Der Triumph der Ungerechtigkeit - Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert

Der Triumph der Ungerechtigkeit - Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert

von: Emmanuel Saez, Gabriel Zucman

Suhrkamp, 2020

ISBN: 9783518765616

Sprache: Deutsch

260 Seiten, Download: 3535 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Triumph der Ungerechtigkeit - Steuern und Ungleichheit im 21. Jahrhundert



Einleitung
Eine Erneuerung der fiskalischen Demokratie


Der Abend des 26. September 2016 begann aussichtsreich für Hillary Clinton. Im ersten Fernsehduell mit Donald Trump, dem Reality-TV-Star, der als Sieger aus den Vorwahlen der Republikanischen Partei hervorgegangen war, hatte die ehemalige US-Außenministerin die Oberhand. Trump, nervös und aggressiv, fiel seiner Kontrahentin immer wieder ins Wort. Clinton dagegen war gut vorbereitet und entspannt. Sie konnte einen Punkt nach dem anderen für sich verbuchen – bis die Diskussion plötzlich auf das Thema Steuern kam.

Trump hatte mit einer seit den frühen siebziger Jahren etablierten Tradition gebrochen und sich geweigert, seine Steuererklärung offenzulegen. Aufgrund einer laufenden Prüfung durch die US-Bundessteuerbehörde Internal Revenue Service (IRS), so behauptete er, könne er seine Finanzen nicht öffentlich machen. Clinton versuchte, den Milliardär aus der Reserve zu locken. Sie wollte ihn dazu bringen, darüber zu sprechen, wie wenig Steuern er die letzten Jahre bezahlt hatte: »Die einzige seiner Steuererklärungen, die jemals jemand zu Gesicht bekommen hat, war die aus der Zeit, als er sich um eine Casinolizenz beworben hat, und die zeigt, dass er überhaupt keine Bundeseinkommensteuern gezahlt hat.« Trump gab das offen und voller Stolz zu: »Das zeigt, wie smart ich bin.«1 Clinton ging auf diese Äußerung nicht ein. Trockene Ausführungen zu den klug ausgearbeiteten, sorgfältig abgewogenen und genau durchdachten technokratischen Korrekturen, die ihre Pläne für die nationale Steuergesetzgebung vorsahen, hätten sich in diesem Augenblick nicht durchgesetzt.

Politisch gesehen war »Das zeigt, wie smart ich bin« eine raffinierte Aussage. Dass einer der reichsten Männer des Landes nach eigenem Bekunden überhaupt keine Steuern zahlte, war so absurd, dass es Trumps zentrale Aussage im Wahlkampf bekräftigte: Das Washingtoner Polit-Establishment hatte das Land im Stich gelassen. Die Steuergesetzgebung war, ebenso wie alles andere, rigged, manipuliert. In Trumps Einwurf hallten die Worte von Präsident Ronald Reagan wider, der die Steuergesetze in einer berühmten Wendung als »täglichen Raubüberfall« bezeichnet hatte.2 Die rücksichtslose Verfolgung von Eigeninteressen kommt sowohl in Trumps als auch in Reagans Augen dem Wohlstand aller zugute. Der Kapitalismus spannt die menschliche Gier vor den Karren des Gemeinwohls. Steuern sind ein Hemmnis, und sie zu vermeiden ist daher richtig.

Zugleich demonstriert der Satz »Das zeigt, wie smart ich bin« das Paradoxe an dieser Ideologie. Ein rücksichtsloses Eigeninteresse zerstört die Normen des Vertrauens und der Kooperation, die im Zentrum jeder prosperierenden Gesellschaft stehen. Trump selbst wäre nichts ohne die Infrastruktur, die seine Wolkenkratzer mit dem Rest der Welt verbindet, das Kanalsystem, über das ihre Abwässer ablaufen, die Lehrer, die seinen Rechtsanwälten das Lesen beigebracht haben, oder die Ärzte und die öffentliche Forschung, die ihn gesund halten, ganz zu schweigen von den Gesetzen und Gerichten, die sein Eigentum schützen. Was Gemeinschaften aufblühen lässt, ist nicht der ungezügelte Wettbewerb, sondern Kooperation und gemeinschaftliches Handeln. Ohne Steuern gibt es keine Kooperation, keinen Wohlstand, kein gemeinsames Schicksal, ja nicht einmal eine Nation, die eines Präsidenten bedürfte.

Trumps Prahlerei offenbarte einen bestimmten Defekt der US-amerikanischen Gesellschaft: Es ist so selbstverständlich geworden, dass die Wohlhabenden nichts zu den öffentlichen Kassen beitragen, dass ein Präsidentschaftskandidat dies unumwunden zugab und seine Gegnerin für dieses Problem keine Lösung anbieten konnte. Das Steuersystem des Landes – die wichtigste Institution jeder demokratischen Gesellschaft – hat versagt.

Wir haben dieses Buch mit zwei Zielen im Sinn geschrieben: erstens, um zu verstehen, wie genau die USA in diese missliche Lage geraten sind, und zweitens, um dazu beizutragen, dieses Problem zu beheben.

Der Triumph der Ungerechtigkeit


Das Eingeständnis des Kandidaten Trump ist nur ein anekdotischer Beleg für eine neue Ungerechtigkeit in den Vereinigten Staaten. Selbst noch angesichts explodierender Einkommen und in einer Zeit, da sie die Früchte der Globalisierung ernteten und ihre Vermögen auf immer neue Höchststände kletterten, sanken die Steuersätze für die wohlhabendsten US-Amerikaner. Derweil machten Arbeiter die gegenteilige Erfahrung: Die Einkommen stagnierten, Arbeitsbedingungen verschlechterten sich, die Schuldenlast wuchs, und die Steuern wurden erhöht. Seit 1980 hat das Steuersystem die Gewinner in der Marktwirtschaft reicher und diejenigen ärmer gemacht, die vom wirtschaftlichen Wachstum nur wenig profitieren konnten.

Jede Demokratie muss über die angemessene Größe des Staatsapparates und den idealen Grad der Steuerprogressivität debattieren. Aufgrund ihrer geschichtlichen und internationalen Erfahrungen sowie von Statistiken und abstrakten Schlussfolgerungen verändern natürlich sowohl Einzelpersonen als auch ganze Länder manchmal ihre Ansichten dazu. Aber waren die Veränderungen in der Steuerpolitik während der letzten Jahrzehnte das Produkt einer solchen informierten Deliberation? Hat der massive Rückgang der Besteuerung der Ultrareichen das widergespiegelt, was die US-Bürger als Gesellschaft wollten?

Wir bezweifeln das. Einige dieser Umbrüche waren das Resultat bewusster Entscheidungen. Viele andere wurden hingegen passiv hingenommen: etwa der Aufstieg einer Steuervermeidungsindustrie, die Einkommen und Vermögen verschleiert, die im Zuge der Globalisierung entstandenen neuen Steuerschlupflöcher, die von multinationalen Konzernen genutzt werden, oder die Abwärtsspirale des internationalen Steuerwettbewerbs, die manche Länder dazu gebracht hat, ihre Steuersätze einen nach dem anderen drastisch zu reduzieren. Die meisten Veränderungen in der Besteuerung sind nicht einem plötzlichen populären Verlangen nach Entlastungen für die Reichen geschuldet, sondern vielmehr Kräften, die sich ohne Mitsprache der Wähler durchgesetzt haben. Ob Steuersenkungen nun positive Auswirkungen auf die Wirtschaft haben oder nicht: Die Umwälzungen der vergangenen Jahrzehnte sind jedenfalls im Großen und Ganzen nicht das Ergebnis rationaler Entscheidungen, die von einer informierten Bürgerschaft diskutiert und gefällt worden wären. Der Triumph der Steuerungerechtigkeit ist vor allem eine Absage an die Demokratie.

Das erste Ziel dieses Buches besteht darin, die Geschichte dieser großen Transformation zu erzählen. Unsere Geschichte ist keine von links gegen rechts. Sie handelt nicht vom Triumph konservativer Verfechter eines schlanken Staates über Progressive, die den Wohlstand umverteilen wollen, sondern davon, wie das durch den New Deal eingeführte Steuersystem untergraben wurde. Bei jedem Schritt seines Niedergangs stoßen wir auf dasselbe Muster. Es beginnt mit einer massiven Zunahme der Steuervermeidung, setzt sich damit fort, dass die politischen Entscheidungsträger, paralysiert durch vermeintlich übermächtige Gegner (Methoden der Steuerreduktion, Globalisierung, Steueroasen, finanzielle Intransparenz), diese Strategien der Steuervermeidung nicht wirksam bekämpfen, und endet damit, dass Regierungen die Steuersätze für die Wohlhabenden drastisch reduzieren unter dem Vorwand, die Reichsten unter uns zu besteuern sei unmöglich geworden.

Um diese Ungerechtigkeit und die Entscheidungen (sowie Nicht-Entscheidungen), die zu ihrem Siegeszug beigetragen haben, zu verstehen, haben wir eine eingehende wirtschaftliche Untersuchung vorgenommen. Unter Rückgriff auf Statistiken zu einem ganzen Jahrhundert haben wir Schätzungen aufgestellt, wie viele Steuern jede gesellschaftliche Gruppe, von den Ärmsten bis zu den Milliardären, in den Vereinigten Staaten seit 1913 gezahlt hat. Unsere Datenreihen umfassen alle auf Bundes-, bundesstaatlicher und lokaler Ebene entrichteten Steuern: die Bundeseinkommensteuer natürlich, aber auch die von den Bundesstaaten erhobene Einkommensteuer, unzählige Arten von Umsatz- und Verbrauchsteuern, die...

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