Menschlichkeit in Zeiten der Angst - Reportagen über die Kriegsgebiete und Revolutionen unserer Welt

Menschlichkeit in Zeiten der Angst - Reportagen über die Kriegsgebiete und Revolutionen unserer Welt

von: Julia Leeb

Suhrkamp, 2021

ISBN: 9783518766576

Sprache: Deutsch

180 Seiten, Download: 6867 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Menschlichkeit in Zeiten der Angst - Reportagen über die Kriegsgebiete und Revolutionen unserer Welt



Den Stuhl rücke ich ein bisschen mehr nach links, dann nach rechts und setze mich wieder. Sie beobachtet mich immer noch. Die Frau, Mitte dreißig, mit der eleganten Press-Lockenfrisur. Ein bisschen vergilbt sieht sie aus, immerhin schaut sie schon viele Jahrzehnte aus diesem Holzrahmen heraus. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie auf dem Schwarz-Weiß-Foto verewigt, habe ich auf der Rückseite erfahren. Während sie auf diesem Stuhl saß mit dem Pelzmantel um die Schultern, lagen die beiden Weltkriege noch in der Zukunft, war der Laptop, an dem ich gerade arbeite, noch nicht erfunden. Sie blickt mich aus einer vergangenen Zeit an. Und ich mustere sie, halb bewundernd, halb mitleidig.

Ich scheue mich davor, ihr Foto umzudrehen. Schließlich bin ich nur Gast in diesem Haus, das vielleicht mal ihres war. Eine Freundin hat mich zu sich nach Klagenfurt auf den Familiensitz eingeladen, damit ich in diesem wunderschönen Biedermeierzimmer in Ruhe schreiben kann. Stattdessen starre ich das Foto an und denke darüber nach, warum der Mensch, unabhängig von Ort und Zeit, den tiefen Wunsch verspürt, Momente festzuhalten, Bilder zu schaffen. Zu Lebzeiten meiner Beobachterin konnte man nicht das ganze Dasein dokumentieren wie heute. Kameras waren rar, das Entwickeln der Bilder war kostspielig. Viel mehr als dieses eine Foto wird es von der Frau nicht geben. Den nachfolgenden Generationen wird sie als junge, gepflegte Dame in Erinnerung bleiben. Von all den anderen Momenten ihres Lebens, ihren Taten, Reisen, Geburten, gibt es keine Belege. Der kurze Augenblick, in dem der Auslöser gedrückt wurde, hat die Deutungshoheit über diese Person für die Nachwelt besiegelt: Sie wird in ewiger Jugendlichkeit gebannt weiterleben.

Dabei verändert sich alles ständig. Manche Länder sind verschwunden, andere entstanden. Der Mensch ist es mittlerweile schon müde, zum Mond zu fliegen, und lässt sich das Leben von künstlicher Intelligenz organisieren. Aber das Verlangen, seine Erlebnisse zu teilen, ist immer geblieben. Von der Höhlenmalerei bis Instagram. Warum besitzen Bilder eine solch große Macht, dass Herrscher – ihre unberechenbare Auswirkung fürchtend – Verbote verhängen?

Das psychologische Moment der Fotografie hat mich schon immer fasziniert, als Kind war ich mir dessen natürlich nicht bewusst. Damals erschuf ich Fantasiewelten mit dem Pinsel. Noch als Teenager malte ich mit Wasser- und Ölfarben, mit denen mich meine geliebte Großmutter immer versorgte. Bis zu dem Tag, an dem meine Schwester und ich einen eigenen analogen Fotoapparat geschenkt bekamen – für mich das schönste Präsent überhaupt. Von nun an konnte ich Abbilder schaffen von dem, was um mich herum existierte. Später kam die erste Filmkamera in die Familie. Viele Jahre später verbringe ich einen Nachmittag mit Werner Herzog, der mir erzählt, dass er der Filmhochschule eine Kamera entwendet hat. Das sei kein Diebstahl, sondern eine Notwendigkeit gewesen. Wie immer man diese Langzeit-Leihgabe im Nachhinein klassifizieren mag, die Kamera war im Dauereinsatz. Das Gerät ging irgendwann kommentarlos in meinen Besitz über. Auf einigen gut versteckten Kassetten finden sich eher peinliche Aufnahmen von einem Bolero-Schleiertanz mit einer Freundin auf dem Autodach meines ahnungslosen Vaters, eine Schwanensee-Eigeninterpretation und die Vertreibung aus dem Paradies, die ich mit Freundinnen im Garten nachstellte. Wie dankbar ich rückblickend dafür bin, dass wir ohne ständiges Publikum in Form der sozialen Medien aufwachsen, die Pubertät offline durchleben konnten – wer besagte Aufnahmen kennt, weiß, was für ein Glück wir hatten!

Eine Kindheit ohne Computer und mit einem einzigen Fernseher mit drei für Kinder uninteressanten Programme scheint mir heute ein unwiederbringliches Privileg. Meine Schwester und ich erschufen uns während der langen Essen am Stammtisch der Erwachsenen traumhafte Gegenwelten, in denen nur unsere eigenen logischen Gesetze galten. Welten, die wir verstehen konnten und zu denen wir ausschließlich Gleichgesinnten Zutritt gewährten. Mit meiner Freundin Michelle beschlagnahmte ich den Geräteschuppen, räumte ihn aus, malte ihn dunkelblau an und richtete unser eigenes Labor ein. Wir produzierten etwa hundertzwanzig verschiedene Kräutermischungen, mit denen wir nach Hildegard von Bingen und nach eigenem Gutdünken experimentierten. Mit anderen Kindern, die nichts mit unserer Hexenküche anfangen konnten, stillten wir unseren Entdeckerdrang im anliegenden Wald, aus dem ich regelmäßig mit Zecken und schließlich mit Borreliose nach Hause kam. Vor Langweile oder Familienstreitigkeiten flüchteten wir uns in unsere eigenen Fiktionen.

Die Generation meiner Eltern besaß während ihrer Kindheit wenig, erlebte später aber das Wirtschaftswachstum im Nachkriegsdeutschland mit. Medizin und technische Geräte wurden immer erschwinglicher, der Lebensstandard verbesserte sich konstant. Gewisse Ängste allerdings blieben ihnen erhalten.

Meine etwas jüngeren Lehrer hingegen versuchten, uns Schülern eine seltsame Art von schlechtem Gewissen einzuflößen und uns auf subtile Weise zur Ängstlichkeit zu erziehen. Vielleicht hatten sie selbst Gewissensbisse, dass es ihnen besser erging als ihren Eltern, oder sie gaben die unaufgearbeiteten Konflikte zwischen den beiden Generationen ungefiltert an uns weiter. Was auch der Grund war, in mir wuchs das Gefühl, dass alles jederzeit weg sein könnte – Materielles, aber auch geliebte Menschen. Wie eine schwarze Wolke schwebte die Sorge über mir, dass schöne Momente nicht wiederholt werden können, dass ich Menschen vielleicht zum letzten Mal sehe. Diese Furcht war nie konkret, immer abstrakt. In manchen Augenblicken fühlte sie sich für mich als Kind unkontrollierbar und unausweichlich an. Als lauerte die Gefahr um die Ecke und würde früher oder später nach mir und meiner Familie greifen.

Sicher war dieses Damoklesschwert, dieses Gefühl der latenten Bedrohung mit ein Grund, warum ich sofort besessen war vom Fotografieren. Die Kamera war das einzige Instrument, das das unerbittliche Verfließen der Zeit aufzuhalten vermochte. Durch das Fotografieren konnte ich diese unverständliche Welt in kleine Einheiten unterteilen, in schmale Zeitausschnitte. Die Geschehnisse wurden von ihren zeitlichen Abläufen befreit, Miniaturrealitäten aus dem großen Ganzen herausgelöst. Für mich hatte das etwas Beruhigendes, der Akt des Fotografierens bedeutete Kontrolle auszuüben über etwas Unkontrollierbares. Unaufhörlich visierte ich Personen an, die im Gespräch versunken waren, und drückte genau im richtigen Moment den Knopf. Ich entriss der Zeit eine Millisekunde, um mir diesen unwiederbringlichen Moment anzueignen, ihn für immer zu besitzen, ihn nicht mehr verlieren zu können. Die Welt für einen Augenblick zu stoppen, das Leben kurz anzuhalten und den Moment einzufrieren – dieser Wunsch ließ mich nicht mehr los.

Nachdem meine Mutter von einer Audienz bei Mutter Teresa in Delhi so sehr berührt war, reisten wir zusammen mit meiner Schwester erst nach Myanmar, dann nach Indien. Meine ersten großen Reisen außerhalb Europas haben mir das Tor zur Welt aufgestoßen. Wir ritten auf Pferden durch das sagenumwobene Rajasthan, auf Bergplateaus, durch Flusstäler und in Dörfer, die Menschen wie uns noch nie gesehen hatten. Wir schliefen in Zelten und manchmal in heruntergekommenen Palästen, fuhren mit Rikschas durch das Verkehrschaos der überbevölkerten indischen Städte. Ich sah Tempel mit heiligen Ratten, leprakranke Bettler, bunte Saris auf Reisfeldern, einen Jungen mit Elefantenfuß, Spirituelle, Tänzer, heilige Kühe, einen Maharadscha, tanzende Pferde und Warane im Badezimmer. Momente, in denen ich begriff: Die Welt ist groß, wild, traurig, laut. Sie stinkt, duftet, ist ungerecht, spirituell, hässlich und schön. Jeder Eindruck wurde im Sekundentakt durch ein anderes Erlebnis überschrieben. Das pralle Leben in einer Nussschale.

Als Teenager in Myanmar

Ich hatte Glück, dass meine Eltern mich weltoffen erzogen haben. Wissen wurde in der Schule vermittelt – in meinem Fall in einem humanistischen Gymnasium mit Lateinleistungskurs. Doch die echte Erziehung fand bei uns zu Hause statt. Als ich noch ein Kind war, gründete meine Mutter einen Verein für belarusische Kinder, die Opfer der radioaktiven Tschernobyl-Wolke geworden waren. Da Tschernobyl in der Ukraine liegt, fokussierte sich die deutsche Presse damals nur auf dieses Land. Absurd, als ob eine kontaminierte Wolke...

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