Ahnung. Du weißt überhaupt nichts von mir, Vater, oder?«

Sie hebt den Fuß und tritt mit der Sandale so wuchtig gegen einen Mülleimer, dass der Metalldeckel scheppernd zu Boden fällt. Ein Nachbar von gegenüber hebt die Augenbrauen, als wollte er sagen: Was geht denn...

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