Woher ich kam

Woher ich kam

von: Joan Didion

Ullstein, 2019

ISBN: 9783843720892

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 2595 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Woher ich kam



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Meine Urururururgroßmutter Elizabeth Scott wurde 1766 geboren, wuchs im Grenzland zwischen Virginia und Carolina auf, heiratete im Alter von sechzehn Jahren einen Achtzehnjährigen, der an der Revolution und den Cherokee-Expeditionen teilgenommen hatte und Benjamin Hardin IV hieß, zog mit ihm nach Tennessee und Kentucky und starb in einem anderen Grenzland, dem Oil Trough Bottom am Südufer des White River in der Gegend des heutigen Arkansas, die damals zu Missouri gehörte. Von Elizabeth Scott Hardin ist überliefert, dass sie sich während eines Indianerüberfalls mit ihren Kindern in einer Höhle versteckte (es hieß, es wären elf gewesen, von denen aber nur acht erfasst wurden) und eine so gute Schwimmerin war, dass sie einen Fluss bei Hochwasser mit einem Baby im Arm durchqueren konnte. Von ihrem Mann hieß es, er habe, um sie zu verteidigen oder aus nur ihm bekannten Gründen, zehn Männer getötet, die englischen Soldaten und Cherokees nicht mitgerechnet. Das mag stimmen oder es mag, gemäß der mündlichen Überlieferung dieser Gegend, die zu Geschichten über Gesten der Entschiedenheit neigt, Ausschmückung sein. Ein Cousin, der die Sache recherchierte, erzählte mir, dass der Ehemann, unser Urururururgroßvater, »in der gedruckten Standardausgabe der Geschichte von Arkansas als ›Old Colonel Ben Hardin, der Held so vieler Indianerkriege‹ auftaucht«. Elizabeth Scott Hardin hatte hellblaue Augen und schlimme Kopfschmerzen. Der White River, an dem sie lebte, war derselbe White River, an dem anderthalb Jahrhunderte später James McDougal sein missglücktes Whitewater-Erschließungsprojekt ansiedeln sollte. Dieses Land ist in gewisser Hinsicht nicht so groß, wie wir gern sagen.

Sonst weiß ich nichts über Elizabeth Scott Hardin, aber ich habe ihr Rezept für Maisbrot und für India-Würze: Ihre Enkelin brachte diese Rezepte mit nach Westen, als sie 1846 mit dem Donner-Reed-Treck bis zum Humboldt Sink reiste, um dann nach Norden in Richtung Oregon weiterzuziehen, weil sich ihr Ehemann, Reverend Josephus Adamson Cornwall, entschlossen hatte, der erste Wanderpfarrer der Cumberland-Presbyterian-Kirche in einer Gegend zu werden, die damals Oregon hieß. Weil diese Enkelin, Nancy Hardin Cornwall, meine Urururgroßmutter war, besitze ich außer ihren Rezepten eine Applikationsstickerei, die sie auf der Sierra-Überquerung anfertigte. Diese Stickerei aus grüner und roter Baumwolle auf einem Stück Musselin hängt in meinem Esszimmer in New York und hing vorher im Wohnzimmer eines Hauses am Pazifik, in dem ich wohnte.

Ich besitze auch eine Fotografie des Markierungssteins, der sich an der Stelle befand, an der die Hütte gestanden hatte, in der Nancy Hardin Cornwall mit ihrer Familie den Winter von 1846/47 verbrachte, als sie knapp vor ihrem Ziel im Willamette Valley gewesen, aber nicht in der Lage waren, ihre Wagen durch einen steilen Hohlweg des Umpqua Rivers zu manövrieren, ohne Josephus Cornwalls Bücher zurücklassen zu müssen (diese Möglichkeit schien sich nur ihren Töchtern aufgetan zu haben). »Zur Erinnerung an Rev. J. A. Cornwall und Familie« lautet die Inschrift auf dem Stein. »In der Nähe dieses Ortes errichteten sie die erste Einwanderer-Hütte von Douglas County, daher der Name Cabin Creek. Die Familie überwinterte hier von 1846–1847 und wurde aus großer Not gerettet vom Neffen Israel Stoley, der ein guter Jäger war. Die Indianer waren freundlich. Die Cornwalls reisten ein Stück des Wegs mit dem unglückseligen Donner-Treck in Richtung Westen.«

Meiner Mutter wurde die Fotografie des Markierungssteins von Oliver Huston, dem Cousin ihrer Mutter geschickt, der ein solch leidenschaftlicher Familienhistoriker war, dass er die Nachkommen noch 1957 auf »eine Gelegenheit« aufmerksam machte, die »kein Nachkomme verpassen sollte«, und zwar die Übergabe des »alten Kartoffelstampfers, den die Familie der Cornwalls 1846 auf dem Weg durch die Prärie mitgebracht hatte«, zusammen mit anderen Gegenständen, an das Pacific University Museum. Weiter heißt es in Oliver Hustons Brief: »Diese Vorgehensweise ermöglicht es allen Nachkommen der Geigers und Cornwalls, diese Gegenstände in Zukunft jederzeit anschauen zu können, einfach, indem sie das Museum besuchen.« Ich selbst habe noch nicht die Gelegenheit dazu gefunden, dem Kartoffelstampfer einen Besuch abzustatten, aber ich habe ein Typoskript mit einigen Erinnerungen an diese Monate, die später als Cabin Creek bezeichnet wurden, Erinnerungen, die Narcissa entlockt sind, einem der zwölf Kinder von Nancy Hardin Cornwall:

Wir waren etwa zehn Meilen vom Umpqua River entfernt, und die Indianer, die dort lebten, kamen vorbei und verbrachten den größten Teil des Tages mit uns. Es gab einen, der Englisch sprach, und er sagte Mutter, dass die Rogue-River-Indianer kämen, um uns zu töten. Mutter sagte ihnen, dass, wenn sie uns Probleme machen sollten, im Frühjahr die Bostoner (der indianische Name für Weiße) kommen und sie alle vernichten würden. Ob das irgendeine Wirkung hatte oder nicht, weiß ich nicht, aber jedenfalls töteten sie uns nicht. Aber wir dachten immer, dass sie eines Tages aus diesem Grund kommen würden. Einmal war Vater mit Lesen beschäftigt und bemerkte nicht, dass sich das Haus mit seltsamen Indianern füllte, bis Mutter davon sprach … In dem Augenblick, in dem Vater sie erblickte, stand er auf, nahm seine Pistolen und forderte die Indianer auf, mit hinauszukommen und ihn schießen zu sehen. Sie folgten ihm nach draußen, hielten aber Abstand. Die Pistolen waren für sie ein großes Kuriosum. Ich bezweifle, dass sie je zuvor welche gesehen hatten. Sobald sie alle die Hütte verlassen hatten, sperrte Mutter die Tür zu und ließ sie nicht mehr herein. Vater unterhielt sie draußen bis zum Abend, als sie auf ihre Ponies stiegen und davonritten. Sie kehrten nie mehr zurück, um uns Probleme zu machen.

In einem anderen Zimmer des Hauses am Pazifik hing eine Decke, die von einer anderen Überquerung stammte, eine Decke, die meine Ururgroßmutter Elizabeth Anthony Reese auf einer Reise im Wagen gefertigt hatte, auf der sie ein Kind begraben, ein anderes zur Welt gebracht, zweimal Gebirgsfieber bekommen und abwechselnd ein Gespann Ochsen, ein Eselsgespann und eine 22-köpfige Viehherde vor sich her getrieben hatte. In dieser Decke von Elizabeth Reese waren mehr Stiche, als ich je in einer Decke gesehen habe, eine verrückte und sinnlose Häufung von Stichen, und als ich sie aufhängte, wurde mir klar, dass sie sie eines Tages mitten in der Überquerung fertiggestellt hatte, irgendwo in der Wildnis von Trauer und Krankheit, und einfach weiternähte. Aus dem Bericht ihrer Tochter:

»Tom war am ersten Tag der Überquerung krank und hatte Fieber, keine Aussicht auf einen Arzt. Er war nur einen oder zwei Tage krank, bevor er starb. Er musste sofort begraben werden, weil der Wagentreck gleich weiterzog. Er war zwei Jahre alt, und wir waren froh, eine Truhe zu bekommen, in der wir ihn begraben konnten. Ein Freund gab uns die Truhe. Als das Baby meiner Tante im nächsten Jahr starb, trug sie es noch lange in ihren Armen, ohne es irgendjemanden wissen zu lassen, aus Angst, sie würden das Baby begraben, bevor eine Mission erreicht war.«

Diese Frauen in meiner Familie scheinen pragmatisch gewesen zu sein, und in Anbetracht des klaren Schnittes, den sie in Bezug auf alle und alles machten, was sie kannten, waren sie vom tiefsten Instinkt her krankhaft radikal. Sie konnten schießen und sie konnten mit Vieh umgehen, und wenn ihre Kinder aus ihren Schuhen herauswuchsen, lernten sie von den Indianern, wie man Mokassins anfertigte. »Eine alte Dame in unserem Treck brachte meiner Schwester bei, Blutpudding zu machen«, erinnerte sich Narcissa Cornwall. »Nachdem man ein Reh oder einen Stier getötet hat, schneidet man ihm die Kehle durch und fängt das Blut auf. Man fügt Talg hinzu und ein bisschen Salz und Schrot oder Mehl, wenn man welches hat, und bäckt es. Wenn man sonst nichts weiter zu essen hat, ist es ziemlich gut.« Gewöhnlich war ihnen jedes Mittel recht, um ein unsicheres Ziel zu verfolgen. Gewöhnlich vermieden sie es, sich länger damit aufzuhalten, was dieses Ziel bedeuten mochte. Fiel ihnen nichts mehr zu tun ein, zogen sie tausend Meilen weiter, legten einen neuen Garten an: Bohnen und Kürbis und Platterbsen aus Samen, die sie vom letzten Ort mitgebracht hatten. Die Vergangenheit mochte aufgegeben, Kinder beerdigt und Eltern zurückgelassen worden sein, aber die Samen wurden mitgenommen. Sie waren Frauen, diese Frauen in meiner Familie, die kaum Zeit dazu hatten, sich etwas zweimal zu überlegen, die keine große Vorliebe für Mehrdeutigkeiten besaßen, und die später, als es Zeit oder Vorlieben gab, eine Neigung zu kleineren und größeren Störungen, scheinbar exzentrischen Verlautbarungen, dunklem Verwirrtsein und dem Ansteuern von Orten entwickelten, die nicht direkt auf dem Plan standen; eine Neigung, die ich als für diese Gegend typisch verstehen lernte.

Mutter hielt Charakter für die treibende Kraft im Leben und deshalb für etwas, das unser Leben hier lenkte und auf unser Schicksal im zukünftigen Leben verwies. Ihr Leben war bestimmt von festen und unverrückbaren Prinzipien, Zielen und Motiven. Ihr...

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