Schule der Rebellen - Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand

Schule der Rebellen - Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand

von: Charles King

Carl Hanser Verlag München, 2020

ISBN: 9783446266773

Sprache: Deutsch

512 Seiten, Download: 13800 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Schule der Rebellen - Wie ein Kreis verwegener Anthropologen Race, Sex und Gender erfand



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Baffin Island


Ein halbes Jahrhundert vor Margaret Meads Aufbruch nach Samoa träumte Franz Boas in seiner Heimat von Abenteuern – in den Hügeln und Moorgebieten jener Landstriche, die wir heute Norddeutschland nennen. Zu Hause zu sein war für ihn stets das Schlimmste.1 Sein Lieblingsbuch war Robinson Crusoe, notierte er als Schüler in seinem Tagebuch; es brachte ihn dazu, sich auf eine spätere Expedition in das »dunkelste Afrika« oder »jedenfalls in die Tropen« vorzubereiten.2 Er übte sich in Entbehrungen, indem er große Mengen von Essen vertilgte, das er hasste. Als ein Klassenkamerad in einem nahe gelegenen Fluss ertrank, verbrachte Boas Tage in einem Ruderboot und suchte nach der Leiche – ohne Erfolg.3

Geboren wurde er am 9. Juli 1858 in eine assimilierte jüdische Familie in Minden, einer kleinen Stadt in Westfalen, das damals zum Königreich Preußen gehörte. Jedes Schulkind in Europa kannte diese Heimatprovinz Boas’. Sie hatte einem der wichtigsten Friedensverträge der Geschichte, dem Westfälischen Frieden von 1648, den Namen gegeben. Dieser Vertrag hatte den Dreißigjährigen Krieg beendet und die Grundlagen für die moderne Diplomatie gelegt. Er bildete das Fundament internationaler Rechtsprechung und strukturierte die Welt als ein System souveräner Nationalstaaten. Ordnung, die Begrenzung jeglicher Macht, Rationalität wurden von ihm an als Grundlage des Weltgeschehens angesehen, so wie Philosophen die gleichen Werte als Kern zivilisierten Lebens im Allgemeinen verkündeten.

Selbst in einem relativ rückständigen Ort wie Minden spürten die Menschen der Generation von Boas noch immer das Nachglühen der Aufklärung. Schiller und Goethe waren nur wenige Jahrzehnte zuvor gestorben. Der preußische Naturforscher, Reisende und Philosoph Alexander von Humboldt – »der größte Mann seit der Sintflut«, wie ein Beobachter meinte – bildete, obwohl durch einen Schlaganfall beeinträchtigt, ein lebendes Bindeglied zu den Philosophes des 18. Jahrhunderts.4 Die Ideen, die diese Männer verfochten hatten – vernünftig aufgebaute Debatten, verantwortungsvolle Regierungen, Lebensweisen, die von unvoreingenommenen Standpunkten geleitet wurden –, hatten die größte Welle freiheitlicher Revolutionen inspiriert, die Europa je gesehen hatte.

1848, zehn Jahre vor Boas’ Geburt, waren bewaffnete Aufstände über ganz Europa hinweggerast und hatten vom Atlantik bis zum Balkan autokratische Herrscher bedroht. Studenten, Arbeiter, Intellektuelle und Kleinbauern forderten Gerechtigkeit und Reformen. In den deutschen Königreichen und Fürstentümern kam es zu Demonstrationen und Protesten für Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit und die nationale Einigung. In Paris wurden Barrikaden errichtet; sie beendeten die konstitutionelle Monarchie von König Louis-Philippe. Ungarische und kroatische Patrioten bekämpften ihren Regenten, den Habsburger-Kaiser. Diese Monate der Unordnung, Gewalt und Hoffnung sollten schon bald als »Völkerfrühling« bezeichnet werden. Doch kam bald darauf der Winter. Land für Land erneuerten die Monarchen ihre Macht. Diejenigen, die die »Achtundvierziger« unterstützt hatten, sowohl auf dem Straßenpflaster als auch im Geiste, zogen sich in die Universitäten und freien Berufe zurück oder wurden ins ausländische Exil gezwungen. Die Politik wurde Männern wie Otto von Bismarck überlassen, Preußens Ministerpräsidenten mit dem eisernen Willen.

Ein Rückzug auf das Land war vor allem dann üblich, wenn man zufällig jüdisch war. Preußen war damals ein »Königreich der Flicken«, wie ein zeitgenössischer Reisender meinte, ein Staat mit einem undurchschaubaren Gewirr an Gesetzesnormen, religiösen Beschränkungen, Zunft-Privilegien sowie städtischer und provinzieller Rechtsprechung.5 Mindens jüdische Bevölkerung war wie in vielen anderen Städten Norddeutschlands winzig im Vergleich zur Anzahl der Protestanten. Wie fast überall in Europa war Antisemitismus Alltag. Doch selbst in dieser Zeit der erneuerten Autokratie konnten gut situierte Juden ihrer Stellung in der Gesellschaft einigermaßen sicher sein. Für die Familie von Meier und Sophie Boas, Franz’ Eltern, war ihre Zugehörigkeit zum Bürgertum – und also einer städtischen, gebildeten, freigeistigen Existenzform – ebenso lebensbestimmend wie ihre Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit.

Juden lebten wortwörtlich und symbolisch im Herzen städtischer Betriebsamkeit, hatten ihre Stadthäuser im Zentrum und ihre Geschäfte an den Hauptstraßen. Sie waren Mindens Einzelhändler, Bankiers, Handwerker und Freiberufler, und sie organisierten sich bereits lange als eigene Gemeinschaft, ehe Preußen ihnen 1869 endlich volle Rechte als Stadt- und Staatsbürger gewährte. Um die Synagogen in Betrieb zu halten, zahlten sie Steuern und beachteten die jüdischen Feiertage, feierten zugleich aber auch – wie die Familie Boas – Weihnachten.6 Sie waren Teil eines Netzwerks über Staatengrenzen hinweg, das von Handel, Reisen und einem über lange Zeit hinweg erworbenen Kosmopolitismus geprägt war. Meier, anfangs nur ein kleiner Kornhändler, hatte reich genug geheiratet, um in diese Welt hineinzugelangen. Er verlegte seine Karriere auf das Familiengeschäft, das Sophie, geborene Meyer, als Mitgift in die Ehe mitgebracht hatte: den Export von feinem Leinen, Tischwäsche und Möbeln für die Firma Jacob Meyer in New York.7

Als einziger Sohn in einem Haushalt mit vielen Schwestern war der junge Franz ein Grund zur Verzweiflung für seinen zupackenden Vater und ein Sorgenkind für seine in ihn vernarrte Mutter. Er neigte dazu, in seinen eigenen Gedanken zu leben. Er konnte depressiv sein und hatte oft Kopfschmerzen, war aber auch abenteuerlustig und mutig, wenn ihm etwas wirklich wichtig war.8 Als Angehöriger einer halbwegs wohlhabenden Familie kam er auf das Gymnasium mit den Schwerpunkten klassische Sprachen und Philosophie. In Latein, Französisch und Mathematik hatte er gute Noten, in Geografie sogar sehr gute.9 Er war ein Kind, das die Lehrer vielleicht als aufgeweckten, aber nicht als fleißigen Schüler bezeichneten; ein Junge, der voller Begeisterung von einer Sache zur nächsten stürzte und sich selten für längere Zeit auf eine einzige einließ.

Habe er eine Haupttendenz gehabt, meinte er später als Resümee seiner Schulkarriere, dann sei es die gewesen, systematische Vergleiche zwischen den Naturerscheinungen anzustellen, die er beobachtete.10 Als die Familie aus den Sommerferien auf Helgoland zurückkehrte, das damals britische Kronkolonie war, versuchte Franz am deutschen Zollbeamten vorbei eine ganze Wagenladung von Steinen einzuführen, die er zu geologischen Forschungszwecken gesammelt hatte.11 Er trug die Kadaver kleiner Tiere nach Hause, die er im Wald fand.12 Seine Mutter gab ihm einen Topf, sodass er sie abkochen und die Knochen für weitere Studien benutzen konnte.

Als die Zeit kam, an die Universität zu denken – man erwartete von Jungen aus seiner Gesellschaftsschicht, dass sie studierten, wenn sie nicht dazu überredet werden konnten, in das Familiengeschäft einzusteigen –, schwankte er und machte Ausflüchte. Er lehnte den Vorschlag seines Vaters ab, Arzt zu werden. Stattdessen entschied er sich, Mathematik oder Physik zu studieren, auch wenn er wenig Ahnung hatte, welche Arbeit am Ende daraus resultieren konnte. Er verhielt sich wie viele talentierte Jugendliche und wollte die Dinge einfach nur so arrangieren, dass er nicht »unbekannt und unbeachtet« bliebe, wie er einer seiner Schwestern schrieb.13 1877 immatrikulierte er sich an der Universität Heidelberg, dem Oxford der deutschen Universitäten mit seinen verträumten Turmspitzen über der alten Stadt. Seinen ersten Abend beging er extravagant: Er mietete eine Kutsche, die ihn vom Bahnhof abholte; danach bestellte er sich ein vollständiges Diner in ein Hotel.14

Deutschland war inzwischen zu einem geeinten Reich geworden, vereinigt nur wenige Jahre zuvor infolge des Deutsch-Französischen Krieges. Als Junge hatte Boas mit angesehen, wie eine Militärkapelle uniformierte Soldaten bei deren Aufbruch zur weit entfernten Front in Frankreich begleitete.15 Nun konzentrierten junge Männer wie er, die so viele Geschichten von Kampfesruhm gehört hatten, ihre Universitätsjahre auf ganz andere Felder der Ehre. Die Studenten wurden oft vom Anfang ihrer Universitätszeit an Mitglieder in den studentischen Verbindungen, deren einzige wirkliche Aufgabe darin bestand, die konfliktreichen Beziehungen zu den vielen anderen derartigen Verbindungen zu bewältigen. Gut geölt durch Alkohol, auf dem Kopf eine flotte Studentenmütze und zuweilen mit scharfen Säbeln bewaffnet, lebten sie in einer Gesellschaft, in der jede persönliche Kränkung nur durch einen inszenierten Kampf bereinigt werden konnte.

Als einmal einige Nachbarn sich laut über das Klavierspiel eines Freundes beklagten, ließ Boas den Streit eskalieren und nahm die Aufforderung zum Duell an. Er schlitzte die Wange seines Gegners auf – ein glücklicher Hieb, da seine einzige Unterweisung in das Fechten einige improvisierte Lehrstunden mit zwei Freunden gewesen waren –, kam aber selbst auch nur mit einem kleinen Stück fehlender Kopfhaut davon. Dennoch wurde davon ausgegangen, dass er gewonnen habe.16 Beide Duellanten zogen mit dem davon, um dessentwillen junge Männer damals die Universität besuchten: mit einem Schmiss, so stolz zur Schau getragen wie die Brokat-Uniform eines Husaren. Diese Mensur war...

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