Die Wettermacher - Wie Wetterberichte entstehen und was sie vorhersagen können

Die Wettermacher - Wie Wetterberichte entstehen und was sie vorhersagen können

von: Andrew Blum

Penguin Verlag, 2019

ISBN: 9783641158408

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 3784 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Wettermacher - Wie Wetterberichte entstehen und was sie vorhersagen können



Vorwort

Im Oktober 2012 war mein Sohn ein Krabbelkind. Ich wusste genau, wie alt er war, hatte die Wochen und Tage sorgfältig gezählt. Ich verbrachte viel Zeit auf Twitter. Ich saß mit meinem Sohn im Arm in einem Schaukelstuhl und ließ die Welt unter meinem Daumen durchlaufen. So saßen wir an einem Samstagnachmittag da, als ich Zeuge wurde, wie die Meteorologen in helle Aufregung gerieten. Das neueste Ergebnis eines »europäischen Modells« war gerade eingetroffen und hatte die Wetterforscher alarmiert. »In Anbetracht der Tatsache, dass sich in der Karibik noch nicht einmal ein organisiertes Tiefdrucksystem gebildet hat, kann VIELES geschehen«, schrieb Bryan Norcross, einer der angesehensten Hurrikan-Experten der Welt. »Aber da das Szenario so dramatisch ist, müssen wir es aufmerksam beobachten.« Ich sah aus dem Fenster: Die Sonne schien, und das Wetter würde die ganze Woche schön sein. Der Himmel auf dem Bildschirm hingegen war von einem Sturm ausgefüllt, den es noch nicht gab.

In den folgenden acht Tagen überzog der Supersturm Sandy die Karibik mit sintflutartigen Regenfällen, zog danach in nördlicher Richtung ab, saugte sich über dem aufgewärmten Ozean mit Energie voll und machte dann einen verblüffenden Linksschwenk auf die amerikanische Ostküste zu. Er kam auf New York zu, er kam auf uns zu. Wir ließen die Jalousien herunter und füllten die Badewanne mit Wasser.

Der Sturm brach mit Wucht über die Stadt herein, ließ die Wände erzittern und drückte Fensterscheiben ein. Die Lampen begannen zu flackern, und auf meinem Bildschirm tauchten sonderbare Bilder auf: Das Karussell am Hafen von Brooklyn trieb im Fluss wie ein zauberhafter Kahn, Innenstadtstraßen verwandelten sich in Kanäle, Laternen explodierten funkensprühend. Nicht weit entfernt erhob sich der Ozean und brandete über das Land, strömte in Wohnzimmer, überflutete Kraftwerke und zerstörte die empfindliche Elektronik von U-Bahn-Netzen. Ganze Stadtviertel an der Küste wurden verwüstet, und in Lower Manhattan fiel das Licht aus.

Ein Katastrophenfilm war Wirklichkeit geworden. In dem Krankenhaus, in dem mein Sohn zur Welt gekommen war, trugen Krankenschwestern und Ärzte 21 Kleinkinder und batteriebetriebene Monitore über unbeleuchtete Treppen hinab, um sie in Sicherheit zu bringen.1 In der Region starben 147 Menschen, 650 000 Häuser wurden beschädigt oder zerstört, die Schäden beliefen sich auf mehr als 50 Milliarden Dollar.2 Die Stadt wirkte plötzlich fragil. Mich beschlich das Gefühl, dass wir unser Glück verbraucht hatten.

New York war nicht die erste Stadt, die von einem solchen Sturm getroffen wurde, und sie würde nicht die letzte sein. Der Hurrikan Katrina, der im Jahr 2005 New Orleans heimsuchte, war nicht nur wegen seiner Zerstörungsgewalt schockierend, sondern auch, weil er die soziale Ungleichheit verstärkte und sich auf die gesamte amerikanische Gesellschaft auswirkte. Im Jahr 2011 machte der Nordosten der Vereinigten Staaten erstmals die Bekanntschaft mit einer neuen Art von Sturm: Der Hurrikan Irene verdankte seine Zerstörungskraft weniger dem Wind als dem Regen, denn die Niederschläge waren heftiger und dauerten länger als in der Vergangenheit und ließen die Pegelstände auf ein bis dahin ungekanntes Niveau steigen.

Derartige Stürme häuften sich örtlich und weltweit, und es war unmöglich, sie zu ignorieren. Es begann eine wissenschaftliche Debatte über den Zusammenhang zwischen diesen Katastrophen und dem Klimawandel, aber da war auch die greifbare Realität der persönlichen Erfahrung. Mir wurde zunehmend klar, dass dies jetzt das wirkliche Leben war, eine neue Zeit im Leben der Erde: immer neue Hitze- und Kälterekorde, verschobene Jahreszeiten, Wetterphänomene, die in jeder Hinsicht extremer waren als in der Vergangenheit. Alles wie vorhergesehen.

Und alles wie vorhergesagt. Nicht nur die Stürme waren anders als früher, sondern auch die Art und Weise, wie sie angekündigt wurden. In der Wettervorhersage hatte sich etwas verändert. Die Warnungen waren besser zu hören als in der Vergangenheit und erfolgten so rechtzeitig, dass genug Zeit blieb, die Brotregale leerzuräumen und die Schulen zu schließen, bevor die ersten Wolken am Himmel aufzogen. Fernsehsender und bald auch die sozialen Medien berichteten in einem neuen Stakkato. Aber nicht nur der mediale Lärm wurde größer: Die Stürme wurden wirklich stärker, und wir erfuhren zweifelsfrei viel früher von ihrer Ankunft.

Es überraschte mich, welches Ausmaß die Berichterstattung im Fall von Sandy annahm. Die erste Warnung, die Norcross aussprach, unterschied sich nicht nur im Tonfall von dem, was wir gewohnt waren, sondern hatte auch einen anderen Charakter. »Wir müssen es aufmerksam beobachten«, schrieb er nicht weniger als acht Tage vor der Ankunft des Sturms. Es klang wie eine Vorhersage seiner Vorhersage. Seine größte Sorge galt wie üblich vor allem dem Weg des Sturms und seinen möglichen Auswirkungen. Aber sein unmittelbares Augenmerk richtete sich auf die Simulationen der Computermodelle.

»Die Ergebnisse der präzisesten computergestützten Vorhersagemodelle stimmen verblüffend genau überein«, erklärte er am Sonntag. »Es passiert nicht oft, dass die Vorhersagen aller glaubwürdigen Modelle zu einem historischen Ereignis vollkommen übereinstimmen«, schrieb er am Dienstag. Am Donnerstag empfahl Norcross, die Ostküste in den höchsten Alarmzustand zu versetzen, und er war keineswegs der Einzige. »Den deutlichsten Hinweis darauf, dass wir damit rechnen müssen, dass ein gewaltiger Sturm von möglicherweise historischen Ausmaßen die Ostküste treffen wird, liefert die Tatsache, dass mittlerweile SÄMTLICHE zuverlässigen Computerprognosemodelle sagen, dass es geschehen wird.«

Norcross und seine Kollegen konnten die Entwicklung der Atmosphäre im räumlichen Maßstab der Hemisphären und im zeitlichen Maßstab von Tagen verfolgen. Sie taten sehr viel mehr, als die Entwicklung von Sandy lediglich durch das Auge einer an Bord eines Satelliten durch den Weltraum fliegenden Kamera zu betrachten und vom bisherigen Verlauf auf die weiteren Bewegungen des Sturms zu schließen. Sie verfügten über eine Simulation der globalen Atmosphäre, die der Zeit vorauseilen konnte. Inmitten einer Wetterlage summierte sich alles zu einer unwahrscheinlichen, beinahe unvorstellbaren Vorhersage. Mir war klar, dass das Wetter mithilfe von Computersimulationen vorhergesagt wurde. Aber seit wann waren diese Simulationen so gut?

In den Wochen nach Sandy waren die Wettermodelle für kurze Zeit in aller Munde. Sie waren nicht neu, aber sie hatten neuen Einfluss erlangt. Die Meteorologen verwenden das Wort »skillful« zur Beurteilung der Genauigkeit ihrer Vorhersagen, und es hat eine spezifische Definition: Es ist das Maß ihrer Fähigkeit, das Wetter besser als die Klimatologie vorauszusagen, das heißt besser als anhand der historischen Durchschnittswerte für einen Ort an einem gegebenen Tag im Jahr. Wenn die durchschnittliche Höchsttemperatur in New York am 1. März bei 7 Grad Celsius liegt, muss eine Vorhersage öfter als dieser klimatologische Durchschnittswert zutreffen, um als »skillful« eingestuft zu werden.

Im Großen und Ganzen ist es den Meteorologen in den letzten Jahrzehnten gelungen, den Anspruch, zu einer genauen Vorhersage fähig zu sein, um einen Tag weiter in die Zukunft zu verschieben. Das bedeutet, dass eine Vorhersage für das Wetter in sechs Tagen heute so zuverlässig ist wie eine Vorhersage für das Wetter in fünf Tagen vor einem Jahrzehnt. Eine fünftägige Vorhersage ist heute so gut wie eine dreitägige Vorhersage vor zwei Jahrzehnten. Noch bemerkenswerter ist, dass die heutige Sechs-Tage-Vorhersage ebenso zuverlässig ist wie eine Vorhersage für zwei Tage in den Siebzigerjahren.3

All diese Verbesserungen verdanken wir den Wettermodellen. Diese Fortschritte werden oft »schnelleren Supercomputern« oder »besseren Satelliten« zugeschrieben. Aber ich hatte den Verdacht, dass es nicht ganz so einfach war (als wären Supercomputer und Satelliten jemals einfach gewesen …). Die Modelle waren geheimnisvoll: Wie funktionierten sie? Warum lieferten manche Modelle zuverlässige Vorhersagen und andere nicht? Wer arbeitete mit den Modellen, und wer entwickelte sie? Ich wollte sie mir genauer ansehen.

Bei der Arbeit an meinem ersten Buch, in dem ich mich mit der materiellen Infrastruktur des Internets befasst hatte – mit den Datenzentren, den am Meeresboden verlaufenden Kabeln und den mit Licht gefüllten Röhren –, war mir bewusst geworden, dass sogar die komplexesten Systeme von Menschen gebaut werden. Sie existieren an realen Orten, und ihre Entwicklung hängt von der menschlichen Intuition ab. Ich lernte am meisten, wenn ich mich langsam bewegte, mir ein Objekt genau ansah und mit den Leuten sprach, die es gebaut hatten.

Mir wurde klar, dass die Quelle der heutigen Wettervorhersagen ähnlich ist: komplex, omnipräsent und dringlich. Ich wusste, dass ich, wenn ich die Wettervorhersagesysteme geduldig und sorgfältig studierte – wenn ich aufhörte, zum Himmel hinaufzuschauen, sondern mir stattdessen die Maschinen ansah, die ihn beobachteten –, würde verstehen können, wie diese neue Methode funktionierte, mit der tatsächlich in die Zukunft geschaut wurde. Ich wollte wissen, wie die vorzügliche Vorhersage für Sandy entstanden war und was sie mir über die perfekten Vorhersagen verraten konnte, die in Zukunft zu erwarten waren. Aber ich interessierte mich auch dafür, was hinter den banalen, alltäglichen Wettervorhersagen steckte, die ich mir jeden Tag ansah – für...

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