Pascha

Pascha

von: Alex Capus

Carl Hanser Verlag München, 2019

ISBN: 9783446262546

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 2606 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Pascha



1


An jenem Wintermorgen hing der Himmel voller Gleitschirmflieger und Ballonfahrer. Wie neonfarbene Geier kreisten sie über der Stadt, während unten im Morgenverkehr ein Bus sich über die City-Kreuzung quälte. Auf der hintersten Plattform stand ein schlaksiger junger Mann und warf gallige Blicke hinauf zu den vergnügungssüchtigen Himmelsstürmern. ›Die Idioten lernen fliegen‹, dachte er. ›Bald fliegen alle Idioten am Himmel herum. Dann sehen wir die Sonne nie mehr.‹ Der neidische junge Mann war ich.

»Ah, unser Max Mohn!« hatte mich der Chef zehn Minuten zuvor angebrüllt, als ich in die Redaktion der ›Oltner Nachrichten‹ kam. »Tut mir leid, daß ich deine Arbeitskraft zu solch früher Morgenstunde in Anspruch nehmen muß, hehe!«

Ich murmelte einen Morgengruß.

»… sozusagen mitten in der Nacht, hehe, dazu noch an einem Montag! Du mußt auf die Piste. Jetzt gleich, sofort. Portrait schreiben. Du bist angemeldet.«

»Bei wem?«

»Dieter Zingg.«

»Dem Kunstmaler? Der war doch erst letzte Woche im Blatt!«

»Schon. Aber jetzt will er in die Politik, kandidiert für den Ständerat. Da müssen wir ein Portrait bringen. Hundertachtzig Zeilen, ja? Sei so gut, bitte.«

Während der Bus stadtauswärts ruckelte, öffnete ich die Archivmappe, die mir der Chef mitgegeben hatte. Sie enthielt Zeitungsartikel über den Kunstmaler Dieter Zingg: fünfundvierzig Jahre alt, Bezirksschullehrer im Hauptberuf, Förder- und Anerkennungspreise hier und da und dort, wurde Anfang der achtziger Jahre den Jungen Wilden zugerechnet und als eine der vielversprechendsten schöpferischen Kräfte im Land gehandelt. Wurde — Donnerwetter! — zu Gruppenausstellungen in Tokio und London eingeladen. Durfte drei Monate im Atelier einer Kulturstiftung in New York arbeiten. Donnerwetter, Donnerwetter.

Meine Haltestelle hieß Mühlebach, obwohl es hier längst keine Mühle und keinen Bach mehr gab. Ein paar hundert Meter abseits der Hauptstraße begann das Einfamilienhausquartier, in dem Zinggs Haus stand. Er wohnte, wo alle Lehrer wohnen: in einem Einfamilienhaus am Jurasüdfuß. Nicht ganz hoch oben, wo's richtig teuer wird (ab 700 m ü. M.), aber auch nicht unten, wo die billigeren Häuschen stehen (530 m ü. M.), und schon gar nicht zuunterst in der Ebene an der Bahnlinie Zürich — Genf (420 m ü. M.), wo die Türken und Jugoslawen in speckigen Wohnblocks leben. Mit meinem in langen Jahren als Lokalreporter erworbenen Sozial-Höhenmesser hatte ich Zinggs Domizil rasch geortet: Es lag auf 613 Metern und war bis zum hintersten Kellerfenster dreifachverglast. Davor stand links ein Schneemann mit Karottennase, Kohleaugen, Wollmütze und Reisigbesen. Rechts lag tief eingeschneit und zugefroren ein Weiher, an dessen Ufer ein wohldosiertes Bündel Schilf aus dem Schnee ragte. Zweifellos quakten dort im Sommer die Frösche und blühten allerlei lehrreiche Pflanzen.

Ich öffnete das schmiedeeiserne Gartentor und ließ es hinter mir sachte ins Schloß fallen. Ein makellos schneefreier Plattenweg führte zu einer Buchenholztür. Daneben hing eine rostige Kette mit rustikalem Holzgriff. Als ich daran zog, ertönte drinnen das Bimmeln eines Ziegenglöckleins. Die Tür ging auf, und vor mir stand eine alterslose Frau mit im Nacken zusammengebundenen Haaren und wäßrigen Augen.

»Guten Tag, mein Name ist Mohn. Max Mohn, von den ›Oltner Nachrichten‹. Ich bin mit Herrn Zingg verabredet.«

Die Frau wischte ihre mehlbestäubten Hände an der Küchenschürze ab. »Bitte kommen Sie herein.«

Ich machte zwei Schritte ins Hausinnere, dann sagte die Frau: »Würden Sie bitte die Schuhe ausziehen? Wir halten das hier so. Der Schmutz und der Schnee, verstehen Sie?«

Ich stellte meine Schuhe neben eine Reihe von kleinen und noch kleineren Gummistiefeln mit aufgedruckten Mickymausfiguren, stieg vorsichtig über eine Spielzeuglokomotive aus Naturholz und folgte der Frau in die Wohnküche. Dort gab eine Glasfront den Blick frei auf den Weiher und den Schneemann. An schönen Tagen mußte die Küche sonnendurchflutet sein. Es duftete nach selbstgebackenem Brot. Überall stand und hing blitzsauberes Bauerngeschirr. An einem alten Eichentisch in der Mitte des Raums thronte Dieter Zingg und las die ›Oltner Nachrichten‹. Er trug ein blaues Bauernhemd mit aufgestickten Enzianen, einen gepflegten Kranzbart und eine runde Nickelbrille. Links und rechts von ihm saßen drei rotbackige Mädchen, das blonde Haar zu Zöpfen geflochten, etwa acht bis zwölf Jahre alt. Das also war der Junge Wilde und Ständeratskandidat Dieter Zingg.

»Guten Morgen, Herr Mohn! Setzen Sie sich, wir beginnen gerade mit dem Frühstück. In den Ferien immer etwas später als gewöhnlich, hehe!«

Ich setzte mich, verknotete die unbeschuhten Füße unter dem Stuhl und versuchte mich zu erinnern, wann ich zuletzt die Socken gewechselt hatte. Dieses Lachen. Hehe. Hatte ich das heute nicht schon einmal gehört?

»Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit«, eröffnete Zingg das Gespräch. »Ihren Chefredakteur kenne ich ja schon ewig. Wir haben zusammen das Lehrerseminar abgesessen. Und dann waren wir beide bei den Kommunisten, hehe! Das war vor — warten Sie — vor bald dreißig Jahren. Sie müssen das ja nicht unbedingt schreiben in Ihrem Bericht, hehe!«

Wie auf ein geheimes Zeichen falteten die drei Mädchen die Hände und schlossen die Augen. Zingg und seine Frau taten es ihnen nach, und dann bat das jüngste den Herrgott, daß Er segnen möge, was Er uns bescheret hat, und daß es dem kranken Nachbarn besser gehen möge. Ich hielt mich mit beiden Händen an der Tischplatte fest und war froh, daß die ganze Familie die Augen geschlossen hatte. Ob Zingg auch Tischgebete sprechen ließ, wenn er mit seinen Kumpels von der New Yorker Avantgarde Kokain schnupfte?

Als es vorbei war, sagte Zingg: »Das hast du schön gemacht, Myriam. Reichst du mir bitte die Butter, Rachel? Und du den Brotkorb, Rebekka?«

Myriam, Rachel, Rebekka. Mir schwindelte. Die drei Mädchen lächelten ihren Vater an und reichten ihm das Gewünschte, während die Mutter aufstand und am Herd mit Kaffee und Milch hantierte. Zingg schaute mich erwartungsvoll an. Ich zermarterte mir das Gehirn nach einer geistreichen Frage. Wie sollte ich etwas über den Mann schreiben, wenn mir nicht mal eine Frage einfiel? Die drei Mädchen mit den biblischen Namen musterten mich sittsam aus runden, wasserblauen Augen. Ich nahm einen Schluck Milchkaffee aus der riesigen Tasse, die mir die Frau hingestellt hatte. Jetzt mußte ich etwas sagen.

»Haben Sie dieses Haus selbst gebaut?«

Zingg riß begeistert die Augen auf. Er legte das Buttermesser auf den Teller und begann zu erzählen: von Sonnenkollektoren auf dem Dach und Wärmerückführung, Dreifachverglasung, natürlichen Baumaterialien und Holzschnitzelheizung. Ich beobachtete, wie die Mädchen sparsam Butter auf das Brot schmierten und noch sparsamer Honig auftrugen. Sie reichten einander den Honigtopf so behutsam weiter, als ob er Nitroglyzerin enthielt. Ich war mir sicher, daß Zingg den Honig selbst gewonnen hatte. Gleich hinter dem Haus stand mit größter Wahrscheinlichkeit das familieneigene Bienenhaus. Und bestimmt hatte Zingg seinen Töchtern schon tausendmal erklärt, wie hart ein Bienchen arbeiten muß für eine Messerspitze Honig.

Der Milchkaffee wärmte mir wohlig den Bauch. Die drei artigen Mädchen und ihre geschäftige Mutter wattierten den Raum mit sanfter Weiblichkeit, und jetzt drang doch tatsächlich ein zaghafter Sonnenstrahl durch den Nebel in unsere Bauernküche. Ich fühlte mich plötzlich sehr wohl. Eine dösige Müdigkeit breitete sich in mir aus. Weit weg waren New York, Tokio, der Ständerat und meine Schreibmaschine. Avantgarde und Politik hatten keine Chance gegen die Gemütlichkeit unserer Frühstücksrunde. Ich nahm mich zusammen und versuchte Zinggs bautechnischen Ausführungen zu folgen. Ab und zu streute ich einen schläfrigen Ausdruck der Verblüffung ein und tunkte selbstgebackenes Vollkornbrot in den Milchkaffee. Die Frau brachte mir Lammfellpantoffeln. Mein Glück war vollkommen. Ich wollte nie mehr von hier weggehen. Bis an mein Lebensende würde ich bei diesen braven und gottesfürchtigen Bauersleuten bleiben; morgens würde ich die Kühe melken, nachmittags Schnaps brennen und abends mich zeitig im Stall zur Ruhe legen in der dampfenden Wärme des Viehs. Nach zehn Jahren treuer Pflichterfüllung würde mir der Bauer Zingg eine seiner Töchter zur Frau geben — die mittlere vielleicht, die mit den Sommersprossen —, und eines fernen Tages würde ich den Hof übernehmen.

Aber dann sagte Zingg: »So, genug geplaudert. Jetzt muß ich Ihnen erklären,...

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