Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? - Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten

Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? - Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten

von: Otto Kernberg, Manfred Lütz

Verlag Herder GmbH, 2020

ISBN: 9783451821127

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 917 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Was hilft Psychotherapie, Herr Kernberg? - Erfahrungen eines berühmten Psychotherapeuten



1. Was ist die Seele, Herr Kernberg? –
»Otto, Du Arschloch!«. Erlebnisse eines alten männlichen Kängurus


Manfred Lütz: Professor Kernberg, Sie behandeln seelische Erkrankungen. Was ist die Seele für Sie?

Otto Kernberg: Für mich ist die Seele alles, was der Mensch erlebt, was er als etwas von ihm stammend erkennt, Gedanken, Wünsche, Fantasie, Erinnerungen, Gefühle, Pläne, moralische Einstellungen, Ideale …

Aber gibt es sie wirklich? Kann man sie fassen? Man hat sie ja mal im Zwerchfell lokalisiert oder im Gehirn …

Die Seele ruht auf biologischen Voraussetzungen, auf Gehirnstrukturen und Neurotransmittern, die in einem gegebenen Moment die Fähigkeit zeigen, zu fühlen. Also wir fühlen, und gleichzeitig entdecken wir im Laufe der Zeit, dass wir es sind, die da fühlen, dass dieses Gefühl nur uns gehört. Unser Gehirn hat aber die Fähigkeit, nicht nur innere Gefühle zu erkennen, sondern auch die äußere Realität, und zwar durch Sinnesorgane: Augen, Ohren, Nase, Mund, Haut. So bekommen wir einen Eindruck von der Welt, die uns umringt, und gleichzeitig erkennen wir, dass wir eine innere Welt haben, die auf Gefühlen basiert. Gefühle sind die grundlegenden Aspekte der Seele, auf die sich dann Beziehungen mit anderen Menschen aufbauen, realistische und fantastische, gute und böse. Und so erleben wir dann zwar uns selbst als von allen anderen unterschieden, zugleich aber erleben wir uns von vorneherein in Beziehung zu anderen wichtigen Personen unseres Lebens, sodass wir von einer inneren Welt umringt sind, die zu unserer Seele gehört.

Dann würden Sie sagen, es gibt gar nicht die vereinzelte Seele, sondern es gibt eine Seele eigentlich nur in Beziehung.

Genau, das meine ich. Ich gestehe Ihnen, ich interessiere mich sehr für die biologischen Grundlagen der Entwicklung der Seele und für mich ist faszinierend, dass das Gehirn so gestaltet ist, dass wir schon genetisch den Drang oder die Versuchung spüren, die Welt um uns herum kennenzulernen und zu unterscheiden, was wir sind und was die für uns wichtigen anderen sind. Das heißt also, schon biologisch sind wir auf eine soziale Welt ausgerichtet. Das ist eine der interessantesten Erkenntnisse der Hirnforschung. Es ist also eine kreative Entwicklung, die vom Biologischen zum Seelischen führt, und dieses Seelische entwickelt sich dann weiter in tiefere Beziehungen zu anderen, in Veränderungen unserer selbst als eine Konsequenz aus diesen tiefen Beziehungen, in die Entwicklung des Verstehens für diese anderen, damit diese Beziehungen gut, gerecht, schön und wahr sein können. Also ausgehend von biologischen Grundlagen entwickelt sich eine rein innerpsychische Realität, die sich in sich selbst weiterentwickelt und schließlich zu Wertsystemen, philosophischen und religiösen Einstellungen führt.

Warum braucht man Psychotherapie? Jahrtausendelang ging es auch ohne sie.

Ich weiß nicht, ob das stimmt. Psychotherapie als eine Behandlungsmethode, das natürlich ist eine moderne Entwicklung. Aber es gab aus meiner Sicht schon Psychotherapie von allem Anfang an. Es wurde nur nicht mit dem Namen Psychotherapie bezeichnet. Es begann mit magischen Einstellungen gegenüber Menschen, die irgendwie nicht normal erschienen, die Probleme hatten, die psychisch litten, die, wie wir heute sagen würden, depressiv waren, unrealistische Angst zeigten und bei denen reifere, mit Intuition begabte Menschen als verstehende und beratende Freunde halfen …

Dass ein Gespräch eines Freundes in einer Krise einem Menschen helfen kann, das hat es sicher immer schon gegeben, aber ich sehe immer einen Unterschied zwischen dem existenziellen Gespräch mit einem Freund und einem methodischen Gespräch, denn das ist für mich Psychotherapie. Genauer nachgefragt also: Freunde gibt es ja auch heute und es gibt menschliche Zuwendung. Warum aber braucht man aus Ihrer Sicht methodische Psychotherapie?

Weil unser Verstehen der psychologischen Entwicklung des Menschen uns dazu gebracht hat, zu erkennen, dass sehr oft beängstigendes, unrealistisches Erleben und Verhalten auf tiefen Gründen beruhen, die in den frühen Jahren des Lebens Probleme erzeugten. Und die Kenntnisse dieser tiefen Ebene der menschlichen Entwicklung erlauben es ausgebildeten Psychotherapeuten, Menschen zu helfen, ihre Probleme durch Einsicht in die im Allgemeinen unbewussten, unbekannten Ursachen ihres psychischen Leidens im Gespräch zu lösen.

Das ist der psychoanalytische Ansatz und Sie sind ja Psychoanalytiker. Aber Sie reden auch immer sehr wertschätzend über andere Psychotherapieverfahren, zum Beispiel über die Verhaltenstherapie, die Sie gut kennen. In diesem Sinne noch einmal ganz allgemein gefragt: Warum braucht man ganz generell Psychotherapie? Warum reichen nicht mitfühlende Gespräche mit lebenserfahrenen, weisen Menschen, mit liebenswürdigen Freunden?

Weil es in den frühen Entwicklungsjahren des Menschen durch gegensätzliche psychologische Bedürfnisse und Erfahrungen zu einer Verzerrung des Verhaltens des Menschen, der Einsicht von sich selbst und von anderen kommen kann, die als solche Verzerrungen nur erkannt werden können, wenn man weiß, wie diese problematischen Entwicklungen entstanden sind und sich entwickelt haben. Und das gilt nicht nur aus psychoanalytischer Sicht. Denn – wie Sie ganz richtig sagen – Psychotherapie kann, wenn man kleinere Schulen weglässt, grob eingeteilt werden in Verhaltenstherapie und psychodynamische bzw. psychoanalytische Psychotherapie. Verhaltenstherapie interessiert sich vor allem für abnormales Verhalten des Menschen, aber auch für abnormales Denken und abnormales Fühlen. Die Ursache dafür sieht auch sie insbesondere in frühen Erfahrungen und Beziehungen, in dem Punkt sind wir uns einig.

Können Sie mal kurz für einen Laien den Unterschied zwischen diesen beiden großen Therapierichtungen beschreiben?

Verhaltenstherapeuten setzen direkt bei den aktuellen abnormalen Auswirkungen dieser frühen Erfahrungen an. So genannte kognitive Verhaltenstherapeuten gehen dabei direkt auf das bewusste Verhalten, Denken und Fühlen ein. Sie versuchen, das intelligente Verstehen des Menschen zu benutzen, um den Patienten Methoden beizubringen, die ihnen helfen, exzessive Gefühle zu kontrollieren und zu unterbrechen, ihre Gedanken zu verändern, besser zu ordnen, und ihr Verhalten zu normalisieren. Im Gegensatz dazu sind psychoanalytische Psychotherapeuten an tieferen unbewussten Konflikten auf dem rein seelischen Gebiet des Erlebens des Menschen interessiert, die sich auf Verhalten, Denken und Fühlen auswirken. Sie versuchen, in die Tiefe dieser problematischen frühen Erfahrungen und Beziehungen zu gehen und auf diese Weise Lösungen zu finden, durch die indirekt die ganze Persönlichkeit des Menschen von diesen Verstrickungen und Beschränkungen befreit wird. Psychoanalytische Psychotherapeuten schauen also auf tiefe, unbewusste Gründe der jetzigen Probleme.

Wann braucht ein Patient denn aus Ihrer Sicht einen Verhaltenstherapeuten und wann einen Psychoanalytiker?

Praktisch bekämpfen sich diese zwei Orientierungen genauso wie alle Spezialisten in allen Wissenschaften. Je näher ihr Arbeitsfeld beieinanderliegt, desto mehr bekämpfen sie sich. Deshalb ist es manchmal für einen normalen Menschen schwer, sich zu entscheiden, was er tun soll. Auf eine einfache Formel gebracht: Wenn das Problem im Verhalten, Fühlen und Denken beschränkt ist auf gewisse konkrete abnormale Einstellungen oder Verhaltensweisen, dann sollte man es zunächst einmal mit kognitiver Verhaltenstherapie versuchen und das reicht dann auch sehr oft. Verhaltenstherapie ist sehr direkt und praktisch und kann in relativ kurzer Zeit Verhaltensprobleme lösen. Wenn ein Patient zum Beispiel Angst vor Spinnen, Flugangst oder Platzangst hat und er funktioniert ansonsten sehr gut, wäre mein erster Schritt eine kognitive Verhaltenstherapie. Wenn das beim ersten Verhaltenstherapeuten nicht klappt, würde ich es nochmal bei einem anderen versuchen. Und erst wenn das auch nicht funktioniert, würde ich an eine psychoanalytische Behandlung denken. Ich habe das klare Prinzip: Wenn man bei einem isolierten Symptom schnell helfen kann, dann schnell helfen! Ich bin sehr kritisch Psychoanalytikern gegenüber, die jeden Patienten sofort ausmessen, ob er auf ihre Couch passt, und wenn er passt, dann muss er eine Psychoanalyse bekommen. Nur wenn das Problem eines Menschen wirklich auf seiner ganzen Einstellung zu sich selbst und zur menschlichen Umwelt beruht, wenn es also ein schweres Versagen in den hauptsächlichen Gebieten des täglichen Lebens gibt, das heißt in Arbeit und Beruf, in Liebe und Sexualität, im sozialen Leben, in der Kreativität, wenn also diese Felder schwer belastet sind und Patienten sich da schwer gehemmt oder ganz chaotisch verhalten, ist im Allgemeinen eine psychoanalytische Psychotherapie besser.

Die Forschung ist sich ja einig, dass für den Erfolg einer Psychotherapie nicht bloß die verwendete Methode wichtig ist, sondern ganz unabhängig davon die Persönlichkeit des Therapeuten. Sie haben in ihrem langen Berufsleben extrem viele Psychotherapeuten kennengelernt, supervidieren noch heute Woche für Woche Psychotherapeuten auf der ganzen Welt. Was unterscheidet aus Ihrer Sicht gute von schlechten Psychotherapeuten?

Erstens muss ein guter Psychotherapeut gute, vertiefte technische Kenntnisse haben, und zwar nicht nur von seiner eigenen Schule. Er muss also etwas über Psychoanalyse wissen, aber ebenso über kognitive Verhaltenstherapie. Gute Therapeuten sollen aber auch immer auf dem aktuellen Stand der Wissenschaft sein, sodass der Patient das Gefühl hat, es wird ihm wirklich das...

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