Maigret und der gelbe Hund

Maigret und der gelbe Hund

von: Georges Simenon

Kampa Verlag, 2019

ISBN: 9783311700975

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 672 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Maigret und der gelbe Hund



2 Der Doktor in Pantoffeln


Inspektor Leroy war fünfundzwanzig, glich je- doch eher einem sogenannten braven Jungen als einem Polizeiinspektor.

Er kam frisch von der Schule. Es war sein erster Fall, und seit einer Weile beobachtete er Maigret mit verzweifelter Miene, wollte sich dezent bemerkbar machen.

Schließlich wurde er rot und flüsterte:

»Entschuldigung, Kommissar. Aber … die Fingerabdrücke …«

Er dachte wohl, sein Chef gehöre zur alten Schule und verstehe nichts von wissenschaftlichen Untersuchungsmethoden, denn Maigret nahm einen Zug aus seiner Pfeife und sagte wie nebenbei:

»Von mir aus …«

Inspektor Leroy ließ sich nicht mehr blicken, er trug Flasche und Gläser vorsichtig in sein Zimmer und bastelte den ganzen Abend lang an einer mustergültigen Verpackung, für die er den Bauplan bei sich trug, entwickelt zum Versand von Gegenständen ohne Beschädigung der Fingerabdrücke.

Maigret saß nun in einer Ecke des Cafés. Der Patron, in weißer Jacke und mit Kochmütze, schaute sich um in seinem Haus, als hätte es ein Wirbelsturm verwüstet.

Der Apotheker hatte geredet. Draußen hörte man Leute flüstern. Jean Servières setzte sich als Erster den Hut auf den Kopf.

»Es gibt noch was anderes als das hier! Ich bin verheiratet, und Madame Servières erwartet mich! Bis später, Kommissar.«

Le Pommeret unterbrach sein Auf-und-ab-Gehen.

»Warte auf mich! Ich gehe auch essen. Du bleibst noch da, Michoux?«

Der Doktor antwortete nur mit einem Achselzucken. Der Apotheker legte Wert darauf, dass er eine Hauptrolle spielte. Maigret hörte, wie er zum Patron sagte:

»… und es ist strikt notwendig, dass man den Inhalt sämtlicher Flaschen analysiert! Die Polizei ist schließlich da, und ich brauche nur den Auftrag …«

Im Schrank standen mehr als sechzig Flaschen mit unterschiedlichem Aperitif und Schnaps.

»Was meinen Sie, Kommissar?«

»Warum nicht. Sicher ist sicher.«

Der Apotheker war klein, mager und nervös. Er regte sich dreimal mehr auf als nötig. Er verlangte nach einem Flaschenkorb. Dann telefonierte er mit einem Café in der Altstadt und ließ seinem Gehilfen ausrichten, dass er ihn brauchte.

Ohne Hut machte er fünf- oder sechsmal den Weg zwischen dem Hôtel de l’Amiral und seinem Labor, fand trotz aller Geschäftigkeit noch Zeit für ein paar Worte mit den Neugierigen auf der Straße.

»Und was mache ich, wenn man mir alle Flaschen wegschleppt?«, stöhnte der Patron. »Und kein Mensch denkt mehr ans Essen! Wollen Sie nicht zu Abend essen, Kommissar? Und Sie, Doktor? Gehen Sie nach Hause?«

»Nein. Meine Mutter ist in Paris. Das Dienstmädchen hat frei.«

»Dann schlafen Sie hier?«

 

Es regnete. Die Straßen waren voll von schwarzem Dreck. Der Wind rüttelte an den Jalousien im ersten Stock. Maigret hatte im Speisesaal gegessen, nicht weit vom Tisch, wo der Doktor brütete.

Durch die kleinen grünen Scheiben hindurch sah man undeutlich Gesichter, die sich von Zeit zu Zeit neugierig gegen das Glas pressten. Die Kellnerin war eine halbe Stunde weg, so lange, wie sie selbst zum Essen brauchte. Dann stand sie wieder am Platz rechts von der Kasse, den Ellbogen aufgestützt, ein Tuch in der Hand.

»Geben Sie mir eine Flasche Bier«, sagte Maigret.

Er spürte sehr wohl, dass der Doktor ihn beobachtete, erst während er trank, und gleich danach, als wartete er auf die ersten Vergiftungssymptome.

Jean Servières kam nicht zurück, obwohl er es angekündigt hatte. Le Pommeret auch nicht. So blieb das Café leer, keiner wollte mehr hier herein, geschweige denn etwas trinken. Draußen erzählte man sich, in allen Flaschen sei Gift.

»Das reicht für die ganze Stadt!«

Der Bürgermeister telefonierte aus seiner Villa in Les Sables Blancs und fragte, was genau eigentlich vorging. Dann herrschte trübes Schweigen. Doktor Michoux in seinem Eck durchblätterte die Zeitungen, ohne dass er las. Die Kellnerin rührte sich nicht. Maigret rauchte friedlich, der Patron aber kam von Zeit zu Zeit und vergewisserte sich mit einem Blick, dass es kein neues Drama gab.

Man hörte, wie die Turmuhr der Altstadt die vollen und halben Stunden schlug. Das Getrappel und Getuschel auf der Straße ließ nach, und bald vernahm man nur noch die monotone Klage des Windes, das Regengetrommel gegen die Scheiben.

»Übernachten Sie hier?«, fragte Maigret den Doktor.

Die Stille war so tief, dass schon ein paar laut gesprochene Worte verstörend wirkten.

»Ja. Das kommt vor. Ich lebe mit meiner Mutter drei Kilometer außerhalb. Eine riesige Villa. Meine Mutter ist für ein paar Tage in Paris, und das Dienstmädchen hat freigenommen, sie ist bei der Hochzeit ihres Bruders.«

Er stand auf, zögerte, sagte hastig:

»Guten Abend!«

Und er verschwand im Treppenhaus. Man hörte, wie er die Schuhe auszog, im ersten Stock, direkt über Maigrets Kopf. Im Café waren jetzt nur noch die Kellnerin und der Kommissar.

»Komm mal her!«, sagte er und lehnte sich zurück.

Und als sie in steifer Haltung stehen blieb, fügte er hinzu:

»Setz dich hin! Wie alt bist du?«

»Vierundzwanzig.«

Sie zeigte eine übertriebene Unterwürfigkeit. Die Ringe unter den Augen, die Art, wie sie lautlos vorüberhuschte, ohne irgendwo anzustoßen, wie sie zitterte beim kleinsten Wort, all das passte zu der Vorstellung von einer Küchenhilfe, die harte Behandlung gewohnt ist. Und dennoch spürte man unter der Oberfläche einen Anflug von Stolz, den sie so gut wie möglich verbarg.

Sie war anämisch. Ihre flache Brust weckte wohl keine Sinnlichkeit. Trotzdem wirkte sie anziehend, denn sie hatte etwas Undurchschaubares, etwas Mutloses, Kränkliches.

»Was hast du vorher gemacht, vor der Arbeit hier?«

»Ich bin Waise. Mein Vater und mein Bruder sind ertrunken, auf dem Meer, mit dem Zweimaster Trois Mages. Meine Mutter war da schon lange tot. Zuerst war ich Verkäuferin, in dem Papiergeschäft an der Place de la Poste.«

Wonach suchte ihr unruhiger Blick?

»Hast du einen Freund?«

Sie drehte den Kopf weg, sagte kein Wort, und Maigret, die Augen auf ihr Gesicht geheftet, rauchte noch langsamer und nahm einen Schluck Bier.

»Es gibt doch sicher Gäste, die machen dir den Hof! Die von eben sind Stammgäste. Sie kommen jeden Abend. Sie mögen hübsche Mädchen. Los, sag schon! Welcher ist es?«

Sie wurde noch bleicher und sagte voll Überdruss:

»Vor allem der Doktor.«

»Bist du seine Geliebte?«

Sie schaute jetzt mit etwas wie Vertrauen.

»Er hat noch andre. Manchmal bin’s ich, wenn er Lust hat. Er schläft hier. Er sagt dann, ich soll raufkommen, in sein Zimmer.«

Selten hatte Maigret eine so teilnahmslose Beichte gehört.

»Gibt er dir was?«

»Ja. Nicht immer. Zwei-, dreimal an meinem freien Tag hat er gesagt, ich soll zu ihm nach Hause kommen. Vorgestern erst. Er nutzt es aus, wenn seine Mutter unterwegs ist. Er hat aber noch andre Mädchen.«

»Und Monsieur Le Pommeret?«

»Genau dasselbe. Außer, dass ich nur ein Mal zu ihm gegangen bin, ist schon lange her. Da war auch eine Arbeiterin aus der Sardinenfabrik. Darum hab ich nicht gewollt! Jede Woche haben sie eine neue.«

»Monsieur Servières auch?«

»Nein, nicht genauso. Er ist verheiratet. Ich glaube, er fährt nach Brest, wenn er Abwechslung braucht. Hier reicht’s ihm, wenn er rumschäkert und mich so nebenbei mal kneift.«

Es regnete noch immer. In der Ferne heulte das Nebelhorn eines Schiffs, das wohl nach der Hafeneinfahrt suchte.

»Und das geht so das ganze Jahr?«

»Nicht das ganze. Im Winter sind sie allein. Manchmal trinken sie eine Flasche mit einem Handelsvertreter. Aber im Sommer ist Hochbetrieb. Das Hotel ist voll. Abends sind es immer zehn oder fünfzehn, sie trinken Champagner oder hauen in den Villen auf den Putz. Überall sind Autos, hübsche Frauen. Dann haben wir viel Arbeit hier. Im Sommer serviere ich nicht, das machen dann junge Männer. Ich bin dann unten, Geschirr spülen.«

Wonach suchte sie bloß? Sie saß schief auf der Stuhlkante und wirkte, als wollte sie jeden Augenblick aufspringen.

Eine Klingel schrillte. Sie schaute zu Maigret, dann auf die elektrische Tafel hinter der Kasse.

»Entschuldigen Sie!«

Sie ging hinauf. Der Kommissar hörte Schritte, dumpfes Gemurmel im ersten Stock, im Zimmer des Doktors.

Der Apotheker kam herein, etwas angeheitert.

»Geschafft, Kommissar! Achtundvierzig Flaschen analysiert! Und gründlich, ich schwör’s! Keine Spur von Gift, außer im Pernod und im Calvados. Der Patron kann sein Zeug ruhig wieder abholen. Sagen Sie mal, unter uns, was ist Ihre Meinung? Anarchisten, oder?«

Emma kam zurück, ging auf die Straße, schloss die Fensterläden, wartete, dass sie die Tür zusperren konnte.

»Nu?«, fragte Maigret, als sie wieder allein waren.

Sie wandte den Kopf ab und antwortete nicht, mit einer ganz unerwarteten Verschämtheit, und der Kommissar hatte den Eindruck, wenn er noch etwas mehr drängeln würde, begänne sie zu weinen.

»Gute Nacht, mein Kleines!«, sagte er.

 

Als der Kommissar hinunterging, glaubte er, er sei der Erste auf den Beinen, so dunkel war der Himmel unter den Wolken. Vom Fenster aus hatte er den verlassenen Hafen gesehen, wo ein einsamer Kran den mit Sand beladenen Frachter entlud. Ein paar Regenschirme, ein paar Wachsmäntel huschten durch die Straße, ganz dicht an den Häusern.

Auf der Treppe begegnete er einem Handelsvertreter, der gerade angekommen...

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