Demokratie - Eine gefährdete Lebensform

Demokratie - Eine gefährdete Lebensform

von: Till van Rahden

Campus Verlag, 2019

ISBN: 9783593442808

Sprache: Deutsch

196 Seiten, Download: 3526 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Demokratie - Eine gefährdete Lebensform



Einleitung Eine Frage der Form oder: Wie die Demokratie ihre Fassung bewahrt Lange galt die liberale Demokratie als selbstverständlich. Gegenwärtig treibt jedoch viele Menschen die Sorge um, sie könnte sich im Niedergang befinden. Die Demokratie erscheint ihnen als gefährdet. Immer mehr Bürgerinnen und Bürger distanzieren sich von der Politik, die Volksparteien verlieren seit Jahren an Bindekraft, digitale Filterblasen ersetzen zunehmend die öffentliche Debatte. Weltweit erscheinen Studien, die mit der Frage befasst sind, wie die Demokratie in die Krise geraten ist, wie sie zunehmend »degeneriert« oder wie sie sich selbst hat abschaffen können. In Deutschland befürchten viele, die Bundesrepublik werde sich als Schönwetterdemokratie erweisen, die der Wiedergeburt autoritärer Bewegungen hilflos zusehen muss. Manche sprechen gar von einer »großen Regression«, im Zuge derer sich grundlegende zivilisatorische Errungenschaften als brüchig erweisen. Wir scheinen Zeugen einer Zeitenwende zu sein, bei der das Überleben unserer Demokratien auf dem Spiel steht. Gewiss: Nichts ist für die Ewigkeit. Doch gerade deshalb soll hier eine andere Perspektive entfaltet werden. Statt darauf zu starren, wie Demokratien sterben, geht dieses Buch der Frage nach, was sie am Leben erhält. Die folgenden Überlegungen knüpfen an die verbreitete Krisendiagnose an, ohne dabei in Verzweiflung zu geraten. Wer über die Gefährdung der Demokratie redet, kann die Lust am Untergang pflegen oder mit Albert Hirschman nach Wegen suchen, wie die Demokratie ihre Fassung bewahrt. Wer so fragt, erinnert zugleich daran, dass die Demokratie eine fragile Ordnung ist, die ohne sorgfältige Pflege »in der Luft« hängt. Sie erschöpft sich nicht im Gang zur Wahlurne, in Parteiarbeit, in Parlamentsdebatten oder im Mit- und Gegeneinander der drei Gewalten. Demokratie ist nicht allein eine Herrschaftsform. Die Diagnose ihrer Krise schärft das Bewusstsein dafür, dass Demokratie nichts weniger ist als eine Lebensform. Das Bild von der Demokratie als Lebensform verweist auf eine politische Tradition, die mit Namen wie Montesquieu oder David Hume, Immanuel Kant oder Alexis de Tocqueville, John Dewey oder Sydney Hook verknüpft ist. Zwar verbreitet sich die Formulierung von der Demokratie als Lebensform erst im Schatten der Krise der liberalen Demokratie in den dreißiger und frühen vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Doch die Frage, ob jede Staatsform spezifische Lebensformen, ihre eigenen Sitten, ein ethos, manners beziehungsweise m?urs voraussetzt, ist älter. Die Annahme einer wechselseitigen Verschränkung zwischen dem Staat und dem Alltagsleben bildet auch den Hintergrund für die Debatte zwischen John Locke und Robert Filmer über das Patriarchat, für die Diskussion der Aufklärer über die »polite society« oder die »ungesellige Geselligkeit« - ob in Edinburgh oder Genf, Königsberg oder Phi­ladelphia. So altfränkisch die Sprache der Aufklärung heute anmuten mag: Es könnte gerade in der gegenwärtigen Krise der liberalen Demokratie fruchtbar sein, sich an ältere Begriffe und Argumente zu erinnern, die das erste Zeitalter der demokratischen Revolutionen prägten, wenn wir versuchen, die Frage nach den Voraussetzungen der liberalen Demokratie in ihrer Widersprüchlichkeit ernst zu nehmen. Damit öffnet sich der Blick für die kulturellen und sozialen Voraussetzungen der Demokratie. Dieses Thema begleitet die moderne Demokratie seit ihrer Geburt im 17. und 18. Jahrhundert. In der Erinnerung an diese Debatten blitzt ein Gespür dafür auf, dass wir die Demokratie als Herrschafts- und als Lebensform ausprobieren, immer wieder neu entwerfen und einüben müssen. Der Ausgang des Experiments ist offen. Die Einsicht, dass die Demokratie notwendigerweise gefährdet ist, läuft ins Leere, wenn sie nicht ein Nachdenken darüber provoziert, was die Demokratie am Leben erhält. Bereits 1762 warnte Jean-Jacques Rousseau, dass »keine Regierungsform Bürgerkriegen und inneren Gärungen so ausgesetzt ist wie gerade die demokratische oder Volksregierung«. Keine andere Staatsform neige daher »so stark und dauernd zu Umwälzungen« und verlange »mehr Umsicht und Mut zu ihrer Erhaltung«. In der Demokratie müsse »sich jeder [...] wappnen und jeden Tag seines Lebens« wiederholen, »was ein edler Woiwode im polnischen Reichstag zu sagen pflegte: ?Lieber Freiheit und Gefahr als Sklaverei und ungestörte Ruhe?«. Ähnliche Fragen beschäftigten die Gründungsväter der amerikanischen Republik. Nachdem der Konvent von Philadelphia nach knapp viermonatigen Beratungen am 17. September 1787 dem amerikanischen Kongress einen Verfassungsentwurf vorgelegt hatte, machte eine Anekdote die Runde: Als Benjamin Franklin nach der Unterzeichnung des Entwurfs den Konvent verließ, sprach ihn Elizabeth Powel an. »Nun Herr Doktor«, fragte die 44-jährige Frau des Bürgermeisters und führende Salonière der Stadt, »haben wir nun eine Republik oder eine Monarchie?«. »Eine Republik«, antwortete Franklin, »if you can keep it«. Dass das Überleben eines Gemeinwesens der Freien und Gleichen im Ernstfall vom bürgerlichen Engagement abhängt, diese Einsicht Franklins erwies sich als umso wichtiger, je mehr sich die junge amerikanische Republik seit den 1830er Jahren in eine moderne Demokratie (aller weißen Männer) verwandelte. Übertragen auf die Krise der Demokratie im frühen 21. Jahrhundert steht damit die Frage im Raum, was zu tun ist, damit die Demokratie ihre Fassung bewahrt. Die Schwierigkeit, Antworten zu finden, beginnt damit, dass der Begriff der Demokratie zwar seit dem späten 18. Jahrhundert zu einem Schlagwort der politischen Sprache wurde, doch schwer zu fassen ist. Zedlers Universal-Lexikon definierte 1734 die Demokratie als »eine ordentliche Regiments-Form, in welcher die Majestät bey dem gesammten Volck ist«. Daher werde sie »auch politeia, res publica, ein gemeines Wesen« genannt. Die Monarchie sei der Demokratie grundsätzlich überlegen. Nach dem Mehrheitsprinzip zähle nur »die Vielheit derer Stimmen«, nicht aber »ihre wahre Wichtigkeit«. »Erfahren, klug und wohlgesinnet« seien nur wenige Bürger, die meisten dagegen »böse und unverständig«. Im Jahr der Amerikanischen Revolution bestimmte Krünitz? Oekonomische Encyklopädie die Demokratie als die »Regierungsform einer Republik, da das ganze Volk zusammen die höchste Gewalt besitzt und solche ausübt«. Daher gebe man ihr »in Gemählden [...] einen Granatapfel in die Hand, als das Sinnbild eines an einem Orte versammelten einigen Volks«. Zwar habe allein das Volk die »oberste Macht«, doch hänge der Bestand einer Demokratie davon ab, dass es »seine eigene Macht [...] mäßige«, »in wie weit es die Weisheit und das gemeinschaftliche Beste der Republik erfordert«. Das konservative Staats- und Gesellschafts-Lexikon notierte 1861, sobald man über die Demokratie spreche, »treten die Meinungen in die schärfsten Gegensätze«. Das zeige sich vor allem in den Debatten über das Verhältnis der Demokratie zur Stände- und Geschlechterordnung. Im Zuge der demokratischen Revolutionen seit dem späten 18. Jahrhundert sei eine für den Staat wie die Gesellschaft grundlegende Unterscheidung verwischt worden, nämlich der Unterschied zwischen dem populus beziehungsweise demos als dem Stand der tugendhaften Bürger und Adeligen und dem plebs beziehungsweise dem ochlos als der »große[n] Menge oder dem großen Haufen«. Wie abwegig die Idee der »Staatsherrschaft« von »Allen« ist, zeige sich darin, dass die »reine Demokratie« das »weibliche Geschlecht, als die volle Hälfte Aller nicht ausschließen dürfe«. Im Idealfall entspricht die Demokratie der Staatsverfassung der »Aristokratie«, sofern diese »den Charakter einer bürgerlichen Gemeindeverfassung« trägt. Liberale und Radikale hätten den Begriff des populus dagegen auf den »großen Haufen« ausgedehnt. Das, was ihnen als Demokratie gelte, sei eigentlich nur eine »Ochlokratie«, sprich: die Herrschaft des Pöbels. Das zeige sich vor allem in den dank »Gewerbe und Handel« reichen Städten. Das Geld habe zuerst »die bürgerliche Gesellschaft« aufgelöst und schließlich »der Ochlo­kratie [...] den Weg« gebahnt. Der moralische Kollateralschaden sei verheerend. Die Pöbelherrschaft schwäche die »alten repu­blikanischen Tugenden, der Mäßigung und Bescheidenheit, namentlich des stillen, bürgerlichen Wirkens für das Gemeindewohl«. Über politische Urteilskraft verfüge aber nur die »kleine Minderzahl« der tugendhaften Bürger. Die moderne Demokratie ist die Stunde der Demagogen, die Ochlokratie immer auch die Herrschaft der »Dummen« über die »Klugen«. So breit das Spektrum der Bestimmungen ist und so fremd uns manche Argumente erscheinen mögen, spiegelt sich in ihnen ein nagender Zweifel, der die Idee der Demokratie bis heute begleitet: Verfügt der gemeine Mann, später auch die gemeine Frau, wirklich über die nötige politische und moralische Urteilskraft, Klugheit und intellektuelle Unabhängigkeit, um die komplexen Herausforderungen der Moderne zu bewältigen? Zwar hatten Vordenker der Demokratie sich immer wieder auf die Gefallenenrede des Perikles berufen: freie und gleiche Bürger sind fähig, »die Staatsangelegenheiten völlig hinreichend zu beurteilen, auch wenn« sie sich »anderen Aufgaben« zuwenden. Doch war die Kritik an dieser Annahme nie verstummt. Ist die Quelle aller Staatsgewalt und politischen Legitimität nicht mehr die Gnade Gottes, sondern die freiwillige Zustimmung aller mündigen Bürgerinnen und Bürger, ergibt sich das Problem, auf welchen sozialen und kulturellen Voraussetzungen die demokratische Mündigkeit und Urteilskraft beruht. Sofern die Demokratie ihren Grund in der Idee der bürgerlichen Autonomie und der individuellen Urteilskraft findet, sind Streit und Zwietracht unvermeidlich. Umso dringender stellt sich die Frage, ob die spezifische Staatsform und Verfassungsordnung der Demokratie den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet, auf dem die Legitimität eines Gemeinwesens von Freien und Gleichen beruht. Wie können wir nun heute den Begriff der Demokratie, gerade im Moment der Krise, fassen? Es lassen sich eine weite und eine enge Bestimmung unterscheiden. Weit gefasst gilt die Demokratie als ein universell gültiges normatives Ideal, das sich nicht nur verfassungsrechtlich definieren, sondern inhaltlich umfassend bestimmen lässt. Demokratie wird dabei leicht zu einem säkularen Heilsversprechen, einem »Himmelreich auf Erden« mit »Zuckererbsen für Jedermann«, wie Heinrich Heine 1844 ironisch kommentierte. Sie gilt hier nicht mehr als eine spezifische Herrschaftsform. Stattdessen wird die Demokratie »zu dem, was die Regierungsform unterbricht und zurückweist in Namen einer Gleichheit, die selbst keine Form hat«. Sie kennt weder Herrschaft noch ein Volk oder Lösungen (sprich politische Entscheidungen). So anregend und sympathisch solche Überlegungen sein mögen, hier klingt ein eschatologisches Verständnis vom ewigen Frieden und von bürgerlicher Harmonie an. Der Traum der perfekten Demokratie lebt von der Verheißung. Die biblische Allegorie des friedlichen Zusammenlebens von Raub- und Beutetieren wird hier zum demokratischen Urbild: »Wolf und Lamm sollen weiden zugleich, der Löwe wird Stroh essen wie ein Rind, und die Schlange soll Erde essen« (Jesaja 65,25). Keine Demokratie wird auf den Traum einer besseren Welt ganz verzichten können. Doch zeigt sich in der Krise, dass ein normativ überfrachtetes Versprechen weltlicher Erlösung oft in Enttäuschung und Verdrossenheit endet. Für die widersprüchliche Wirklichkeit der Demokratie bleibt dann nur noch Unverständnis oder Geringschätzung übrig. Bekanntlich schlug die demokratische Aufbruchsstimmung nach dem Ersten Weltkrieg in fast ganz Europa bald in eine Katerstimmung um. Die Konsequenz zog der englische Schriftsteller E. M. Forster im Juli 1938. »Democracy is not a Beloved Republic really, and never will be. But it is less hateful than other contemporary forms of government«, betonte er: »So Two cheers for Democracy: one because it admits variety and two because it admits criticism.« Eine enge Definition beschreibt die Demokratie ebenso minimalistisch wie unbestimmt, um das Versprechen allgemeiner Freiheit und universaler Gleichheit nicht normativ zu überhöhen. Unter dem Eindruck der revolutionären Umbrüche von 1918/19 warb Hans Kelsen für ein nüchternes Verständnis der Demokratie und warnte vor den »politisch Gläubigen«, die »ihre politische Wahrheit [...], wenn nötig, auch mit blutiger Gewalt« durchsetzen. Dagegen plädierte der Staatsrechtslehrer für eine relativistische und pluralistische Auffassung der Demokratie. Wer nicht göttliche Erleuchtung oder »absolute Werte«, sondern »menschliche Erkenntnis« als Grundlage politischer Ordnung gelten lasse, »der kann den zu ihrer Verwirklichung unvermeidlichen Zwang kaum anders rechtfertigen, als durch die Zustimmung wenigstens der Mehrheit derjenigen, denen die Zwangsordnung zum Heile gereichen soll. Und diese Zwangsordnung darf nur so beschaffen sein, dass auch die Minderheit, weil nicht absolut im Unrecht, nicht absolut rechtlos, jederzeit selbst zur Mehrheit werden kann. Das ist der eigentliche Sinn jenes politischen Systems, das wir Demokratie nennen, und das nur darum dem politischen Absolutismus entgegengestellt werden darf, weil es Ausdruck eines politischen Relativismus ist.« Laut Kelsen ist »gerade die Synthese« der liberalen Idee der Freiheit mit dem demokratischen Ideal der Gleichheit für die Demokratie charakteristisch. Damit wandte er sich gegen die lange Tradition, beide Prinzipien gegeneinander auszuspielen. Allerdings sei das Mehrheitsprinzip nicht aus der Idee der Gleichheit, sondern aus der der Freiheit abzuleiten: »Nur der Gedanke, dass - wenn schon nicht alle - so doch möglichst viele Menschen frei sein, d. h. möglichst wenig Menschen mit ihrem Willen in Widerspruch zu dem allgemeinen Willen der sozialen Ordnung geraten sollen, führt auch einen vernünftigen Wege zum Majoritätsprinzip. Das dabei natürlich die Gleichheit als die Grundhypothese der Demokratie vorausgesetzt wird, zeigt sich eben darin, daß nicht gerade dieser oder jener frei sein soll, weil dieser nicht mehr gilt als jener, sondern daß möglichst viele frei sein sollen.« Der Vorteil einer engen Definition, die sich auf minimale Kriterien beschränkt, zeigte sich auf dem Höhepunkt des ideologischen Weltbürgerkriegs um die Idee der Volksherrschaft. Je nüchterner die Bestimmung, desto stärker wirkte sie als Gegengift zu ideologischen Verheißungen. Vor allem in wissenschaftlichen Diskussionen sollte sich ein Vorschlag Joseph Schumpeters aus dem Jahre 1942 als einflussreich erweisen. Die »demokratische Methode«, definierte der Nationalökonom, »ist diejenige Ordnung der Institutionen zur Erreichung politischer Entscheidungen, bei welchen einzelne die Entscheidungsbefugnis vermittels eines Konkurrenzkampfs um die Stimmen des Volkes erwerben«. Ähnlich wie Schumpeter argumentiert auch der Politologe Adam Przeworski. Als Korrektur der liberal-naiven Euphorie nach dem Ende des Kalten Kriegs bestimmte er 1993 die Demokratie als »a system of ruled open-endedness« beziehungsweise aphoristisch als »organized uncertainty«. Mithilfe eines eng gefassten und nüchternen Verständnisses des Begriffs wird es möglich, die Frage offen zu halten, welche konkrete Form eine Demokratie jeweils annehmen kann und soll. Entscheidend ist allein, ob die minimalen Standards gewahrt bleiben, die dieser Bestimmung zugrunde liegen. Die Sprache der Freiheit und der Gleichheit wird zu einer Semantik, »die nicht nur keine höhere, sondern überhaupt keine endgültige Bedeutung akzeptiert«. Zwar müssen wir bei dieser Definition der Demokratie darauf verzichten, ein allgemein gültiges Ideal zu fixieren. Doch ergibt sich dadurch die Chance, sie als ein Experiment mit offenem Ausgang, als eine Reise der Ab- und Umwege zu begreifen. Das unvollendete Projekt der Demokratie als Herrschafts- wie als Lebensform ist nicht auf ein festgelegtes Ziel, sondern an einem offenen Horizont ausgerichtet.

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