(Ent-)Demokratisierung der Demokratie

(Ent-)Demokratisierung der Demokratie

von: Philip Manow

Suhrkamp, 2020

ISBN: 9783518765524

Sprache: Deutsch

120 Seiten, Download: 1400 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

(Ent-)Demokratisierung der Demokratie



1. Pöbel und Volk


See, from the shades, on tidy pinions swell,
And rise, the young DEMOCRACY of hell!
David Humphreys 1786/871

Die Demokratie war bis vor Kurzem äußerst schlecht beleumundet. »Demokratie war ein Paria-Wort« (Dunn 2005, S. 71). »Bis vor Kurzem« heißt für unseren Zusammenhang »bis weit ins 19. Jahrhundert hinein«:

 

Demokratie war einmal ein schlimmes Wort. Wer überhaupt etwas darstellte, der wußte auch, daß die Demokratie in ihrem ursprünglichen Sinn – als Herrschaft des Volkes – etwas Schlechtes sein würde, tödlich für die Freiheit des einzelnen und für alle Annehmlichkeiten zivilisierten Lebens. Das war die Einstellung fast aller gebildeten Menschen seit frühester Zeit bis vor etwa hundert Jahren. Dann, innerhalb von fünfzig Jahren, wurde aus der Demokratie eine gute Sache. (Macpherson 1967, S. 7)

 

Dass Demokratie recht plötzlich, und vor nicht allzu langer Zeit, von einem »schlimmen Wort« zu einer »guten Sache« wurde, heißt natürlich nicht, dass sich mit dem Begriff oder der Idee auch die Demokratie selbst sofort durchgesetzt hätte. Dass auch einige der heute als etabliert geltenden Demokratien des Westens das universale Wahlrecht erst nach dem Zweiten Weltkrieg vollständig gewährleisteten (oder gar noch später, etwa was den faktischen Ausschluss der Afroamerikaner von Wahlen in den Südstaaten der USA bis in die sechziger Jahre betrifft), würde es als plausibel erscheinen lassen, die volle institutionelle Entfaltung und Etablierung der Demokratie nicht vor der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts anzusetzen. Eine solche Datierung könnte sich auch auf das erst 1945 bzw. 1989 endgültig offenbar werdende Scheitern der fundamentalen Demokratiealternativen von rechts (Faschismus) und links (Kommunismus) oder darauf berufen, dass sich erst mit der Dekolonialisierung das Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker im größeren Maßstab durchsetzen konnte, wenngleich es, daran erinnert das Geschehen in Katalonien oder im Fall der syrischen Kurden auf jeweils unterschiedliche Weise, ein vertracktes Prinzip bleibt (Fisch 2010). Demokratie wird also, recht besehen, erst in jüngster Zeit eine politische Form, auf die sich Gesellschaften wie selbstverständlich berufen – auch wenn das Prinzip selbst natürlich bereits unumstritten geworden war, weit bevor es sich dann auch praktisch verwirklicht fand.

Zuvor aber, vor dem Durchbruch der Demokratie als Idee, bezeichnete der Begriff eine Verfallsform politischer Herrschaft. Man dachte weiterhin in den von Aristoteles vorgezeichneten Bahnen. Demokratie galt als instabile, korrupte, impulsive Herrschaftsform. Sie appelliere, so hieß es, an die niederen Instinkte, prämiere eine Politik der instant gratification, gebe der Menge, was sie will, ohne dafür Sorge zu tragen, ob die Menge denn überhaupt das Richtige will. Sie habe keinen Platz für Reflexion, kluge Abwägung oder unangenehme Wahrheiten: »Demokratie basiert auf Schmeichelei und Lügen: Demokratische Politiker bestätigen das Publikum in dem, was es glauben möchte, statt ihm zu sagen, was es hören müsste.« (Runciman 2015, S. 7) Demokratie = Demagogie. Die Menge – flatterhaft in ihrem Urteil, unbeständig in ihrer Haltung, niedrig in ihren Begierden, einfach zu verführen und zu manipulieren, wie eine Marionette in den Händen der Demagogen, launisch, tumultuös, dumm – erschien völlig unfähig zur Herrschaft.2 Demokratie, das sei der Despotismus der reinen Zahl (»despotism of King Numbers«), in Wirklichkeit eine Mobokratie, »die Herrschaft der Niedrigsten über die Besten«. Demokratie inauguriere die »Suprematie der Ignoranz über die Bildung, der Zahlen über das Wissen« (Walter Bagehot), sie etabliere die Herrschaft der »tumultuösen Mengen der verlottertsten Personen in der Gemeinschaft (die zudem stets so vorlaut sind, sich als das Volk zu bezeichnen)« (zitiert nach Laniel 1998, S. 90).3

Demokratie, so die seinerzeit dominante Auffassung, sei eine Gefahr für das Gemeinwesen, eine Form der Klassenherrschaft, die sich mit einer bürgerlichen Eigentumsordnung nicht vertrage, und damit eben ein Feind »alle[r] Annehmlichkeiten eines zivilisierten Lebens« (siehe oben). In diesem Urteil finden wir auch diejenigen vereint, die wir heute als Wegbereiter demokratischer Verfahrensformen ansehen: »Demokratien [haben] immer den Schauplatz für Unruhen und Streitigkeiten abgegeben, sind stets als unvereinbar mit den Erfordernissen der persönlichen Sicherheit oder den Eigentumsrechten betrachtet worden« (Madison 1993a [1787], S. 97). Hier herrschten »Männer ohne Besitz«, folglich »Männer ohne Prinzipien« (»men without property«, also »men without principles«). Die Demokratie, immer in Gefahr, zu einer völlig kopflosen Veranstaltung zu werden (»a Beast without a head«, William Hooper, zit. n. Laniel 1998, S. 64), war gleichbedeutend mit Unruhe und Unordnung, mit der unberechenbaren Herrschaft derer, die sich nicht beherrschen können.4

Noch am Vorabend der Französischen Revolution lautete die weithin geteilte Sicht: »Demokratie ist ein Staat, in dem der Plebs, zu seinem eigenen größtmöglichen Nutzen, das Wohl und die Ruhe der Gemeinschaft vernachlässigt« (Friedrich Christian Baumeister 1758, zit. n. Maier 1972, S. 842). Und in Reaktion auf die Französische Revolution sah jemand wie Edmund Burke wenig Veranlassung, dieses Urteil zu revidieren – ganz im Gegenteil. Für Burke hatte das Geschehen in Frankreich nun endgültig bewiesen: »[E]ine vollkommene Demokratie [ist] das schamloseste aller politischen Ungeheuer« (Burke 1793 [1790], S. 147).

Daher wollten die französischen wie die amerikanischen Revolutionäre zunächst auch ganz explizit keine Demokraten, sondern vielmehr Republikaner sein (Dunn 2005). Für jemanden wie James Madison war es von zentraler Bedeutung, den Unterschied zwischen einer Demokratie und einer Republik zu betonen und zu versichern, das Hauptcharakteristikum der amerikanischen Republik bestehe darin, dass »das Volk in seiner Eigenschaft als Kollektiv von jedem Anteil an der Regierung ausgeschlossen« bleibe (Madison 1993b [1787], S. 381). Das war in Frankreich zunächst nicht viel anders. D'Argenson unterschied zwischen falscher und richtiger beziehungsweise legitimer Demokratie, und für die falsche galt:

 

Die falsche [fausse] Demokratie verfällt schnell der Anarchie. Es ist die Regierung der Vielen: wie ein Volk, das revoltiert und sich noch auf keine festen Prinzipien geeinigt hat, anmaßend ist, und die Gesetze und die Vernunft verachtet. Der tyrannische Despotismus zeigt sich in der Gewalttätigkeit seiner Bewegungen und in der Unberechenbarkeit seiner Verhandlungen. (D'Argenson 1764, S. 6f.)

 

Im Gegensatz dazu garantiere die wahre und gute Demokratie auf ihre Weise »den vollständigen Ausschluss des Volkes von jeder Machtausübung«, nämlich durch Repräsentation: »Dans la véritable Démocratie, on agit par Députés. Ces Députés sont autorisé par l'élection du Peuple.« (Ebd., S. 7; vgl. Dunn 2005, S. 93-100) Es war die Idee einer repräsentativen Demokratie, in der die Deputierten, vom Volk gewählt, im Auftrag des Volkes, an seiner Stelle und in seinem Namen entscheiden, die sich nun durchzusetzen begann und die perhorreszierte Vorstellung von der unmittelbaren Volksherrschaft, der »reinen« Demokratie, abmilderte. Genau hierin lag in den Augen von James Madison auch der zentrale Unterschied zwischen einer reinen Demokratie und einer Republik, nämlich im »Prinzip der Repräsentation« (Madison 1993b [1787], S. 380). Die Republik reinigt den Willen des Volkes durch Repräsentation. Der entscheidende Unterschied zur Demokratie bestehe in der »Übertragung der Regierungsverantwortung in der Republik auf eine kleine Zahl von Bürgern, die von den übrigen gewählt werden« (Madison 1993a [1787], S. 98), und das garantiere, im Unterschied zu den Unwägbarkeiten der reinen Demokratie, »die Herrschaft der Besten über die Schlechtesten« (James Allen, zit. n. Laniel 1998, S. 91). ...

Kategorien

Service

Info/Kontakt