Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins

Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins

von: Peter Godfrey-Smith

Matthes & Seitz Berlin Verlag, 2019

ISBN: 9783957577412

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 2966 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Krake, das Meer und die tiefen Ursprünge des Bewusstseins



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Eine Geschichte der Tiere


Anfänge


Die Erde ist ungefähr 4,5 Milliarden Jahre alt, und das Leben selbst begann etwa vor 3,8 Milliarden Jahren. Tiere tauchten erst viel später auf – vielleicht vor einer Milliarde Jahren, wahrscheinlich aber einige Zeit danach. Leben gab es die meiste Zeit in der Erdgeschichte, allerdings keine Tiere. Was es über lange Zeitspannen gab, war eine Welt einzelliger Organismen im Meer. Ein großer Teil des Lebens findet auch heute noch in genau dieser Form statt.

Wenn man sich von der langen Ära vor der Entstehung der Tiere ein Bild machen möchte, wird man sich zunächst die einzelligen Organismen als monadische Wesen vorstellen: Zahllose winzige Inselchen, die nichts anderes tun, als sich treiben zu lassen, irgendwie Nahrung aufzunehmen und sich zu teilen. Doch das einzellige Leben ist und war wahrscheinlich um einiges mehr ineinander verflochten, als das Bild suggerieren mag. Zahlreiche dieser Organismen leben im Verbund mit anderen, manchmal in einfacher, friedlicher Koexistenz, manchmal in echtem Zusammenwirken. Einige dieser Kollaborationen waren möglicherweise so eng, dass sie sich tatsächlich von einer einzelligen Lebensweise verabschiedeten, aber sie waren keineswegs auf eine Weise organisiert, wie es die Körper der Tiere sind.

Wenn wir uns diese Welt vor Augen führen, werden wir wohl auch annehmen, dass es, da es ja keine Tiere gibt, auch kein Verhalten und keine Sinneswahrnehmung der Welt da draußen gibt. Doch auch dies ist nicht zutreffend. Einzellige Organismen sind in der Lage, zu empfinden und zu reagieren. Vieles von dem, was sie tun, wird wohl nur in einem sehr weit gefassten Sinn als Verhalten zählen, doch sie können steuern, wie sie sich – je nachdem, was sie in ihrer Umgebung spüren – bewegen und welche chemischen Stoffe sie produzieren. Damit ein Organismus dies leisten kann, muss er einesteils rezeptiv, das heißt in der Lage sein, zu sehen, zu schmecken oder zu hören, und andernteils aktiv, also fähig sein, etwas Zweckmäßiges geschehen zu lassen. Der Organismus muss auch eine Art Verbindung, einen Bogen, zwischen diesen beiden Teilen herstellen.

Ein solches System liegt in dem bekannten und überaus gründlich untersuchten Bakterium Escherichia coli vor, das in immenser Zahl in unserem Körper und in unserer Umgebung vorkommt. E. coli hat einen Geschmacks- oder Geruchssinn; es kann chemische Stoffe in seiner Umgebung spüren und darauf reagieren, indem es sich auf vorteilhafte Konzentrationen solcher Stoffe zubewegt und von den anderen wegbewegt. Die Zellhülle von E. coli ist mit einer Reihe von Sensoren ausgestattet – Molekülansammlungen, die in der Zellmembran eine Brücke zwischen innen und außen bilden. Das ist der Input-Teil des Systems. Der Output-Teil besteht aus Flagellen, langen fadenförmigen Gebilden, mit denen die Zelle schwimmt. Ein E.-coli-Bakterium bewegt sich hauptsächlich auf zwei Arten: Es kann vorwärts schwimmen oder taumeln. Wenn es vorwärts schwimmt, bewegt es sich auf einer geraden Linie, und wenn es taumelt, ändert es, wie unschwer zu erraten, die Richtung nach dem Zufallsprinzip. Eine Zelle wechselt beständig zwischen diesen beiden Aktivitäten. Wenn sie jedoch eine Zunahme der Nährstoffkonzentration spürt, schwächen sich die Taumelbewegungen ab.

Ein Bakterium ist so klein, dass seine Sensoren allein nicht ausreichen, die Richtung anzuzeigen, aus der ein guter oder schlechter chemischer Stoff kommt. Zur Bewältigung dieses Problems, das heißt, um mit dem Raum zurande zu kommen, setzt das Bakterium auf Zeit. Die Zelle ist nicht daran interessiert, in welcher Menge ein chemischer Stoff zu einem gegebenen Zeitpunkt vorliegt, sondern ob die Konzentration steigt oder abnimmt. Wenn also die Zelle einfach deshalb geradeaus schwimmt, weil die Konzentration eines erwünschten chemischen Stoffes hoch ist, könnte sie sich, je nachdem, in welche Richtung sie weist, anstatt in ein chemisches Nirwana hinein, aus diesem hinausbewegen. Das Bakterium löst dieses Problem auf ingeniöse Weise. Spürt es die Reize seiner Welt, registriert ein Mechanismus, welche Bedingungen gerade vorliegen, und ein anderer zeichnet auf, wie die Dinge wenige Augenblicke zuvor lagen. Das Bakterium schwimmt so lange geradeaus, wie die erspürten chemischen Stoffe in höherer Konzentration vorliegen, als die, die es einen Moment zuvor gespürt hat. Ist dies nicht mehr gegeben, ist es günstiger, den Kurs zu ändern.

Bakterien stellen nur eine von zahlreichen Formen einzelligen Lebens dar, und sie sind in vieler Hinsicht einfacher gebaut als jene Zellen, die schließlich zusammenfanden, um zu Tieren zu werden. Diese Zellen, die Eukaryoten, sind größer und besitzen eine aufwendigere innere Struktur. Sie entstanden ungefähr vor 1,5 Milliarden Jahren und entstammen einem Vorgang, bei dem eine kleine bakterienartige Zelle eine andere schluckte. Häufig sind einzellige Eukaryoten mit komplexeren Fähigkeiten zu schmecken und zu schwimmen ausgestattet, und sie sind schon dabei, einen besonders wichtigen Sinn auszubilden: das Sehen.

Für Lebewesen spielt das Licht eine doppelte Rolle. Als solches ist es für viele eine bedeutende Ressource, eine Energiequelle. Es kann aber auch als Informationsquelle dienen, als ein Hinweis auf andere Gegebenheiten. Diese zweite uns so vertraute Verwendung ist von einem winzigen Organismus nicht ohne Weiteres zu meistern. Meistens verwenden einzellige Organismen das Licht als Solarenergie; wie die Pflanzen nehmen sie Sonnenbäder. Viele Bakterien können Licht spüren und auf sein Vorhandensein reagieren. Organismen, die so klein sind, haben aber Schwierigkeiten, die Richtung, aus der das Licht kommt, zu bestimmen oder gar ein Bild zu fokussieren, doch eine Reihe von einzelligen Eukaryoten und wohl auch ein paar besondere Bakterien verfügen über die Anfänge des Sehens. Die Eukaryoten besitzen Augenflecken, lichtempfindliche Stellen, die in Verbindung mit einem Element das einfallende Licht abschatten oder fokussiern und es informativer macht. Manche Eukaryoten suchen das Licht, andere meiden es, und manche reagieren einmal so und einmal so. Sie folgen dem Licht, wenn sie Energie tanken möchten, und meiden es, wenn ihre Energievorräte angefüllt sind. Andere gehen ins Licht, solange es nicht zu stark ist, und meiden es, wenn seine Intensität gefährlich wird. In all diesen Fällen existiert ein Kontrollsystem, das den Augenfleck mit einem Mechanismus verknüpft, der die Zelle zum Schwimmen befähigt.

Was diese winzigen Organismen an Sinnesempfindungen besitzen, zielt meist darauf ab, Nahrung zu finden und Giftstoffe zu meiden. Doch offenbar zeichnete sich bereits in den frühesten Forschungen zu E. coli ab, dass noch etwas anderes eine Rolle spielt. Die Bakterien wurden nämlich ebenso von chemischen Stoffen angezogen, die ihnen nicht als Nahrung dienten. Biologen, die diese Organismen untersuchen, tendieren mehr und mehr zu der Ansicht, dass deren Sinne auf das Vorhandensein und die Aktivitäten anderer Zellen in ihrer Umgebung und nicht nur auf Konzentrationen verwertbarer oder nicht verwertbarer Stoffe eingestellt sind. Die Rezeptoren, die sich auf der Oberfläche der Bakterienzellen befinden, reagieren auf viele Dinge, darunter auch Stoffe, die die Bakterien selbst aus vielerlei Gründen ausscheiden – mitunter einfach nur als Überschuss von Stoffwechselvorgängen. Das klingt nicht nach besonders viel, aber es öffnet eine wichtige Tür. Denn sobald chemische Stoffe gleichzeitig erspürt und produziert werden können, ergibt sich für die Zellen die Möglichkeit, sich untereinander zu koordinieren. Damit sind wir bei der Entstehung sozialen Verhaltens.

Ein Beispiel dafür ist das Quorum sensing. Wenn ein chemischer Stoff von einer bestimmten Art Bakterien sowohl produziert als auch erspürt wird, können diese Bakterien damit ermessen, wie viele Individuen der gleichen Art sich in ihrer Umgebung aufhalten. Sie können also abschätzen, ob genug Bakterien in der Nähe sind und es sich lohnt, einen chemischen Stoff zu produzieren, der seine Aufgabe nur dann erfüllt, wenn ihn ausreichend viele Zellen gleichzeitig herstellen.

Ein Fall von Quorum sensing, der schon früh entdeckt wurde, betrifft – wie für dieses Buch geschaffen – das Meer und einen Kopffüßer. Bakterien, die in einem vor Hawaii vorkommenden Zwergtintenfisch leben, erzeugen Licht mittels einer chemischen Reaktion, allerdings nur dann, wenn genug andere Bakterien vorhanden sind, die mitmachen können. Die Bakterien steuern ihre Beleuchtung, indem sie die örtliche Konzentration eines Indikator-Moleküls feststellen, das von den Artgenossen produziert wird und den einzelnen Individuen ein Gespür dafür verleiht, wie viele weitere potenzielle Lichtproduzenten in ihrer Umgebung sind. Die Bakterien fangen nicht nur an zu leuchten, sondern folgen darüber hinaus der Regel, je mehr von diesem chemischen Stoff sie spüren, umso mehr davon produzieren sie.

Wenn genug Licht produziert wird, gewinnen die Zwergtintenfische, die die Bakterien beherbergen, einen Vorteil, denn das Licht dient ihnen zur Tarnung....

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