Der Kaiser reist inkognito - Joseph II. und das Europa der Aufklärung

Der Kaiser reist inkognito - Joseph II. und das Europa der Aufklärung

von: Monika Czernin

Penguin Verlag, 2021

ISBN: 9783641209117

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 7199 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Kaiser reist inkognito - Joseph II. und das Europa der Aufklärung



1764 Frankfurt

Nie mehr eine Hofreise

Joseph hatte das geschäftige Treiben vor den Toren Frankfurts allmählich satt. Der große Imperialwagen, den man zerlegt und in Matratzen verpackt nach Frankfurt gekarrt hatte, war längst wieder zusammengebaut, die Katharinenpforte, durch die man in die Stadt fahren würde, für das prunkvolle Gefährt vergrößert, das Krönungsgewand hingegen verkleinert, die Reichskrone gepolstert. Und man war vom greisen Landgraf von Hessen-Darmstadt empfangen worden. Worauf wartete man also noch?

Doch plötzlich kommt Bewegung in den feierlichen Prozessionszug, der ihn und seinen Vater Franz Stephan von Lothringen zum Bartholomäus-Dom geleiten soll. Die Pferde schnauben nervös. Erst nach langem Hin und Her war es gelungen, sie in der richtigen Reihenfolge aufzustellen. Die Waffen blitzen in der Sonne. Alle wissen um ihre Plätze und Rollen in diesem gewaltigsten Spektakel der Neuzeit. Unter Glockengeläut und Kanonendonner geht es endlich los. Joseph blickt aus dem Fenster der kaiserlichen Kutsche, während er sich der Innenstadt nähert. Es ist der 21. März 1764. Er ist dreiundzwanzig Jahre alt und im Begriff, zum römisch-deutschen König gekrönt zu werden. Das von kunstfertiger Diplomatenhand eingefädelte Ritual ersetzt die Kaiserkrönung, wenn der Thron des Römisch-Deutschen Reichs noch zu Lebzeiten des amtierenden Kaisers, in diesem Fall ist es sein Vater, Kaiser Franz I., für seinen Nachfolger gesichert werden soll.

Josephs Blick geht Richtung Himmel. Die hellgrünen Blätter der Bäume versetzen ihm einen Stich mitten ins Herz. Wie sie sich im Wind bewegen! In der Sonne glitzern! Mit einer jähen Sehnsucht sieht er den Bäumen nach, die dem grauen Gemäuer der Stadt weichen, erinnern sie ihn doch an ein Ereignis vor drei Jahren, während die Kutsche durch das Stadttor rumpelt.

Damals war er mit seiner jungen Gemahlin, Isabella von Bourbon-Parma, zu einer Reise nach Mariazell aufgebrochen. In Lilienfeld, wo sie auf ihrem Weg übernachteten, hatten sie Seite an Seite ihre Angeln aus dem Fenster im ersten Stock des Zisterzienserklosters in den bis an die Klostermauern reichenden Forellenteich ausgeworfen. Das ganze Voralpenland schimmerte im Frühlingsgrün. Ihre Hochzeit war noch nicht lange her, und gemäß der Tradition statteten sie der Mutter Gottes von Mariazell einen Besuch ab. Geduldig, wenn auch ermattet von der sechsstündigen Fahrt, die am späten Morgen in Schönbrunn ihren Anfang genommen hatte, lauschten sie dem Salve Regina in der Stiftskirche von Lilienfeld und zogen sich dann in ihre Gemächer zurück. Dort hatte der Abt ihnen zur Überraschung ebenjene Angeln bereitstellen und das Fenster zum Forellenteich öffnen lassen.

»Monsieur regardez! Comme je suis heureuse!«8 Isabellas glockenhelles Lachen, als sie ihren ersten, verzweifelt sich sträubenden Fisch die Hausmauer hinaufzog, und dann vor Mitleid fast zu weinen anfing, als er glitschig zappelnd auf dem Holzboden nach Luft schnappte, würde er nie mehr vergessen. Bienen und Schmetterlinge flatterten auf das Fenstersims, alles roch nach blühendem Flieder. Er hatte ihren Unterarm gestreift, sanft und scheinbar absichtslos, doch anders als sonst hatte sie ihn nicht weggezogen. Nur über ihre Wangen war ein Hauch von Röte gehuscht. War sie zu beschäftigt gewesen? Im Anschluss an dieses selbstvergessene Kindervergnügen ließ sie ihn gewähren. Er nahm sie in die Arme und überhäufte sie mit Küssen, bevor er das nervös kichernde Mädchen zur für sie hergerichteten Bettstatt trug. Nie war er glücklicher gewesen als in den darauffolgenden Stunden. In seiner Liebestrunkenheit vergaß er alles, den Hof, die Mutter, den Kaiser und seine eigene Position als Erbe des Habsburgerreichs, dem damals wohl größten und bedeutendsten Reich auf europäischem Boden. Doch auch sie, deren Liebe ihm manchmal schmerzlich verhalten dünkte, schien gelöst und ohne Angst. Mit zarter Hingabe überließ sie sich seiner Leidenschaft.

Anderntags verfasste er einen Brief an Votre Majesté – so lautete die korrekte Anrede für seine Mutter (man schrieb und sprach selbstverständlich Französisch miteinander) –, dass das Glück auf seiner Seite gewesen sei und er die meisten Forellen gefangen habe. Doch beim Wort »Glück« dachte er nur an sie, seine zärtlich geliebte Gemahlin, und deshalb hatte er schnell hinzugefügt, dass er Isabella mehr verehre denn je, nicht nur wegen ihres stets vollendeten Benehmens, sondern weil er an jenem Nachmittag in Lilienfeld gesehen habe, dass sie Ihre Majestät ebenso liebe wie er, ihr Sohn, selbst.9

Frankfurt – Ein glanzvoller Einzug, doch mit Tränen im Herzen

Josephs Tagträume verflüchtigten sich bald. Die sehnsuchtsvollen Erinnerungen zerschellten an der Wucht des Frankfurter Ereignisses und erinnerten ihn an den plötzlichen Tod seiner hinreißenden Isabella, mit dem seine kurze Ehe vor einem Jahr zu Ende gegangen war. Das jahrhundertealte Ritual der Krönung zum römisch-deutschen König, das der Sohn von Kaiser Franz I. nun über sich ergehen lassen musste, gemahnte ihn an seine Verpflichtung als oberster Herrscher der Christenheit, die zu übernehmen nun bevorstand, sowie an seine Rolle als Herrscher des Habsburgerreichs, die er mit in die Wiege gelegt bekommen hatte. Da gab es kein Entrinnen. Alles, jeder Stein in der Kaiserkrone, jedes Kleidungsstück bei der Krönung, jeder Schritt, ja, jede einzelne Geste der Akteure hatte seine althergebrachte Bedeutung. Ein orchestraler Klang, der das Römisch-Deutsche Reich und seine jahrhundertelange Geschichte in einem sinnlichen Ereignis für den Augenblick weniger Tage lebendig werden ließ.

Trommler, Trompeter, die Stadtabgeordneten zu Fuß und die Kavallerie Frankfurts führen den Zug an. Dann kommt das Gefolge des kaiserlichen Marschalls, danach die Vertreter der sechs weltlichen Kurfürsten, jeder mit großer Eskorte und mehreren Staatskarossen. Anschließend der schier endlose Tross der geistlichen Kurfürsten, der Erzbischöfe von Köln, Mainz und Trier, jeder ebenfalls mit Gefolge, in prächtigen Gewändern und mit Ehrfurcht gebietender Zurschaustellung. Sie alle demonstrieren, dass sie die Mächtigsten unter den Mächtigen sind, die den Kaiser – und somit auch den römisch-deutschen König – wählen. Zum Schluss tauchen die Galawagen der kaiserlichen Majestäten auf, die mit Gemälden, Gold und Lackarbeiten verziert sind und durch deren große spiegelglatte Fenster man ins Innere sehen und den Kaiser und seinen Sohn erspähen kann.10 Überall Vergoldungen, selbst die Geschirre der Pferde funkeln durch den leichten Trab nur noch stärker im Licht der Sonne.

Allein die märchenhafte Pracht und die schier uferlose Größe des Ereignisses sollte den Atem der Zeitgenossen stillstehen lassen und dem herbeigeeilten Volk die unumstößliche Macht der scheinbar gottgewollten Ordnung vor Augen führen. Wobei »scheinbar gottgewollt« nur die Nachgeborenen sagen können, jenen durch die Säkularisierung ewig aus dem Mysterium der Religion Verbannten. Für die damaligen Menschen – ob Bauer oder Fürst – war das Gottesgnadentum ein unumstößlich göttliches Gesetz, es konnte ebenso wenig hinterfragt werden wie Gott selbst. Und ebenjener Gott beauftragte den Herrscher, sich in den Dienst seines Amtes zu stellen. Deshalb erfolgt der eigentliche Krönungsvorgang als Teil eines katholischen Hochamts nun auch in der Stiftskirche der Stadt. Macht und Herrlichkeit des Kaisertums sollten sich tausendfach in den Gebeten der Anwesenden spiegeln.

Alles riecht nach Weihrauch. Der Dom ist in das flackernde Licht der Kerzen gehüllt. Gesang und Gebet fluten in abwechselnden Rhythmen durch das gotische Langhaus. Dann halten alle den Atem an. Joseph spürt den Blick seines Vaters auf den Schultern, als er im schweren Krönungsmantel niederkniet und von den drei geistlichen Kurfürsten gemeinsam die Reichskrone auf das Haupt gesetzt bekommt. Hat nicht auch er als Kaiser Franz I. ebendiesen Treue- und Krönungseid geschworen, sich zum Beschützer der Kirche, Wahrer des Reiches und gerechten Richter machen lassen und sich damit Verpflichtungen unterworfen, deren Gestaltungsspielräume nicht mehr so eindeutig waren als zur Zeit Karls des Großen, dessen Schwert er, Joseph, nun in Händen hält?

Und plötzlich ist ihm, als würde er den Vater wieder so wahrnehmen wie als Kind, damals, als er ihm Lehrer und Freund gewesen und er zu ihm als dem größten Prinzen des Hauses aufgeschaut hatte.11 Damals, als sie noch zusammen auf die Jagd gingen und Franz Stephan ihn in sein Naturalienkabinett mitnahm. Jetzt kommen ihm wieder die Warmherzigkeit und Sanftmut seines Vaters zu Bewusstsein, ohne ihn durch den ständigen Vergleich mit seiner machtbewussten Mutter herabzusetzen. Ist er nicht einfach ein ungemein angenehmer Mensch mit vortrefflichen Qualitäten? In einem Brief an Maria Theresia bekennt Joseph später nicht nur, dass er die gestrige Zeremonie beeindruckend und erhaben gefunden habe, sondern weiterhin, dass er versucht habe, sie so gut als möglich auszuführen und nicht peinlich zu wirken. Seine Majestät, der Kaiser, hat uns gegenübergestanden, dass er sich seiner Tränen nicht erwehren konnte.12

Unter das Volk gemischt hatte sich auch der noch nicht vierzehnjährige Johann Wolfgang Goethe. Ein halbes Jahrhundert später, genauer 1811, sollte er als der wohl berühmteste Chronist...

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