Die Geschichte des Körpers - Erzählungen

Die Geschichte des Körpers - Erzählungen

von: Thomas Stangl

Droschl, M, 2019

ISBN: 9783990590423

Sprache: Deutsch

128 Seiten, Download: 2711 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Geschichte des Körpers - Erzählungen



Nur ein alter Mann

Lange tat ich vor mir selbst so, als wäre ich kein Dieb. Ich war ein Tourist, ich war als Tourist (fast noch ein Student) in diesem Land gestrandet. Ich fuhr mit dem Zug von Stadt zu Stadt, schlüpfte nachts (für Augenblicke fast schwerelos) in die Abteile der schlafenden Reisenden; manchmal hatte ich auch ein Auto, dann benutzte ich lieber die Landstraßen als die Autobahnen, ich schaute auf die Wälder und stellte mir vor, irgendwo dort, an schwer zugänglichen Felswänden, musste es Stellen geben, wo noch niemals ein Mensch gewesen war. Es musste Verstecke geben, in den Wäldern und in den Städten. Räume, die auf nichts und niemanden warten, an nichts und niemanden erinnern. Ich war ein Tourist: Immer noch besuchte ich die Museen und schrieb in ein Notizbuch, was mir auffiel. Ich sah jünger aus, als ich war, mit meinen langen blonden Haaren.

Ich parkte das Auto, das ich weiter im Süden mitgenommen hatte, hinter dem Bahnhof, dort gab es einen etwas verwilderten Parkplatz, der nicht bewacht wurde und wo man keinen Parkschein brauchte. Die Reste einer Tankstelle waren zu sehen, ein Zaun aus bröckligem Beton.

Die Stadt war wie eine Insel von Seen und Wasserläufen umschlossen, das gefiel mir.

Als der Deutsche an der Tür geläutet hat, war ich eben erst nach Hause gekommen. Ich hatte den Beutel mit meinen Einkäufen noch nicht ausgepackt. Zeug vom Markt, ein wenig Gemüse, Kartoffeln. Ein bisschen Fleisch und auch Bier aus dem Supermarkt wollte ich noch kaufen, auch wenn es in letzter Zeit teuer war, ich brauchte das, um die Nächte zu überstehen.

Ich hatte die Kette noch nicht vorgelegt, machte die Tür auf, ohne nachzudenken, da stand dieser merkwürdig grinsende junge Mann. Mein Mädchen, dachte ich (so als wäre sie je mein Mädchen gewesen), aber vielleicht denke ich auch immer nur: Mein Mädchen (weil es das nie gab), und nun, dieses Deutschen wegen, merkte ich es. Touristen gab es in diesem Jahr sonst keine mehr, es war das erste Jahr ganz ohne Touristen, die Stadt wirkte leer, die Museen und Kirchen, der Palast mit dem gemalten Zimmer sinnlos, alles wie eingeebnet.

Ich ging zu Fuß ins Zentrum, überquerte, fast ohne auf den Verkehr zu achten, die vielspurige Via Bettinelli und kam durch eine Seitengasse zum Corso. In diesen Seitengassen am Bahnhof wohnen Leute, denen ich nicht in die Quere kommen wollte, ich spüre so etwas. Ich hatte meine Sonnenbrille auf und konnte unauffällige Seitenblicke auf die wenigen Passanten werfen. Die jungen Frauen. Die alten Leute. Noch näherte ich mich keinem. Eine Zeit lang stand ich an der Brücke über einem der Kanäle außerhalb der Fußgängerzonen und schaute auf einen großen Fisch, der sich nah an der Wasseroberfläche im Kreis drehte. Es war heiß, und ich ging durch die Stadt, als gäbe es hier Leerstellen, Orte, wo niemand wohnte, Häuser und Straßenzüge, die sich spurlos in Luft auflösen konnten. Ich betrat eine quadratische kleine Kirche mit hoher und kahler Kuppel und fühlte mich wie unter einem Schildkrötenpanzer; dann wurde ich unruhig, außerdem hatte ich Hunger. Irgendwo musste es einen Markt geben, es war kurz vor Mittag, keine schlechte Zeit.

Seit fünfzig Jahren wohne ich auf der Piazza Adolfo Viterbi. Früher bin ich ins Café gegangen oder in Mailand zu den Demonstrationen, dann habe ich die Zeitungen gelesen und gesammelt, so als richteten sich alle Nachrichten in Wahrheit auf ein anderes, besseres zukünftiges Zeitalter, seit alle gestorben sind, interessiert mich nicht mehr, was passiert. Die Wohnung ist zu groß geworden, die Nachbarn sind tot; die neuen Nachbarn grüßen mich freundlich, ich nicke und steige hoch in den zweiten Stock. Die schwarzen Kinder der Nachbarn werden leise, wenn sie mich sehen, und drücken sich im Treppenhaus an mir vorbei. Ich habe nichts gegen sie und würde sie verstecken, wenn nötig, aber wie soll ich ihnen das sagen, es kommt mir lächerlich vor. Ich würde sie verstecken, wenn nötig, und wenn ich noch Anwalt wäre, würde ich sie verteidigen, aber was hilft das und wozu sollte ich es sagen. Ich schaue aus dem Küchenfenster auf den kargen Platz unten, die Schatten wandern, im Winter rede ich mit den Krähen. Jetzt sind da nur Autos und ein paar Tauben.

Trotzdem waren wenige Leute am Markt, vielleicht war es zu heiß, die Händler schrien mir etwas zu, ich tat so, als würde ich nichts verstehen. Ich hatte kein Geld in der Tasche, es war so, als gäbe es mich nicht. Habe ich kein Geld in der Tasche, ist es so, als gäbe es mich nicht. Drei Schritte von mir entfernt stand ein Mann mit Brille, ein alter Mann in einem weißen etwas zerknitterten Hemd, einen Einkaufsbeutel in der Hand. Ein Händler füllt Tomaten in ein Plastiksäckchen und redet, der alte Mann nickt nur, steckt das zugeknotete Säckchen in den Einkaufsbeutel und hebt ganz leicht die Hand, als er sich umdreht. Ich behielt ihn im Auge; der alte Mann schaute sich nicht um, schaute nicht zu den Ständen, blickte zu Boden, er war in dieser Stadt gestrandet, als junger Mann oder womöglich schon als Kind, kaufte an immer den selben Orten immer die gleichen Waren; so würde er es machen, bis er starb oder nicht mehr konnte. Eine Taube pickte in Gemüseabfall herum, der alte Mann blieb vor ihr stehen und murmelte etwas. Statt einfach weiterzugehen, wich er der Taube aus, als wäre sie ein Mensch. Ich folgte ihm, blieb immer wieder an einem leeren Auslagenfenster stehen, um nicht zu schnell zu sein, ihn nicht zu überholen, starrte ins kahle Innere oder auf das Spielzeug und die Notizbücher in irgendeinem Papierwarenladen. Eine Puppe mit riesigen blauen Augen.

Auf einem kargen Platz mit ein paar geparkten Autos hielt der alte Mann vor einem Haustor und kramte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Ein zweistöckiges Haus mit hohen Fenstern. Ich schlüpfte hinter dem Alten durchs Haustor, bevor es langsam zufiel, er drehte sich nicht um, stieg die Treppe hoch. Kaum hörte ich, dass seine Wohnungstür zuschlug, sprang ich, mit Wolfsschritten, die Treppen hoch und war noch außer Atem, als ich den Klingelknopf drückte. Ich war noch nie so vorgegangen und wusste gar nicht, was ich sagen oder tun würde, wenn er öffnete, vielleicht würde ich ihn wegdrängen, ihm den Mund zuhalten, ihn niederschlagen; schnell die Wohnung durchsuchen und für immer aus der Stadt verschwinden. Ich lächelte.

Da steht dieser merkwürdig grinsende junge Mann, ein falscher Engel, mit Ringen um die Augen, und atmet schwer. Du bist es oder so einer wie du: Wann habe ich zum letzten Mal jemanden wiedererkannt, so als gehörte er zu meinem Leben, vor zwanzig Jahren oder vor fünfzig Jahren. Er gehört zu meinem Leben vor zwanzig Jahren oder vor fünfzig Jahren. Es dreht sich doch alles, du hast sie mir weggenommen, mein Freund, du hast mir alles weggenommen. Ich nehme es dir nicht übel.

Natürlich sagte er nichts, niemand sagt etwas, aber es gibt dieses winzige Zurückzucken, immer wenn mich jemand zum ersten Mal zu Gesicht bekommt. Es muss etwas in meinen Augen sein, etwas an der Art, in der mein Mund sich öffnet, etwas in meiner Körperhaltung. Etwas grundlegend Obszönes. Vielleicht sprach es diesen alten Mann an.

Ich behauptete, ich hätte Hunger, lustigerweise stimmte das sogar. Ich hatte ein Auto, aber kein Geld und seit gestern Mittag nichts gegessen.

Ausgerechnet ein Deutscher, ich schaue ihn vorsichtig an und lade ihn zum Essen ein. Es ist schwer zu verstehen, dass es jetzt ein Deutscher ist, aber warum sollte ich es verstehen. Das Bild meines Mädchens steht mir wieder vor Augen, hätte ich damals einen Satz anders gesagt (wie oft ist mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, ein glücklicher Gedanke, jetzt merke ich es), so wäre alles völlig anders verlaufen. Nicht wirklich besser, aber – mir kommt vor, wirklicher. Ich wäre jetzt nicht da, du wärst an meiner Stelle, ein alter Dummkopf, der mit keinem redet und sich nicht von der Stelle rührt.

Ich kann Ihnen nichts anbieten, sagte ich (die Plastikbeutel mit den Einkäufen vom Markt lagen vollgefüllt auf dem Küchentisch, ich wäre später noch Bier kaufen gegangen und Fleisch aus dem Supermarkt, eine Plastikwanne mit abgepacktem Fleisch), aber wir können essen gehen. Ich gehe ab und zu essen. Ab und zu, was auch immer das heißt.

Ich vor zwanzig oder fünfzig Jahren und ich bringe den Satz nicht heraus, der alles ändern würde.

Er zuckte seltsam hilflos mit den Armen, als er sagte, er ginge ab und zu essen, ich muss sagen, diese Hilflosigkeit nahm mich für ihn ein. Es änderte nichts, aber ich glaubte ihn zu verstehen, und die Vorstellung, es gäbe eine Art von Ähnlichkeit zwischen uns, fast eine Verwandtschaft, verwirrte mich für einen Moment. Als würde sich ein Schwindel vor meine Augen legen, das kann nicht vom Hunger kommen, nach kaum einem Tag. Ich wartete an der Tür, damit er es sich nicht anders überlegte. Ich hinderte ihn sozusagen daran, die Tür zu schließen; ich schaute freundlich zur Seite und ging nicht hinein, aber ich stand da wie ein Polizist, der jemanden verhaftet hat und ihm noch Zeit geben will, sich fertig anzuziehen und zwei, drei Sachen einzupacken.

Als würde ihm nicht ohnehin alles abgenommen werden (ich dachte das, ohne zu wissen warum).

Der Deutsche wirkte so, als wäre er gar nicht da; als müsste er sich an mir festhalten, um sich nicht aufzulösen. Es stimmt schon, dass er auch etwas Widerliches an sich hatte, aber für mich stand das nicht im Vordergrund.

Ich habe meine Schuhe noch nicht ausgezogen, das ist gut. Es bereitet mir immer große Mühe, die Schuhe an- und auszuziehen.

Nützlich war für mich auch, dass ich weniger...

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