Loriot - Biographie

Loriot - Biographie

von: Dieter Lobenbrett

riva Verlag, 2011

ISBN: 9783864130939

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 624 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Loriot - Biographie



3. Vicco von Bülow wird zu Loriot
Heimkehr ohne Ziel

Nach der Rückkehr aus dem Osten zog Vicco von Bülow auf das Gut einer Tante, von wo man bald fliehen musste, da die Rote Armee immer näher rückte. Zumindest körperlich unversehrt landete der mittlerweile 21 Jahre alte Vicco ab dem Sommer 1945 in der niedersächsischen Waldeinsamkeit. Die Geburtsstadt lag nunmehr in der sowjetischen Besatzungszone, die langjährige Heimat in den Berliner Bezirken Wilmersdorf und Zehlendorf war umringt davon.

Er lebte in Markoldendorf, einem Dörfchen westlich von Einbeck und in Sichtweite des Solling, einem Mittelgebirge mit ausgeprägter Walddichte. Er hatte sich dorthin zurückgezogen, um den Krieg zu verarbeiten oder wenigstens zu verdrängen. Sein Bruder war tot, viele Verwandte und Freunde ebenso, die Heimat zerstört. Für einen so jungen Mann ein Zustand, der schwer zu ertragen war. Jeden Tag um fünf Uhr morgens verließ er mit einer Axt das Haus, um für die Forstbehörde Holz zu fällen. Es tat seinem Körper gut, wenngleich es nicht besonders bezahlt wurde. Doch die überlebenswichtigen Lebensmittelkarten bekam man nur, wenn man eine Tätigkeit ausübte. In seinem Fall standen zur Wahl: im Bergwerk oder als Holzfäller.

Gesünder war das Arbeiten im Wald vielleicht, aber nicht unbedingt erfüllend für den Geist. Literatur, humanistische Ideen – all das war so weit weg. Ab dem Sommer 1946 besuchte er auch deshalb zusätzlich im rund 25 Kilometer entfernten Northeim das Gymnasium Corvinianum, um dort sein Abitur regulär nachzuholen. Den Ehrgeiz, es nicht beim unvollständigen Notabitur bewenden zu lassen, hatte er, auch weil er irgendwann vielleicht studieren wollte und das Stuttgarter Notabitur dafür nicht ausreichte. Er verfiel in einen »mir bis heute unerklärlichen Bildungsrausch«.[43]

Die Mischung aus körperlicher und geistiger Anstrengung mitten in der totalen Abgeschiedenheit der niedersächsischen Provinz machte den jungen Kriegsheimkehrer glücklich. Das Lernen ging ihm leicht von der Hand, täglich fuhr er die Strecke zum Gymnasium und zurück mit der Zubringerbahn, seine Fächer waren Deutsch, Mathematik und Englisch. Im Oktober 1946, als die Nürnberger Prozesse zu Ende gingen und Verbrecher wie Göring, Ribbentrop oder Streicher zum Tode verurteilt wurden, sinnierte er in der Abiturprüfung über Schiller. Das Thema im Fach Deutsch lautete: »Charakterisierung Schillers in seinem Verhältnis zu Goethe.« Nun, man muss zugeben, so lautete das Thema nicht, was der Korrektor auch am Rand mit dickem Rotstift vermerkte. Vicco von Bülow aber scherte das nicht, er bog sich die Aufgabe nach seinem Willen zurecht. Das Vorrecht eines fast 23-Jährigen, der gerade Tod, Elend und Zerstörung hinter sich gelassen und überlebt hatte. Denn Schiller liebte er, Goethe weniger, ihn respektierte und ehrte er nur.

Er bestand dennoch.

Mit Gedanken wie diesen: »In seinen Dramen geht es Schiller um die ewigen Werte des Zusammenlebens der menschlichen Gesellschaft. In großer Klarheit der Handlung und des Aufbaus entwickelt er die Gedanken zu seiner großen Idee. Sei es die Freiheit, die ideale Verfassung, die soziale Verbesserung oder der Untergang des Unlauteren – immer ist es eine Frucht seines spekulativen Schaffens.«[44]

Goethe dagegen sei mehr auf Gefühl und Stimmung aus, weniger auf eine Idee. Die Probleme, »seien es Humanismus, Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Gefühl oder der Kampf um Gut und Böse, das Ringen um Erkenntnis, liegen immer im Menschen selbst«.[45] Birgit Lahann, die den Abituraufsatz ausfindig machte, bewertete ihn so: »Schiller ist für von Bülow der Jüngling, der die ästhetische Richtung angibt, der klassische Schwärmer, der die Begriffe lebendig macht, der Freiheit in den Menschen pflanzt (…) und durch ihn eine Idee zum Leben erweckt.«[46] Goethe, der erdverbundene, war nicht so sehr sein Ding, er liebte Schiller, den Träumer und Utopisten, den Protagonisten des Sturm und Drang.

Auch der benotende Lehrer war vom Aufsatz angetan und hob die übergreifenden und weitergehenden Gedanken des Abiturienten des Vicco von Bülow hervor. Denn dieser hatte nicht nur die Dichter an sich untersucht, sondern auch ihr Wirken im größeren, im menschlichen Maßstab. Er hatte wirklich über beider Lebenseinstellungen nachgedacht.

Wesentlich nüchterner reflektierte Vicco von Bülow selbst in späteren Gedanken seine Reifeprüfung. »Nach bestandener Prüfung erfreute ich mich einer gewissen Fertigkeit sowohl im Lösen vielstelliger Differential- und Integralaufgaben als auch im Übersetzen griechischer Philosophen. Ferner verfügte ich über einen goldenen Zitatenschatz deutscher und englischer Klassiker.«[47]

Ähnlich pragmatisch war auch der Tag selbst, an dem seine Schullaufbahn endgültig endete. Die Prüfung legte er am Vormittag ab, bereits am Mittag saß er wieder im Zug nach Markoldendorf und schon am selben Nachmittag fällte er wieder Bäume.

Eine konkrete Vorstellung, was er beruflich machen sollte, hatte er noch immer nicht. Was beim Sechsjährigen noch nicht weiter schlimm war, wurde nun beim Mittzwanziger langsam ein ernsthaftes Problem. Dabei bot die Nachkriegszeit alle Möglichkeiten. Aber Vicco war ein wenig lethargisch, ziellos, befand sich in einem »Zustand ehrgeizloser Zufriedenheit«[48], der einzig von den Briefen seiner Freunde torpediert wurde, die zumeist schon längst mit dem Studium begonnen hatten.

Ausgerechnet vom Vater, der Offizier und stark der Tradition verhaftet war, kam ein geradezu exotischer Vorschlag. Er erinnerte sich einiger Zeichnungen des jungen Vicco und schlug ihm ein Studium an der Landeskunstschule in Hamburg vor. Das hielt auch Vicco von Bülow später für ungewöhnlich – ein Vater, der seinem Kind zur Kunst rät, statt ihm solche Flausen auszutreiben.

Landeskunstschule Hamburg und Willem Grimm
Der junge Vicco hatte damals in Markoldendorf auch schon eine Freundin. Eines Tages, als er darüber sinnierte, mit welchen Zeichnungen er sich denn um einen der begehrten Studienplätze an der Hamburger Landeskunstschule (heute: Hochschule für bildende Künste) bewerben könnte, welche Zeichnungen Erfolg versprächen, da kamen sie gemeinsam darauf, es mit Akten zu versuchen. Die junge Dame, deren Namen er stets verschwieg, erklärte sich schnell bereit, Modell zu stehen. Dem in Sachen Erotik wenig erfahrenen Kriegsheimkehrer und Holzfäller kam das sicher entgegen. Vicco von Bülow zeichnete sie 70 Mal, mindestens, jedenfalls reichte er 70 Akte an der Schule ein. Große Hoffnungen durfte er sich nicht machen. Er war einer von 250 Bewerbern – und nur 20 wurden in den elitären Kreis aufgenommen.

Zumindest mussten die Bewerber lediglich jene Mappe mit künstlerischen Arbeiten vorlegen und begutachten lassen. Auf die einstmals geforderte und als unverzichtbar angesehene handwerkliche Vorbildung verzichtete man angesichts der Umstände. So kurz nach dem Krieg, wo andere Dinge essenzieller waren als das Erlernen eines Handwerks. Der erste Schuldirektor Friedrich Ahlers-Hestermann, damals schon über 60 Jahre alt und somit über die bitteren Erfahrungen gleich zweier Weltkriege verfügend, erinnerte sich an die ersten Aufnahmeprüfungen: »Abgemagerte, graugesichtige junge Menschen defilierten an meinem Schreibtisch vorüber, die nun Künstler werden sollten, stockend davon sprachen oder fast tonlos ihre furchtbaren Erlebnisse erzählten.« Und weiter: »Alle diese jungen und zum Teil gar nicht mehr jungen Leute hatten Jahre der Fron des Kriegsdienstes oder der Gefangenschaft hinter sich, hatten die Augen voll der Bilder von Blut und Schlamm, Trümmern und Stacheldraht, hatten kaum ein wohnliches Heim, eine geregelte Bildung gekannt, hatten nur den dunklen Drang der künstlerischen Betätigung.«

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