Beethoven - Der einsame Revolutionär

Beethoven - Der einsame Revolutionär

von: Jan Caeyers

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406749421

Sprache: Deutsch

849 Seiten, Download: 8825 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Beethoven - Der einsame Revolutionär



Prolog


Mecheln, Samstag, 29. März 1727. Michiel van Beethoven sinnt über sein Leben nach. Vergangene Woche ist er dreiundvierzig geworden, das Alter naht, und er sehnt sich nach neuen Aufgaben. Seit zwei Jahrzehnten steht er jeden Morgen in aller Herrgottsfrühe auf, um in der Bäckerei zu arbeiten, die er von seinem Schwiegervater übernommen hat. Doch allmählich wird er dessen überdrüssig. Größere Befriedigung verschafft ihm in den letzten Jahren der Kauf von Häusern, hier in Mecheln, der Stadt, in der sein Vater sich vor fünfzig Jahren niederließ. Zu dem Haus in der Jodenstraat konnte er noch zwei andere Häuser in derselben Straße erwerben, wenn auch nur durch Aufnahme einer ziemlich großen Hypothek. Außerdem hat er zwei Häuser von Verwandten väterlicherseits geerbt, das Moleken in der Steenstraat und Den Bonten Os am Leermarkt, und zwei weitere von seinen Schwiegereltern, den Meersman und die Apollonia Gilde. Ein drittes, die Molenkarre, wird ebenfalls bald in seinen Besitz übergehen. Mit seiner Vorliebe für den Immobilienerwerb tritt er in die Fußstapfen seines Urgroßvaters Hendrik, der hundert Jahre vor ihm sehr aktiv darin war, wenn auch auf niedrigerem Niveau: Hendrik hatte es zum bäuerlichen Großgrundbesitzer in Boortmeerbeek gebracht, einem Dorf zwischen Mecheln und Löwen.

Am meisten verdient Michiel van Beethoven allerdings mit dem mehr oder weniger legalen An- und Verkauf alter Möbel und Gemälde, den er weiter ausbauen möchte. Doch das reicht ihm noch nicht: Er plant, in den lukrativen Handel mit Mechelner Spitze einzusteigen, obwohl er um die hohen Risiken weiß. Um damit wirklich gut zu verdienen, muss man nämlich billigere Spitze aus Brüssel und Kortrijk einführen, was hohe Investitionen und Geschäfte mit unsicheren Wechseln erfordert. Aber er ist entschlossen, diese Risiken einzugehen; er will aufsteigen, will endlich zu den vermögenden Bürgern der Stadt gehören.

Außerdem hat Michiel van Beethoven noch eine alte Rechnung mit der Geschichte zu begleichen, und das treibt ihn an. Vor mehr als hundert Jahren wurde seine Ururgroßmutter Josyne van Beethoven auf dem Grote Markt in Brüssel verbrannt, weil Nachbarn sie der Hexerei bezichtigt hatten. Sie war eine außergewöhnliche Frau, emanzipiert, selbstbewusst, idealistisch und von einer erstaunlichen geistigen Offenheit und Selbständigkeit, mit der sie sich in einer Zeit, in der Glaube, Leichtgläubigkeit und Aberglaube eng zusammengehörten, keine Freunde machte. Paradoxerweise wurde sie gerade wegen dieser Eigenschaften verdächtigt, einen Pakt mit dem Teufel geschlossen zu haben, und eine kleine Intrige neidischer Dorfbewohner reichte aus, um die nötigen «Beweise» zusammenzutragen. Der mörderische Cocktail aus Ränke, übler Nachrede und Klatsch tat seine Wirkung. Josyne van Beethoven wurde verhaftet; nach anfänglichem Leugnen, das man nur als weiteren Beleg für ihr Bündnis mit dem Teufel auffasste, wurde sie durch schwere Folter zum «Geständnis» gezwungen und öffentlich hingerichtet. Zunächst sah es so aus, als würden sämtliche Besitztümer ihres fassungslosen und verzweifelten Ehemanns beschlagnahmt werden, aber dank einer Kombination aus diplomatischem Geschick und Beethoven’scher Dickköpfigkeit wurde wenigstens das ökonomische Fiasko gerade noch abgewendet.

Diese traumatische Erfahrung hat sich unauslöschlich ins Gedächtnis der Beethovens gegraben und ihnen ein hartnäckiges Misstrauen gegenüber den Mitmenschen eingeimpft. Andererseits ist die Erinnerung daran auch eine Kraftquelle. Ein Beethoven glaubt unerschütterlich an seine Überzeugungen und Ideale. Das ist er der Stammmutter und Märtyrerin Josyne schuldig.

In diesem Geist hat Michiel van Beethoven auch seine beiden Kinder erzogen. Der ältere Sohn Cornelius weckt große Erwartungen. Er ist vernünftig und pflichtbewusst, hat eine natürliche Begabung für alles Geschäftliche und wird mit Sicherheit seinen Weg machen. Der jüngere, Louis, ist der Außenseiter der Familie. Als Sechsjähriger wurde er wegen seiner schönen Stimme in die Chorknabenschule Het Koralen Huis an der Sankt-Rombouts-Kathedrale in Mecheln aufgenommen. Nach dem Stimmbruch seines Sohnes hat Michiel den Organisten der Kathedrale, Antoine Colfs, als Privatlehrer engagiert, damit Louis seine Fertigkeiten im Orgelspiel und Basso Continuo vervollkommnen kann. Denn eines steht fest: Wenn er Musiker werden will, muss er auch Ehrgeiz haben. Mit einer Organistenstelle an der erstbesten Pfarrkirche darf er sich nicht zufriedengeben.

*

Wien, Donnerstag, 29. März 1827. Ludwig van Beethoven ist vor drei Tagen gestorben; heute wird er beerdigt. Weil man mit großem Andrang auch von außerhalb rechnet, ist die Feierlichkeit auf den Nachmittag verschoben worden. Die Wirklichkeit übertrifft sämtliche Erwartungen. Trotz der Kälte – an manchen Stellen liegt noch Schnee – sind schätzungsweise zwanzigtausend Menschen von vielerlei Rang und Stand in die Alservorstadt gekommen, denn dort ist im Innenhof des Schwarzspanierhauses, am Glacis vor dem Schottentor, der Sarg aufgestellt. Am Eingang herrscht ein solches Gedränge, dass Polizisten für Ordnung sorgen müssen. Vier Posaunisten und sechzehn Sänger führen eine für diesen Anlass geschriebene Bearbeitung des Equale a quattro Tromboni (WoO 30) auf, das Beethoven 1812 in Linz für den Allerseelentag komponiert hatte. Darauf folgt der Trauermarsch aus der Klaviersonate As-Dur op. 26 in einer Fassung für Bläser. Die Musik, die in Beethoven’scher Art dumpf, dunkel und schauerlich klingt, geht den aufgewühlten Zuhörern unter die Haut.

Abb. 1  
Beethovens Leichenzug vor dem ehemaligen Schwarzspanierkloster in Wien, 1827 –Aquarell von Franz Xaver Stöber (1795 – 1858)

Um halb vier an diesem Nachmittag setzt sich unter einem hellblauen Frühlingshimmel der majestätische Trauerzug in Bewegung. Auf die Priesterschar folgt der reich geschmückte Sarg, getragen von acht Sängern der Hofoper. Acht Kapellmeister halten weiße Atlasbänder, die über den Sarg gelegt sind. Die Bahre ist von etwa vierzig Freunden und Künstlerkollegen umringt – Dichtern, Schauspielern, Komponisten und anderen Musikern –, unter ihnen Schubert, Czerny, Schuppanzigh und Grillparzer. Sie sind in feierliches Schwarz gekleidet, tragen schwarze Handschuhe, halten in der linken Hand eine weiße Lilie und in der Rechten eine mit Blumen verzierte Fackel. Ihnen folgt eine Abordnung von Schülern des Konservatoriums – die Schulen sind zum Zeichen der Trauer heute geschlossen; eine beeindruckende Menge angesehener Persönlichkeiten beschließt den Zug.

Die Karawane kann sich nur mit größter Mühe einen Weg durch die wogende Masse bahnen, für die fünfhundert Meter bis zur Dreifaltigkeitskirche der Minoriten in der Alsergasse braucht sie anderthalb Stunden. Nach der Einsegnung wird Beethovens Leichnam auf einem von vier Pferden gezogenen, prachtvoll geschmückten Leichenwagen zum Währinger Ortsfriedhof gefahren, etwa zweihundert Kutschen bilden die eindrucksvolle Eskorte. Am Tor des Friedhofs trägt der Schauspieler Heinrich Anschütz feierlich und ergriffen die von Grillparzer geschriebene Grabrede vor. Bildreich, elegant und mit wohldosiertem Bombast und Pathos rühmt Grillparzer den Verstorbenen im Namen der Nation und aller deutschsprachigen Völker. Beethoven, der «von nun an unter den Großen aller Zeiten» stehe, «unantastbar für immer», sei «der Erbe und Erweiterer von Händel und Bachs, von Haydn und Mozarts unsterblichem Ruhme». Wer nach ihm komme, prophezeit der Dichter, werde nicht fortsetzen können, sondern anfangen müssen, weil sein Vorgänger nur aufhörte, «wo die Kunst aufhört». Er schließt mit Worten des Trostes für die Anwesenden: «Erinnert euch dieser Stunde und denkt: wir waren dabei, als sie ihn begruben, und als er starb, haben wir geweint!»[1]

Die Menge lauscht atemlos, viele weinen. Der nun mit drei Lorbeerkränzen bedeckte Sarg wird hinabgelassen, anschließend werden Hunderte für diesen Anlass gedruckte Blätter mit Erinnerungsgedichten von Castelli und Schlechta verteilt. Als die letzten Trauernden den Friedhof verlassen, geht die Sonne unter.

*

Löwen, Donnerstag, 29. März 2007. Voller Verwunderung stelle ich mir das Schauspiel vor, das auf den Tag genau vor hundertachtzig Jahren in der Gegend des Wiener Schottentors aufgeführt wurde. Die Zahl von zwanzigtausend Beteiligten mag etwas zu hoch gegriffen sein, doch Massenandrang herrschte zweifellos, und auch die prunkvolle Inszenierung machte dieses Ereignis zu etwas ganz Außergewöhnlichem. «A...

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