Landkarte für Verliebte und andere Verirrte

Landkarte für Verliebte und andere Verirrte

von: Johanna Lindbäck

Verlag Urachhaus, 2020

ISBN: 9783825162092

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 2349 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Landkarte für Verliebte und andere Verirrte



JULIA


Als sie auf die Brücke rauffuhren, die das Festland mit den Inseln verband, schickte sie Isak eine SMS. »Von jetzt an im Flaschenpost-Modus. Kuss!«

Es war erst zwanzig nach acht, also entweder schlief er, oder sie waren dabei, das Auto zu packen, um dann auch wegzufahren. Aber später, wenn er es sehen würde, dann würde er irgendwas in der Art von »Go for Dalarö!« oder »Kuss!« zurückschreiben. Schwindelerregend.

Dass sie in einem Auto saß und mit einem Typen textete, der ihr Freund war, und dass dieser Freund Isak war. Dass sie ihm Sachen wie »Kuss!« schrieb. Dass sie gerade noch Mittsommer zusammen gefeiert hatten. Als ob das total normal wäre. Julia hatte sich noch nicht daran gewöhnt. Morgen hatten sie Zweiwöchiges. In diesen zwei Wochen hatten sie sich siebenmal getroffen, aber immer noch kribbelte es vor Aufregung, wenn sein Name auf dem Handydisplay auftauchte. Erst mal, weil er es war, und dann, weil er möglicherweise enttäuscht klingen könnte, oder noch schlimmer: verärgert, und weil er sagen könnte: »Wir müssen mal reden, richtig?«. Weil er alles kapiert haben könnte.

»Jetzt wird es vielleicht weniger.« Ihr Vater nickte zum Auto vor ihnen, das plötzlich über einen Meter weiterfahren konnte.

Es würde nicht weniger werden, und das wussten sie beide. Obwohl es Montag nach Mittsommer war und der Urlaub für viele sicher längst begonnen hatte, stand hier alles. Das sollte eigentlich niemanden mehr schockieren, vor allem nicht, wenn derjenige fünfzehn Jahre lang über die Skurubron gefahren war. Hier war immer Stau. Trotzdem hatte Papa darauf bestanden, dass sie im Morgengrauen aufstanden, um zeitig loszukommen. Soll heißen, genau zur morgendlichen Rushhour. Jetzt saß er da und seufzte abwechselnd und trommelte ungeduldig aufs Lenkrad, während sie sich im Halbmetertakt vorwärtsschoben.

»Kannst du damit nicht mal aufhören?«, bat sie. »Was soll eigentlich der Stress? Wir haben doch keinen Termin.«

»Ne, klar … Ich will einfach ankommen. Und dann müssen wir noch einkaufen, und …«

Julia sagte nichts, sondern versuchte ruhig zu atmen und sich nicht aufzuregen. Ließ den Blick über die Autos um sie herum wandern, über das Wasser, den Skurusund und die schlossigen Villen mit Ufergrundstück. Astrid wohnte auch in so einem Haus, das man von hier aus aber nicht sehen konnte.

Astrid ist scheißegal. Es sind Ferien. Freu dich. Denk an Isak. Mhm, supersüß. Denk an ihn.

»Muss dieses Jahr draußen irgendwas gemacht werden? Streichen oder so?«, fragte Julia.

»Doch, ich hatte vor, den Schuppen zu streichen.«

»Das kann ich machen.«

Ihr Vater sah sie erstaunt an. »Ach so? Ja, klar.«

Julias großer Bruder Arvid beklagte sich immer, dass ihre Eltern das Konzept Ferien nicht begreifen würden. Er hingegen tat das und wollte nicht »wie ein armer Irrer schuften«, wenn er mal frei hatte. Arvid fand, dass er und Julia, sowie sie draußen am Sommerhaus ankamen, mit einer anstrengenden Sache nach der anderen zugeknallt wurden.

»Ja, ich habe Lust, was zu arbeiten«, erklärte sie nun. »Holz hacken oder den Graben freischaufeln oder was in der Art. Wovon man hinterher richtig fertig ist.«

So fertig, dass man abends nicht mehr wach liegen und grübeln kann. Nicht einmal über eine supersüße Person. Man fällt einfach ins Bett. Der Zustand wäre so schön.

Ihr Vater nickte. »Wir finden bestimmt was von dem Kaliber.« Dann legte er ihr den Arm um die Schulter. »Fühlt sich doch trotzdem gut an, mal rauszukommen, oder, mein Schatz?«

Trotzdem. Er und Mama meinten, sie wäre enttäuscht. Und ja, das war sie schließlich auch, aber nicht wegen dem, was sie glaubten. Obwohl, schon wegen dem. Auch. Plus wütend. Plus Schnauze voll. Und traurig.

Der Plan war ja gewesen, dass Julias beste Freundin Karin diese Woche mitkommen sollte. Genau wie sie in den letzten sechs oder sieben Jahren mitgekommen war. In der guten alten Zeit, als das eine Tradition war, die keine von ihnen missen wollte, nannte Karins Vater das immer ihre »Sommerlagerwoche«. Zu Beginn des Sommers immer eine gemeinsame Woche in Julias Sommerhütte, bevor Karin mit ihrer Familie in Urlaub fuhr.

Jetzt, in der bösen neuen Zeit, war Karin keine beste Freundin mehr. Julia und sie hatten seit dem letzten Schultag nichts voneinander gehört, und nicht mal da hatten sie miteinander geredet. Karin hatte nur ein kurzes und pflichtschuldiges »Tschüss« von sich gegeben und war abgehauen. Ihr letztes wirkliches Gespräch hatte vor anderthalb Monaten stattgefunden, genauer gesagt, vor dreiundvierzig Tagen. Vier drei. Das war total krank. Noch nie zuvor hatten sie sich eine so lange Zeit nicht gesprochen. Andererseits hatte Julia auch noch nie einen Freund gehabt. Und definitiv keinen Isak.

Am Samstag war Karin für eine Woche Mallorca zusammen mit ihrer Mutter und ihrer neuen besten Freundin Astrid plus deren Mutter in ein Flugzeug gehüpft. Eine »Mädelstour« anstelle der Sommerlagerwoche. Die Reise war ein Geschenk dafür, dass Karin und Astrid die neunte Klasse abgeschlossen hatten, so hart gekämpft hatten, sich selbst so viel wert waren, bla, bla, bla. Julia hatte auch die Neunte abgeschlossen und hatte auch verdammt hart gekämpft, und sie war es sich vielleicht auch total wert, aber sie kriegte keine herrlichen Sommerreisen.

»Laut Vorhersage wird es angeblich mindestens eine Woche schön und warm, wir werden also bestimmt baden gehen können«, sagte ihr Vater in dem aufmunternden Ton, den er immer anschlug, wenn er nicht zu offensichtlich tröstend, sondern eher normal wirken wollte. Und als ob das mit dem Baden eine Aktivität wäre, die er sich jetzt im Auto ausgedacht hätte. Wow, da gibt es bestimmt einen Strand, und weißt du was, da könnten wir doch baden! Als ob sie das nicht jeden Sommer machen würden. Und als ob nicht alle in diesem Auto wüssten, dass das Wasser noch ein paar Wochen lang eiskalt sein würde. Da spielte es überhaupt keine Rolle, ob die Sonne schien, es würde vor Mitte Juli doch keine erträgliche Badetemperatur geben. Frühestens. Bis dahin blieb das Untertauchen mehr ein Überlebenstraining als ein herrliches Bad. Richtig herrlich baden – das machte man auf Mallorca.

»Hm«, knurrte Julia nur. »Sollen wir dann auch die Farbe für den Schuppen kaufen, oder gibt es die schon?«

»Wir müssen wohl welche kaufen.«

»Heute?«

»Wenn du gleich loslegen willst?«

»Will ich.«

»Siehst du, wie gut, dass wir früh losgefahren sind.« Er lächelte sie an. »Jetzt können wir nämlich noch bei Fredells vorbeifahren.«

Irgendwie fühlte es sich doch auch schön an, auf dem Weg nach Dalarö zu sein. Die erste Woche, sie und Papa. Nächste Woche fing Mamas Urlaub an. Normalerweise würde das Julia jetzt schon ungeduldig machen. Nur sie und die Eltern, zwei Wochen lang in der Hütte. Dem Ort, an dem nichts los war. Niemals. Man mähte den Rasen, reparierte irgendwas auf dem Grundstück oder am Haus, badete, grillte, las Bücher, döste in den Liegestühlen – oder drinnen auf den Sofas, falls es bewölkt war –, trank Kaffee, ging früh ins Bett. Und am nächsten Tag dasselbe von vorn. Und am übernächsten, und am überübernächsten. Jahr um Jahr. Keine Variation. Sie langweilte sich immer so schrecklich, wenn sie ohne Karin da war.

In diesem Sommer war es genau das, wonach sie sich sehnte. Sie hatte sich selbst dafür entschieden, jetzt mit Papa mitzufahren, anstatt zu Hause zu bleiben und auf Mama zu warten, die noch eine Woche arbeiten musste. Was könnte sie denn da schon tun? Rumsitzen und einsam die Wände anstarren? Da war es auf Dalarö viel besser.

Hazel Grace in Das Schicksal ist ein mieser Verräter sagt, dass sie sich in Augustus Waters auf dieselbe Weise verliebt hat, wie man einschläft. Erst langsam, und dann alles auf einmal. Bisher war Julia mit Isak in der langsamen Phase gewesen, und das war okay. Sie waren vollauf mit Schulabschluss, Fußballcamps und allen möglichen anderen Dingen beschäftigt gewesen.

Es machte nichts, dass die Dinge in der falschen Reihenfolge passierten, wenn man sie nur zurechtrückte, und darum ging es in diesem Sommer. Dalarö war der perfekte Ort. Lahmes Netz, alter, träger Trott und keine anderen Menschen, mit denen man was unternehmen konnte. Dieses Jahr nicht mal Arvid. Mit anderen Worten, fantastische Voraussetzungen, sich nach allem, was passiert war, erst mal zu entspannen und durchzuatmen. Anfangen, es zu verstehen. Und sich dann zu langweilen. Anfangen, Sehnsucht zu haben. Isak zu...

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