Depressionen. Ratgeber für Angehörige

Depressionen. Ratgeber für Angehörige

von: Doris Wagner-Neuhaus

Psychiatrie-Verlag, 2003

ISBN: 9783884143438

Sprache: Deutsch

167 Seiten, Download: 1718 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

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Depressionen. Ratgeber für Angehörige



Angehörige und ihre eigenen Bedürfnisse (Seite 80 bis 82)

Der Umgang mit einem depressiven Menschen ist nicht einfach und kann leicht zur eigenen Erschöpfung führen. Man hilft und unterstützt, ist verständnisvoll und übernimmt viele Verpflichtungen, die sonst in den Aufgabenbereich des Depressiven fallen würden. Die eigenen Bedürfnisse und Wünsche werden dabei häufig zurückgestellt, wenn nicht sogar ganz vergessen. So sehr der Angehörige sich auch wünscht, wieder einmal den eigenen Bedürfnissen nachzugehen, so wenig traut er sich: Er hat dann das Gefühl, den Depressiven zu vernachlässigen. Dieser innere Zwiespalt heißt auch Annäherungs-Vermeidungs- Konflikt.

Ein Fallbeispiel: Die Pflege meines depressiven Mannes nimmt mich ziemlich in Anspruch. Neben der Hausarbeit und meinem Beruf als Verkäuferin versuche ich, meinen Mann so weit wie möglich zu entlasten. So mache ich viele Vorschläge, womit er sich, der krankgeschrieben und zu Hause ist, beschäftigen könnte. Er geht aber nur zum geringsten Teil auf all meine Vorschläge ein. Um ihn möglichst wenig allein zu lassen, fahre ich in der Mittagspause schnell nach Hause und spiele zurzeit sogar mit dem Gedanken, eine Halbtagsstelle anzutreten. Für mein Kind habe ich immer weniger Zeit und für mich bleibt sowieso überhaupt keine freie Stunde mehr übrig. Meinen Friseurtermin verschiebe ich von Woche zu Woche, Bücher bleiben ungelesen liegen und an einen Kino- oder Restaurantbesuch ist gar nicht zu denken. In den letzten Wochen fühle ich mich leer und ausgebrannt. Ich habe das Gefühl, nur noch für andere zu leben, und auch meinem Mann gegenüber werde ich zunehmend gereizter und ungeduldiger.

Niemand verfügt über unerschöpfliche Kraftreserven – und die Betreuung eines Depressiven erfordert viel seelische und körperliche Energie. Diese Kraft muss immer wieder erneuert werden; so wie ein Auto Benzin benötigt, um fahrtüchtig zu sein, so braucht der Angehörige Kraftquellen, die er anzapfen kann, um neue Energie zu schöpfen. Mögliche Kraftquellen sind: Meditation bzw. Ruhephasen: Geeignete Mittel, um zur Ruhe zu kommen, sind etwa: Gebete, Musikhören, Bild- oder Textbetrachtung usw. Kulturelle Unternehmungen: Museums- oder Theaterbesuch, Besuch von Konzerten. Sport: Jogging, Tanz, Gymnastik, Aerobics oder jede Art von Mann schaftssport. Steigerung des körperlichen Wohlbefindens: Mittagsschlaf, Sauna, Massage und Entspannungsbäder. Angehörige von depressiv Erkrankten sorgen oft zu wenig für sich. Sie nehmen sich nicht genügend Zeit dafür, auch auf die eigenen Bedürfnisse zu achten.

Oft gestehen sie sich die Bedürfnisse nicht zu, trauen sich aber auch nicht, ihnen nachzugehen, aus falscher Rücksichtnahme etwa den Nachbarn oder den anderen Familienmitgliedern gegenüber. Sie stellen sich Fragen wie: Was werden die Nachbarn sagen, wenn sie mitbekommen, dass ich ohne meinen Partner ausgehe? Oder: Was werden die Verwandten sagen, wenn ich ins Kino gehe und den depressiv Erkrankten allein zu Hause lasse? Ob die Einschränkung der eigenen Wünsche nun von einem selbst kommt oder von außen aufgezwungen wird, spielt letztlich eine untergeordnete Rolle: Oft tritt die eigene Erschöpfung vor dem Zeitpunkt ein, an dem es dem Depressiven wieder besser geht. Und das kann fatale Folgen haben: Spätestens wenn man als Angehöriger selbst berufsunfähig ist, rächt sich die völlige Hingabe an den Depressiven. Man wollte Hilfe und Unterstützung geben und braucht sie jetzt selbst dringend. Damit nimmt man letztlich auch dem Depressiven die Stütze, die er in dieser schwierigen Situation so notwendig braucht. Man hat also das Gegenteil von dem bewirkt, was man eigentlich erreichen wollte.

Die eigene Person, die kranke Person und vielleicht auch andere »abhängige« Personen wie etwa Kinder müssen die Folgen unbefriedigter Bedürfnisse tragen, die man nicht gewagt hat auszuleben. Nur wenigen Angehörigen von Depressiven gelingt es, die eigenen Bedürfnisse zu befriedigen, ohne dabei Schuldgefühle aufzubauen. Schuldbewusst legt man sich über jedes Atemholen und über jede Ruhepause Rechenschaft ab. Die eigenen Bedürfnisse werden zurückgedrängt. Aber: Jeder Mensch kann nur so lange Unterstützung geben, wie er selbst stark genug ist und keine Hilfe braucht. Und: Jeder Mensch hat auch ein Recht darauf, auf seine Bedürfnisse zu achten. Dabei haben manche Aktivitäten durchaus Erholungscharakter, wenn sie mit dem Depressiven gemeinsam unternommen werden. Eine Integration des Kranken ist dabei durchaus wünschenswert, aber kein Muss. Wichtig für den Angehörigen ist, den richtigen Abstand zum Depressiven zu finden, und dabei doch gleichzeitig noch genügend Spielraum für die eigene Person zu behalten.

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