Paul Celan - Erinnerungen und Briefe

Paul Celan - Erinnerungen und Briefe

von: Klaus Reichert

Suhrkamp, 2020

ISBN: 9783518764732

Sprache: Deutsch

250 Seiten, Download: 5007 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Paul Celan - Erinnerungen und Briefe



Universität Marburg 1958/59


Gotisch, Althochdeutsch, Altenglisch, etwas Sanskrit, Phonetik, englische Idiomatik, Shakespeare, drei Mittelaltervorlesungen, Romantik, sog. deutsches Gegenwartsdrama mit Georg Kaiser, Franz Werfel, Ernst Barlach, in näselndem Schwäbisch doziert. Zum Vergnügen eine Vergil-Vorlesung von Carl Becker, einem Reinhardt-Schüler, eine Proust-Vorlesung bei einem Französischlektor, Anfangsgründe des Chinesischen und das Malen der Ideogramme beim großen Alfred Hoffmann.

Ein Augenöffner war die Vorlesung des Philosophen Klaus Reich über die Sophistikoi Elenchoi des Aristoteles. Er demonstrierte an der Tafel, warum die und die Textstelle falsch überliefert (ein Hörfehler?) sein müsse. Ein Jota zuviel oder zuwenig, ein irriger spiritus asper. Minutiae, aber doch ein Unterschied ums Ganze. Unter den Hörern meldete sich oft ein schmaler alter Herr, der Neukantianer Julius Ebbinghaus, Reichs Vorgänger, und begann: »Herr Kollege, das glaube ich Ihnen nicht ‌…«, und so entspann sich ein langer Disput über das Für und Wider. Das war für mich ein Propädeutikum der Philosophie, ein Hinundherwenden der Wörter und Zeichen, um eine Grundlage zu schaffen, von der aus überhaupt erst sinnvoll zu sprechen wäre. Aber es blieb die Frage, ob nicht alle Überlieferungsschichten ins Verstehen eines Textes einbezogen werden müßten. Später, nach Erscheinen der kritischen Ausgaben der Gedichte Celans, stellte sich mir die Frage, ob nicht die Phasen der Entstehung Aufschluß gäben über das am Ende »enthülste«, komprimierte, fertige Gedicht. Aber die Quellen gab es damals noch nicht.

Das wichtigste Ereignis in meinem ersten Marburger Semester war ein Film. In einem Studentenkino wurde Nacht und Nebel von Alain Resnais gezeigt. Ein Student sagte zur Einführung, der Film hätte bei den Filmfestspielen in Cannes vorgeführt werden sollen, aber die Bundesregierung habe interveniert: Der Film könne dem Ansehen der noch jungen Bundesrepublik schaden, die doch ›alles‹ getan hätte ‌… und so weiter. Er kam denn auch nicht in den offiziellen Verleih, denn die Bilder waren zu schrecklich, das heißt, ›den Deutschen nicht zumutbar‹. Den Text hatte Jean Cayrol, ein Überlebender von Mauthausen, geschrieben, der ihn als »Kommentar« verstand zu den von Resnais montierten Bildern. Die deutsche Übersetzung stammte von Paul Celan. Cayrols Prosa hatte er zu Versen angeordnet. So entstand eine Spannung zwischen den Dokumenten des Grauens, die ich in diesem Film zum erstenmal sah, und den nüchtern konstatierenden Versstücken, Atemeinheiten, die sich zu einem großen Poem zusammenfügten. Mich erinnerte das Verfahren der registrierenden Reihung an Schönbergs spätes Stück Ein Überlebender von Warschau. Jahre später, 1983, entnahm ich der Gesamtausgabe der Übertragungen, daß Celan seine frühe Übersetzung nicht lange vor seinem Tod noch einmal durchgesehen und korrigiert hatte. Wie ihn diese erneute Begegnung mit dem Unfaßbaren verstört haben muß, wagt man sich nicht vorzustellen.

Im März 1959 erschien Sprachgitter bei S. Fischer, Celans neuem Verlag. Daneben lag in der Buchhandlung ein dünnes Heftchen, das sein früherer Verlag herausgegeben hatte und das seine Dankesrede für den Bremer Literaturpreis enthielt. Die Rede, so kurz sie ist, benennt die Richtpunkte – ›Windstriche‹ – seines Schreibens. Der furiose Einsatz mit Wörtern gleicher Herkunft – »Denken, Danken, gedenken, eingedenk sein, Andenken, Andacht« – macht hellhörig für das in einem Wort Mitgedachte, Mitgemeinte Andere, Nahe oder Ferne. So scheint in Celans Denken das Eingedenksein mitgemeint. Es war bewegend zu lesen, daß er als das einzige Unverlorene die Sprache nennt, »ja, trotz allem«. Er vermied, sie »die deutsche Sprache« zu nennen, aber er sagte, daß sie, die Sprache, »hindurchgehen [mußte] durch die tausend Finsternisse todbringender Rede«. Das hieß, daß seine Sprache nicht anknüpfen konnte an die Großen seiner Jugend – Hofmannsthal, Trakl, George, Rilke –, daß vielmehr bei jedem Wort mitzuhorchen ist auf das, was mit ihm seitdem geschehen war. Auch der dialogische Charakter der – seiner – Gedichte kommt zur Sprache: »Sie halten auf etwas zu.« Sie können »eine Flaschenpost sein«. Und dann: die Sprache seiner Ansprache: »Infinite riches in a little room.«

Sprachgitter war ganz anders als die früheren Gedichtbücher. Auch schon eine »Atemwende«. Es war eine andere Sprache, nicht mehr eine durch- und heraushörbar vertraute wie trotz allem Neuen bei Eich und Bachmann. Vielleicht sollte man (ich) durch die abgelagerten Schichten des Deutschen hindurchgegangen sein, um des Unvertrauten der eigenen Sprache gewärtig zu werden. Wieviel Vergessenes ist in ihr aufgehoben? Es gab Gedichte, die sich bis zu einem gewissen Grad ›öffnen‹ ließen. »Tenebrae« zum Beispiel mit der Vergegenwärtigung der Karfreitags- und Osterliturgien, mit der Zwiesprache mit Gott wie im Hiob der Bibel und im Roman von Joseph Roth. Oder »EIN HOLZSTERN, blau, / aus kleinen Rauten gebaut. Heute, von / der jüngsten unserer Hände.« Das konnte nur von Eric gesagt sein, der jetzt vier Jahre alt sein mußte und der bei meinem Besuch in Paris zwischen den Zimmern und Sprachen hin und her gelaufen war. Oder »Matière de Bretagne«, in dem der arturische Sagenkreis eine Anknüpfung zu bieten schien, die sich aber erst einmal als loser Faden erwies. Bei den meisten Gedichten fehlte die Möglichkeit, sie in meinen Verstehenshorizont zu übertragen. Sie waren wie Wassertropfen, die erst unter dem Mikroskop zeigten, was alles in ihnen wimmelte. Schon die Anfangsverse des Eingangsgedichts – »Stimmen, ins Grün / der Wasserfläche geritzt« – waren ›immun‹. Stimmritze? Glottis? Kaum. Die Verse hatten eine eigene Evidenz, jenseits des Darstell- oder ins Verstehen Übersetzbaren, waren ein herrliches Bild, das die Frage nach der Bedeutung wie ein Sakrileg erscheinen ließ. Die größte Herausforderung war »Engführung«, das lange Schlußgedicht, das ich mir und anderen immer wieder vorlas, um übers Ohr das Übereinander der Stimmen herauszuhören. Die Fugentechnik der Engführung war eine mögliche Herangehensweise: das ›Thema‹ ist noch nicht fertig, da wird es schon überlagert vom Selben, das das Selbe nicht ist wie die Überschichtungen der Erinnerung. So las ich und verlas mich, setzte mich den Gedichten von Sprachgitter aus, fasziniert, zugleich ahnend und ahnungslos.

Damals schrieb ich Paul Celan einen weiteren Brief, um ihn zu Lesungen nach Marburg und Gießen einzuladen. (5) Wir hatten in Paris darüber gesprochen. Und er antwortete am 27. März 1959 (6), wofür ich mich erst im August bedankte. (7)

Es muß im Sommersemester 1959 gewesen sein, daß ich einen Vortrag von Rolf Schroers hörte, dessen Name als Schriftsteller mir vage bekannt war, von dem ich aber nichts gelesen hatte. Er sprach über die atomare Bedrohung im Kalten Krieg. Vor zwei Jahren hatten Göttinger Professoren, Physiker und Philosophen, ein Manifest gegen die atomare Aufrüstung der Bundeswehr verfaßt und waren dafür von Adenauer als für solche Fragen nicht zuständig abgekanzelt worden. Das hatte mich empört. Also ging ich zum Vortrag von Schroers, ging hinterher zu ihm, stellte ihm ein paar Fragen, und er lud mich zu einem Glas Wein ein. Er gehörte einem ›Komitee gegen Atomrüstung‹ an und saß in einem Ausschuß ›Kampf dem Atomtod‹. Schroers war ein äußerst beredter Mann, bestens informiert, engagiert, aber kein ›Linker‹, weil er das atomare Drohpotential des Ostens genauso kritisierte wie das des Westens. Er öffnete mir die Augen für vieles, was in Westdeutschland schieflief, sprach von den alten Nazis in der Justiz und vom sich wieder offen zeigenden Antisemitismus. Er war ein freundlicher, zugewandter Mensch, uneitel, klar, ein Aufklärer, der andere Menschen erreichen wollte, sonst hätte er mich, den jungen Anonymus, nicht zum Wein eingeladen. Als er von Antisemitismus sprach, erwähnte ich Resnais' Film Nacht und Nebel. Es war er, Schroers, der mit ein paar wenigen Gleichgesinnten öffentlich gegen den ›Wunsch‹ oder...

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