Tod in Baden - Historischer Kriminalroman

Tod in Baden - Historischer Kriminalroman

von: Beate Maly

Emons Verlag, 2019

ISBN: 9783960415442

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 2950 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Tod in Baden - Historischer Kriminalroman



PROLOG


Juni 1914

Mila Radatz stieg die enge Wendeltreppe ins Erdgeschoss hinunter und trat in den schäbigen Innenhof des baufälligen Mietshauses. Altes Gerümpel stapelte sich neben Unrat und fauligen Essensresten. Auf einem der riesigen Abfallberge hockte eine schwarze Ratte. Das Tier ließ sich durch Mila nicht stören und nagte weiter an einem nackten Hühnerknochen.

Angewidert durchquerte Mila den Hof und schlüpfte durch das bogenförmige Tor auf die schmale Gasse, die direkt in die Praterstraße führte. Sie wohnte erst seit einigen Wochen hier. Der Weg nach Ottakring, wo sie als Näherin in einer Textilfabrik arbeitete, war jeden Tag lang und beschwerlich, aber die Arbeitsplätze für junge Frauen in der Stadt waren rar, und wer einen hatte, nahm jede Strapaze auf sich, um ihn nicht zu verlieren.

Milas Blick glitt Richtung Innenstadt. Hinter der Spitze des Stephansdoms ging blutrot die Sonne unter. Die Hitze des Tages hatte nachgelassen, aber es war immer noch ungewöhnlich mild. Die Wände der neu errichteten Zinshäuser gaben langsam die gespeicherte Wärme ab. Sie würde sich heute die Miete für das Stundenhotel Dresdnerhof sparen.

Wie viele ihrer Kolleginnen musste Mila ihren bescheidenen Wochenlohn mit dem Verkauf ihres Körpers aufbessern. Angeblich teilte sie ihr Schicksal mit jeder fünften Frau in Wien. Aber auch das wurde ihr nicht leicht gemacht. Erst letzten Monat hatte Frau Erna die Preise erhöht, sie nutzte mit ihrem Etablissement die in der Stadt herrschende Wohnungsnot schamlos aus. Die wenigsten Freier waren bereit, die zusätzliche Summe zu bezahlen, und so blieb Mila meist nur ein winziger Rest ihres ohnehin armseligen Einkommens.

Zum Glück konnte sie bei den sommerlichen Temperaturen der letzten Tage in den Prater ausweichen. Bei einem der Cinematographen würde sie einen willigen Kunden finden. Heute Morgen hatte die »Freie Presse« im Edison-Theater einen »Herrenabend« mit einem »film piquants« angekündigt: »Eine moderne Ehe«. Mit Sicherheit fand sich nach der Vorstellung ein vornehmer Herr, der sich mit ihr in die Praterauen zurückziehen wollte. Bilder nackter Frauen waren gut fürs Geschäft. Außerdem befand sich das Land in einem wahren Kriegsrausch. Man fieberte darauf hin, dass der Kaiser den Serben endlich ein Ultimatum stellte.

Kaum ein Mann, der im Moment nicht an seine Unbesiegbarkeit glaubte, die sich in einem gesteigerten Verlangen nach Frauen äußerte.

Normalerweise waren es Handwerker und Arbeiter, die ein Abenteuer im Freien vorzogen. Nicht selten ließen sie die Mädchen ohne Bezahlung zurück. Aber in einer lauen Sommernacht wie heute, nach einem Krug Bier, einer ordentlichen Stelze in der Schweizer Meierei und Kriegsprahlereien, waren auch die Herren der wohlhabenden Wiener Bourgeoisie für ein Vergnügen unter freiem Himmel zu haben.

Mila strich ihre Röcke glatt, schob ihren neuen Strohhut keck nach hinten, damit ihr fülliges rotes Haar besser zur Geltung kam, und schwang aufreizend ihre kleine Tasche. Nicht zu heftig, damit die Beamten des Sittenamtes in Zivil nicht auf sie aufmerksam wurden, denn sie hatte keinen Gesundheitsausweis und war keine registrierte Prostituierte. Als solche hätte sie zweimal pro Woche zum Polizeiarzt gehen und sich den kostenpflichtigen Untersuchungen unterziehen müssen. Diese waren nicht nur erniedrigend, sondern oft auch brutal, und nicht selten kam es vor, dass der Arzt seine Geräte nicht reinigte.

Ihre Freundin Annerl hatte sich auf diese Weise mit der Lues venerae, der Syphilis, angesteckt. Die Krankheit war bei ihr rasch fortgeschritten. Mittlerweile musste sie ihre verfaulende Nase unter einer aus Wachs verstecken. Viele Freier schreckte das ab. Annerl bekam nur noch selten Kundschaft. Meistens waren die Männer sturzbetrunken, und die wenigsten von ihnen bezahlten.

Mila versuchte das Bild ihrer kranken Freundin aus ihren Gedanken zu verbannen. Auch ihre warnenden Worte versuchte sie zu vergessen. Aber das war gar nicht so einfach. Annerl hatte ihr heute Morgen zugeraunt: »Der Praterwürger ist unterwegs. Er hat es auf Rothaarige abgesehen! Besser, du lässt es bleiben, bis die Polizei ihn geschnappt hat!«

Vor zwei Wochen war eine rothaarige Prostituierte barbarisch vergewaltigt und erwürgt worden. Vom Mörder fehlte nach wie vor jede Spur, aber Mila konnte sich deswegen nicht in ihrer winzigen, feuchten Ein-Zimmer-Wohnung einsperren, die sie jede zweite Nacht an drei Bettgängerinnen vermietete.

»Unsinn, Annerl. Ich brauche das Geld zum Überleben. Ich pass schon auf. Mach dir keine Sorgen«, hatte Mila geantwortet. Sie war diesen Monat sehr knapp bei Kassa. Die hohen Preise im Dresdnerhof und die Investition in zwei neue Unterröcke und ein schwarzes Korsett hatten ein riesiges Loch in ihrer Geldbörse hinterlassen. Zum Glück hatte sie keinen »Freund«, für den sie arbeitete und dem sie ihren gesamten Lohn abgeben musste. Diese Zeiten waren vorbei. Noch vor einem Jahr hatte sie Gustl am Hals gehabt. Der Alkoholiker hatte sie geschlagen und ihr das ganze Geld abgenommen. Letzten Winter war er am Keuchhusten erstickt. Mila hatte ihm keine Träne nachgeweint. Immer noch lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, wenn sie an ihn und seine Wutausbrüche dachte. Rasch schüttelte sie den Kopf, um die lästige Erinnerung loszuwerden. Es war höchste Zeit. Wenn sie rechtzeitig zum Cinematographen wollte, musste sie sich beeilen.

Mit zügigen Schritten lief sie die Praterstraße stadtauswärts. Früher hatte der prächtige Boulevard Jägerzeile geheißen, weil er in die einstigen kaiserlichen Jagdgründe führte. Heute war das Gebiet allen Wienern zugänglich. Es beherbergte das Vergnügungsviertel der Stadt. Die bessere Gesellschaft fuhr mit dem Fiaker vor, die einfachen Leute kamen zu Fuß. Hier wetteiferten Kuriositätenkabinetts mit dem Kasperltheater, Operettensänger mit Drehorgelspielern und Cinematographen mit Hutschenschleuderern. Sobald die Sonne unterging und die Mütter und Gouvernanten das Gelände mit den Kindern verlassen hatten, gehörte es den Nachtschwärmern. Den Kadetten und Offizieren, den Dienstmägden und Wäschermädeln, den Männern, die auf der Suche nach einem kurzen Vergnügen waren, und den Frauen, die es gegen Bezahlung verschafften.

Ein Fuhrwerk ratterte knapp an Mila vorbei. Fluchend sprang sie zur Seite. Der Bursche am Kutschbock lachte, pfiff und rief ihr eine anzügliche Bemerkung zu, die Mila geflissentlich ignorierte. Sie war auf der Suche nach einem wohlhabenderen Freier.

Zielstrebig ging sie weiter. Sie wich einem Laternenwärter aus, der seine Leiter aufklappte und geschickt hochstieg, um eine der Gaslaternen zu entzünden. Es musste bereits später sein, als sie gedacht hatte. Wenn sie Pech hatte, versäumte sie das Ende der Vorstellung im Edison-Theater.

Mila umrundete das Tegetthoff-Denkmal am Ende der Praterstraße und lief weiter Richtung Riesenrad, das anlässlich des fünfzigsten Thronjubiläums Kaiser Franz Josephs errichtet und vor acht Jahren feierlich eingeweiht worden war. Mila war noch nie damit gefahren. Die vier Kronen, die eine Fahrt kostete, entsprachen in guten Zeiten ihrem Monatslohn.

Von Weitem hörte sie die Musik einer Drehorgel, Menschen lachten, eine Frau quietschte so laut, dass ihr Schrei an den eines Schweinchens erinnerte. Es roch nach heißem Fett, gebratenem Fleisch und Bier. Mila ließ die Gastgärten links liegen. Ein Mann forderte lautstark den Krieg, ein paar junge Burschen stimmten ihm grölend zu. Es fielen derbe Beschimpfungen auf Serbien. Es lohnte sich nicht, hier nach Kundschaft Ausschau zu halten. Entweder waren die Männer betrunken oder bereits in Begleitung einer Frau.

»He, Mädel. Wie wär’s mit uns zwei?« Einer der Besucher hielt sich wankend mit beiden Händen an einer Gaslaterne fest. Ein schäbiger Hut saß schräg auf seinem Kopf, das Gesicht glänzte. Er stank nach billigem Branntwein. Wahrscheinlich hatte er sein Geld bereits versoffen.

Mila machte einen großen Bogen um ihn. Er würde ihr keinen Heller zahlen.

Wenn sie sich weiter durch die Menschenmenge drängte, würde sie mit Sicherheit zu spät kommen. Besser, sie kürzte den Weg durch die Hauptallee und den Auwald ab. Hier gab es zwar keine Gaslaternen, aber Mila kannte sich aus. Sie war die Strecke schon zigmal gelaufen und konnte sie mit verbundenen Augen abgehen.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Je weiter sie sich vom Vergnügungsbereich entfernte, umso leiser wurden die Stimmen und die von Menschen verursachten Geräusche.

Hinter dem Stamm einer mächtigen Kastanie entdeckte sie ein Pärchen. Mila würde sich einen Ort mit weniger Zuschauern suchen. Die Frau raunte dem Mann obszöne Schimpfworte zu. Sein Stöhnen war so laut, dass es Mila bis zur nächsten Weggabelung verfolgte.

Auch sie kannte Kunden, die nach schmutzigen Beleidigungen verlangten, um zum Höhepunkt zu gelangen. Diese Kunden gehörten zur harmlosen Sorte. Erst letzte Woche war Mila mit einem Kadetten zusammen gewesen, der sie »seine Herrin« genannt hatte und selbst als »elendes Schwein« bezeichnet werden wollte. Noch vor ein paar Jahren wäre Mila über derlei Wünsche entsetzt gewesen, jetzt waren sie so normal wie der immer leiser werdende Klang der Schrammelmusik aus einem der Biergärten.

Nur der Mond sorgte nun noch für Licht. Es roch nach warmer Erde und Farnen. Blätter raschelten, wahrscheinlich huschte eine Maus durchs Dickicht. Mila musste ein kleines Waldstück durchqueren, um hinter dem »Venedig von Wien«, einer künstlich angelegten Vergnügungslandschaft mit Kanälen und Gondeln, bei der Schweizer Meierei wieder den belebten Teil des Praters zu betreten. Sie raffte ihre Röcke, um nicht im Unterholz hängen zu bleiben. Erneut hörte sie ein Rascheln....

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