Oden

Oden

von: David Van Reybrouck

Insel Verlag, 2019

ISBN: 9783458764083

Sprache: Deutsch

239 Seiten, Download: 9185 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Oden



Ode an das Offline-Sein


Vorigen Sommer wollte ich den Cambrian Way gehen, eine dreiwöchige Wandertour durch Wales. Doch eine Woche nach meinem Aufbruch stand ich schon wieder auf dem Bahnhof Brussel-Zuid. Es hatte mir nicht gefallen. Vom Regen vertrieben? Nein, es wütete sogar eine Hitzewelle in Wales. Essen ungenießbar? Bei dreißig Grad konnte ich durchaus von Tiefkühlerbsen leben. Landschaft monoton? Im Gegenteil. Herrlich. Aber was dann?

Zum ersten Mal hatte ich auf einer Reise ein Smartphone dabei.

Ich hatte das Ding ein halbes Jahr zuvor gekauft und es erschien mir als recht praktisch, unterwegs B&Bs, Busfahrpläne und Unwetterwarnungen checken zu können. Außerdem brauchte ich dann keinen Fotoapparat mitzunehmen – schon wieder 300 Gramm eingespart.

Tja, eben nicht. Ich war nicht mit leichterem Gepäck unterwegs, sondern trug schwerer. Wenn ich abends im Zelt lag, las ich, was meine Freunde alles auf Facebook geteilt hatten. Statt des bewährten und von mir heiß geliebten Studiums der Wanderkarten ließ ich mich auf ausführliche Chats mit entfernten Bekannten ein und brillierte mit geistreichen Sprüchen und witzigen Kommentaren.

Aber wenn ich anschließend in meinen Schlafsack kroch, spürte ich nicht die wohlige Müdigkeit nach einem anstrengenden Tag in der Natur, sondern eine seltsame Art von Aufregung, als würde hinter meinem Brustbein, dicht beim Magen, ununterbrochen ein Teelicht flackern, so eins mit Batterie.

Ich war nicht in Wales, ich war in meinem Display. Ich war überall und nirgends. Vielleicht ist das ja die Crux des permanenten Online-Seins: Man ist nie mehr wirklich irgendwo. Alles wird zum Hier. Man wird auseinandergezogen, zerfasert, bis eine dünne Schicht von einem über große Teile Europas und noch weiter gespannt ist.

Und das Seltsame war: Ich konnte nichts dagegen tun. Obwohl ich für gewöhnlich recht stabil bis sehr diszipliniert im Leben stehe, schaffte ich es diesmal nicht, diesen idiotischen Umgang mit dem Smartphone zu zügeln. Ich hatte Urlaub, ich war allein und ich war online: eine tödliche Kombination. Es fühlte sich zu schön an, dieser endlose Strom von herzlichen Nachrichten. Es war schlimmer als ein Fernsehbildschirm in einem Wartesaal: Ich konnte nicht nicht hinsehen.

Was für ein Unterschied zur Situation zwei Jahre zuvor, als ich die ganzen Pyrenäen durchwanderte. Ich hatte den Zug von Brüssel nach Hendaye genommen, dem letzten französischen Städtchen an der Atlantikküste. Dort nahm ich die SIM-Karte aus meinem altmodischen Handy und schickte sie per Post nach Hause. Im Hochgebirge gab es ohnehin kein Netz. Ich hatte die beste Zeit meines Lebens.

Warum können wir uns so schwer allem entziehen, was uns ablenkt, zur Eile antreibt und auf lange Sicht sogar weniger glücklich macht? Die Antwort ist einfach: Weil es uns kurzfristig glücklich macht oder zumindest: uns ein Glücksgefühl beschert.

Wie jeder Mensch denke ich nicht, dass ich eine schwächere Willenskraft habe als andere, doch mein Primatengehirn, das Resultat von einigen Millionen Jahren natürlicher Selektion, ist offenkundig noch nicht an dieses 21. Jahrhundert angepasst. Es schnellt hoch bei jeder kleinen Nachricht, es freut sich über jede kleine App, es giert nach jedem neuen Benachrichtigungston – dem modernen Äquivalent von Pawlows Glocke. Ich vermute, dass sich sogar mein Herzschlag und meine Atmung jedes Mal für einen Moment beschleunigen, wenn etwas Neues ankommt. Vielleicht ist das ja gerade das Problem: Mein prähistorisches Gehirn findet dieses ganze Internet eigentlich ausgesprochen gesellig und unterhaltsam.

Liegt das an mir? An meinem Beruf? An meiner Generation? Wenn man dem belgischen Neuropsychiater und Publizisten Theo Compernolle glauben darf, betrifft es jeden, auch die Allerjüngsten. In seinem wichtigen Buch Ontketen je brein [Entfessle dein Gehirn] demontiert er den Mythos, dass Kinder besonders gut seien im Multitasking. Man lasse die eine Hälfte der Klasse während des Unterrichts SMS austauschen und die andere Hälfte nicht. Dann höre man den Lehrstoff ab: Die SMS-Kinder erzielen bedeutend schlechtere Leistungen.

Er zitiert eine spektakuläre Studie mit 3500 Mädchen von acht bis zwölf Jahren in den USA. Die Kinder fühlten sich signifikant unglücklicher und unsicherer, je häufiger sie die sozialen Medien nutzten. »Der Gedanke, dass Online-Kommunikation einen reichhaltigen sozialen Raum schafft, der die soziale und emotionale Entwicklung junger Mädchen unterstützt, wird durch unsere Ergebnisse widerlegt«, lautete das Fazit der Forscher.

Theo Compernolle fasste die Resultate von mehr als sechshundert solcher wissenschaftlichen Publikationen zusammen, in etwa so, wie Al Gore es mit den Ergebnissen der Klimaforschung gemacht hat. Sein Fazit ist eine ebenso unbequeme Wahrheit: Sie tut uns nicht gut, diese permanente Vernetzung. Ja, wir können in Windeseile Informationen aufspüren und auf mehreren Kanälen gleichzeitig unterwegs sein, doch unsere Konzentration, unser Wohlbefinden und unsere Kreativität lassen dabei nach. »Wenn Steve Jobs ständig mit seinem iPhone herumhantiert hätte, hätte er nie das iPhone erfunden.«

Nein, Steve Jobs schwor auf lange Spaziergänge.

Einst, als dieses unablässige Bombardement psychosozialer Reize noch nicht losgebrochen war, wird der kleine Schuss Glücksgefühl zweifellos nützlich gewesen sein, doch in Zeiten des Überangebots dreht bei vielen die Mechanik durch. Es ist ein bisschen so wie mit dem Zucker: Da er in der Natur nur selten vorkommt und der Körper ihn in begrenztem Maße benötigt, erleben wir ein Glücksgefühl, wenn wir ihn gelegentlich verzehren. Aber da heute ein totales Überangebot herrscht, können wir es nicht lassen und kämpfen mit Krankheiten wie Adipositas und Diabetes.

Eigentlich bewirken Facebook, Twitter und WhatsApp nichts anderes als Coca-Cola und Pepsi: Sucht. Durch knallrote Punkte, die die Aufmerksamkeit auf sich lenken, durch die Bereitstellung deines Fotos, noch ehe du weißt, ob du auf eine Nachricht antworten willst, durch Begriffe wie »Freunde«, »Follower« und »Likes«, durch »Aktivitätenprotokolle«, »Benachrichtigungen« und persönliche Statistiken begehen sie Missbrauch mit unserem in die Irre geleiteten Gehirn, um eine möglichst große Abhängigkeit von etwas zu erzeugen, das wir nicht ständig benötigen und das uns sogar schaden kann.

Und vielleicht sind wir in einer individualisierten Welt auch einfach einsamer. Und suchen deshalb unser Heil in einem Simulacrum zwischenmenschlichen Kontakts.

Schon seit neun Jahren habe ich ein Büro in einem alten Fabrikgebäude in Brüssel gemietet, einzig und allein, um dort offline sein zu können. Ich habe dort alle meine Bücher und Theaterstücke der vergangenen Jahre geschrieben. Ich finde dort etwas, was zu einer Seltenheit geworden ist: entschleunigte Aufmerksamkeit. Die Tage fühlen sich länger an, ich bin fokussierter und entspannter. Wenn ich abends mit dem Rad nach Hause fahre, weiß ich, was ich an dem Tag getan habe.

Ich habe gezögert, diesen Essay zu schreiben, aber ich vermute, dass es nicht nur mir so ergeht. Dass es eher eine Sache des kollektiven Herumtrödelns als der individuellen Schwäche ist. Trotzdem scheint eine Kultur der Scham zu gedeihen. »Es wird wohl an mir liegen«, hört man dann. Und ich denke: Jedes gesellschaftliche Scheitern wird anfangs als individuelles Scheitern erlebt.

Wir sollten nicht gegen das Internet sein, wohl aber gegen die kritiklose Akzeptanz des Dogmas, dass überall online zu sein stets besser ist. Vielleicht brauchen wir internetfreie Zonen. Vielleicht brauchen wir internetfreie Tage, als Äquivalent zum autofreien Sonntag. Aber was wir vor allem brauchen, ist Mut, um uns mit ein paar unangenehmen Fragen auseinanderzusetzen.

Finden wir es normal, dass das Internet ungebeten unser Leben und unseren Geist derart mit Beschlag belegt? Finden wir es normal, dass die von uns selbst entwickelte Technologie einen so großen Einfluss auf unser Verhalten hat? Sollten wir uns nicht öfter fragen, was die Technologie mit uns macht, statt zu überlegen, was wir mit Technologie machen?

Übrigens: Das Smartphone besitze ich immer noch, aber das permanente Online-Sein habe ich runtergeschmissen. Ich beschränke mich auf...

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