Genau richtig - Die kurze Geschichte einer langen Nacht

Genau richtig - Die kurze Geschichte einer langen Nacht

von: Jostein Gaarder

Carl Hanser Verlag München, 2019

ISBN: 9783446264878

Sprache: Deutsch

128 Seiten, Download: 1891 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Genau richtig - Die kurze Geschichte einer langen Nacht



Liebe Alle,


vorhin war ich bei Marianne, und mir ist klar, dass von nun an alles verändert ist. Ich bin aufgewühlt, und das, was jetzt bevorsteht, wird, auf die eine oder andere Weise, in uns allen Spuren hinterlassen. Zu einem wie auch immer gearteten Normalzustand führt kein Weg zurück. Es tut weh, daran zu denken.

Ich bin noch nicht lange hier, war nur kurz unten am See und habe das Boot zu Wasser gelassen, das muss ich immer tun, damit alles gewissermaßen in Ordnung ist und für die Saison in Gebrauch genommen werden kann.

Um den See herum gibt es hier und da Schneewehen, gewichtige Zeuginnen einer langen winterlichen Belagerung. Die Lufttemperatur liegt am Gefrierpunkt, aber es ist kein Eis mehr auf dem Wasser, nicht einmal ganz hinten in Glitrevik.

Ich schließe die Tür auf und stelle eine Einkaufstüte ab, ehe ich die Läden aufreiße und in den Öfen einheize. Durch das Fenster nach Westen kann ich sehen, dass die Sonne in ungefähr einer Stunde über dem See untergehen wird.

Ich muss das meiste mit einer Hand machen, jedenfalls alles, wozu Feinmotorik vonnöten ist; das ist schon seit einigen Monaten so. Erst seit heute weiß ich, weshalb.

Ich friere an den Füßen. Ich habe nicht mehr zu Hause vorbeigeschaut, um Stiefel und warme Kleidung mitzunehmen, konnte die Vorstellung nicht ertragen, nach Hause zu kommen, da war niemand, zu dem ich hätte nach Hause kommen können. Aber ich war im Laden um die Ecke und habe die allernötigsten Lebensmittel erstanden. Ich habe für einen Tag eingekauft.

Hier oben fehlt es ja nicht an Stiefeln und dicken Pullovern, und ein Paar solide Wollsocken habe ich auch gefunden. In beiden Öfen brennt jetzt ein Feuer, und da wird es nicht lange dauern, bis es hier schön warm ist. Das ist der Vorteil einer kleinen Hütte. Genügsamkeit kann sich lohnen.

Nach meinem Besuch bei Marianne hatte ich sofort das Gefühl, dass ich allein sein, dass ich mich vollkommen isolieren müsste.

Ich denke nicht klar, in mir brodelt es, ich bin entsetzt, bestürzt, aber das hier ist etwas, dem ich mich stellen, zu dem ich eine Haltung einnehmen muss; also muss ich schreiben, nur so kann ich jetzt geradlinig denken. Ich muss dafür sorgen, dass meine Gedanken klar strukturiert sind, ehe sie den Weg aufs Papier finden. Ich glaube, ich ahne in dem ganzen Chaos einen roten Faden, weiß aber nicht, wohin der mich führen wird.

Und mir geht auf, dass ich nicht nur für mich selbst schreibe, und vielleicht auch nicht nur für meine Nächsten. Vielleicht mache ich mir meine Gedanken stellvertretend für die gesamte Menschheit.

Denn was ist ein Mensch? Diese Frage kann naiv wirken. Aber mir geht auf, dass ich mir das noch niemals systematisch überlegt habe.

Nichts an meiner Situation ist einzigartig, im Gegenteil. Ich bin nur einer von uns, und in dieser Rolle werde ich heute Abend und heute Nacht hier sitzen und schreiben. Ich habe mir eine Frist von vierundzwanzig Stunden gesetzt.

Wir sind so unermesslich, so unerschöpflich reich an Lebenseindrücken, an Erkenntnissen, Erinnerungen und gegenseitigen Bindungen. Und wenn wir gehen müssen, löst sich alles auf und verschwindet, wird vergessen.

Die Welt hat Wunden, sie blutet. Und jetzt bin ich an der Reihe. Einmal musste dieser Tag ja kommen. Er kam wie eine Ohrfeige. Oder wie ein brutaler Nasenstüber.

Aber ich will in einer ruhigeren Ecke anfangen. Ehe ich mich dem letzten Akt des Dramas nähere, muss ich einen Teil des süßen Vorspiels schildern.

*

Ich denke an das allererste Mal, als Eirin und ich hier oben waren, es war im September 1972, und die Geschichte, die ich jetzt erzählen werde, habt ihr anderen noch nie gehört. Christian, June und Sarah, macht euch darauf gefasst, dass ich ein gutgehütetes Geheimnis lüften werde.

Der Grund, warum wir euch in all den Jahren verschwiegen haben, wie alles angefangen hat, ist irgendwie nicht zu greifen, aber ich glaube, dass es in fast jeder Familie gutgehütete Geheimnisse dieser Art gibt. Anfangs wollten wir Christian beschützen. Wir dachten, wir könnten alles erzählen, wenn er ein bisschen älter wäre. Nur ist es dazu einfach nie gekommen.

Aber jetzt sollen diese alten Geheimnisse beiseitegefegt werden. Ich werde von Anfang an erzählen, so, wie es sich nach siebenunddreißig Jahren in meiner Erinnerung darstellt. Und dann kann Eirin eventuell eingreifen und etwas korrigieren oder hinzufügen.

Wir sind beide neunzehn Jahre alt und frisch an der Osloer Universität immatrikuliert. Zum ersten Mal müssen wir uns an einem Montagmorgen im Aufenthaltsraum im Sophus-Bugges-Haus begegnet sein. Ich meine, es war an meinem allerersten Unitag.

In dem ganzen Gewimmel fällt mir ein Mädchen auf. Sie steckt gerade Münzen in einen Kaffeeautomaten, und da ist mir klar, dass auch ich einen Kaffee brauche, ehe die Vorlesung losgeht, sei es auch nur, um mich an irgendetwas festhalten zu können, und so werden wir aufmerksam aufeinander. Wir wechseln einen Blick, und sofort fahren wir zusammen, zucken innerlich, nicht, weil wir einander schon einmal begegnet wären, im Gegenteil, sondern weil wir beide genau wissen, dass wir beide einander noch nie im Leben gesehen haben.

Aber sie lächelt mich an, lange, bestimmt einige Sekunden. Und dieses Lächeln öffnet ungeahnte Räume in mir.

Wir wissen nicht, dass wir in dieselbe Vorlesung wollen, die erste in einer Reihe, die das ganze Herbstsemester andauern wird. Wir waren beide noch nie in diesem geschäftigen Universitätsgebäude, und jeder von uns ist allein hergekommen.

Wieder begegnen sich unsere Blicke und wir sind verlegen; das hier ist etwas, worüber wir erst eine Woche später sprechen werden. Gleichzeitig möchten wir beide so schnell wie möglich mit anderen Studierenden ins Gespräch kommen, Verbündete finden, am besten sofort, ehe die erste Vorlesung in diesem Herbst beginnt.

Sicher ist das der Grund, warum sie mich nach der Uhrzeit fragt, denn ich sehe, dass auch sie eine Armbanduhr trägt, und dass diese genau dieselbe Zeit zeigt wie meine.

Umso wichtiger wird es für mich herauszufinden, warum sie mich nach der Uhrzeit fragt. Gibt es da etwas zwischen den Zeilen, eine gewisse Doppeldeutigkeit? Will sie signalisieren, dass sie mich gern kennenlernen würde?

Ich antworte nur, es sei neun nach neun, und finde meine knappe Antwort dann sofort feige und ausweichend. Denn ich will gern länger mit dieser Frau sprechen. Aber nun habe ich die Chance auf eine Fortsetzung des Gesprächs vielleicht vertan.

Menschen machen oft so viele komplizierte Umwege, ehe sie direkt in Kontakt miteinander treten. Nur wenige Seelen besitzen die begnadete Fähigkeit, gleich zur Sache zu kommen: He, du! Dich würde ich gern kennenlernen!

Ich platzte also nicht damit heraus, dass mir dieses Mädchen gefiel, das mich mit dem Kaffeebecher in der Hand nach der Uhrzeit gefragt hatte. Ich verriet nicht, dass ich ihr Lächeln bezaubernd fand. Ich behielt das alles für mich, dass ich vollständig hin und weg von ihr war, dass ich auf den ersten Blick verzaubert war von ihrem üppigen nussbraunen Haar, den kühlen blauen Augen, wie das Wasser eines Gletschers, hätte ich sagen können, fast grün, oder dass sie gut roch; im Aufenthaltsraum herrschte ein ziemliches Gedränge.

Ich sagte auch nicht, wie sehr es mir gefiel, dass sie zur ersten Vorlesung des Semesters in einem geblümten Sommerkleid kam, und nicht in Jeans wie die meisten anderen. Zu Beginn der siebziger Jahre war man mit solchen Kommentaren lieber ein bisschen vorsichtig …

Aber meine armselige Antwort hatte rein gar nichts geschadet, denn dieses fröhliche Mädchen gab nicht so leicht auf. Sie fragte, ob ich ebenfalls in die Philosophievorlesung wolle. Ich nickte, und dann fasste ich mir endlich ein Herz: Ich sagte, wir könnten doch zusammen hingehen.

Und wieder lächelt sie mich an. Es dauert nur einen Augenblick, bis ich mir ebenfalls einen Kaffee besorgt habe. Sie steht dabei geduldig neben mir.

Dann gehen wir zusammen durch das Foyer und weiter in den Hörsaal. Die Frage nach der Uhrzeit hatte sich als brauchbare Einleitung erwiesen.

Wir stehen auch nach der Vorlesung, in der ein junger Dozent uns einen kurzen Überblick über die Vorsokratiker gegeben hat, noch für einen Moment zusammen. Ich weiß nicht mehr, worüber wir gesprochen haben, vielleicht haben wir ein paar Worte über Empedokles oder Heraklit gewechselt, jedenfalls glaube ich nicht, dass wir viel über uns selbst gesprochen haben.

Dann trennen sich unsere Wege, entweder weil sie oder ich es eilig...

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