Das Salzwasserjahr - Roman | Ein emotionales Austauschjahr in Australien

Das Salzwasserjahr - Roman | Ein emotionales Austauschjahr in Australien

von: Nora Hoch

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2020

ISBN: 9783423438032

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 9845 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Salzwasserjahr - Roman | Ein emotionales Austauschjahr in Australien



Koalas. Ich habe immer zuerst an Koalas gedacht, wenn ich an Australien gedacht habe. Und dann habe ich in dem ganzen Jahr dort keinen einzigen gesehen. Dafür habe ich Sachen gesehen, an die hätte ich vorher gar nicht denken können, weil ich keinen Plan von denen hatte. Absolut keinen.

Und ich habe Sienna gesehen – von allen Seiten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit. Und immer wieder Sienna von hinten. Wie sie weggeht und ich dastehe, um zuzusehen, wie sie immer kleiner wird. Nur eben nicht für mich. Für mich bleibt sie eine riesengroße Nahaufnahme.

Angefangen hat das alles ungefähr so:

Nach über einer Stunde Wartezeit habe ich mich auf den Koffer gesetzt und mit den Fingernägeln über die alten Sticker auf der Oberfläche von meinem Reisekoffer gekratzt. Es machte genau das Geräusch, das mein Freund Levin Innenohrarmageddon nannte. Ich saß in der Empfangshalle in Brisbane, im Osten Australiens, wartete auf meine Gastfamilie und darauf, dass das losgehen würde, was ich mir unter einem neuen Leben vorgestellt hatte. Warten konnte ich noch nie gut. Und so, allein unter Hunderten von fremden Menschen, wurde ich nicht gerade besser darin. Ich habe gewartet und irgendwann dachte ich, wenn die eine Stunde lang nicht kommen, dann kommen die vielleicht gar nicht mehr. Ich saß also auf meinem Koffer, der vollgepackt war mit kurzen Hosen, Sonnencreme, einem Wörterbuch und leeren Heften. Ich hatte Hefte eingepackt, um neue Gedanken aufzuschreiben und Erlebnisse zu konservieren, wie andere Leute Blumen konservieren – gepresst zwischen blanken Seiten und aufbewahrt für kalte Tage, wenn der Sommer längst vorüber ist. 15 817 Kilometer weit weg von zu Hause saß ich da, bereit für ein neues Leben, aber niemand kam, um mich in dieses Leben abzuholen. Mit jeder verstreichenden Minute wurde ich nervöser.

Ich beobachtete die Hallenuhr. Tick. Überall waren Leute, die schwere Koffer über den glänzenden Boden zogen, und Leute, die riesige Rucksäcke auf ihren Rücken trugen wie Schnecken ihre Häuser. Tack. Allein am anderen Ende der Welt, dachte ich, das könnte aufregend sein, verwegen, abenteuerlich. Es hätte cool sein können, wenn ich irgendeinen Plan gehabt hätte, wie es von dort aus hätte weitergehen können.

Hatte ich aber nicht. Kein Stück. Tick.

Ich holte die kleine Tüte mit den salzigen Flugzeugcrackern heraus und begann mir zu überlegen, ob ich vom Flughafen aus einen Bus nehmen könnte, oder trampen, oder einfach dort bleiben.

Ein Jahr lang in der Wartehalle. Tack. Sofort zurückzufliegen war keine Option. Meine Mutter wollte in der nächsten Woche zu ihrem neuen Kerl ziehen und ich war nicht heiß drauf, das live mitzuerleben.

Ich wollte nicht zusehen, wie unser altes Leben eingepackt würde. In Kisten gestapelt für den dreckigen feuchten Berliner Keller ihrer neuen Wohnung. Mama war schwer in Ordnung, keine Frage, und meine Mama würde sie immer bleiben, egal wo unsere Kartons standen, schon klar. Aber für eine Weile wollte ich mein eigenes Ding machen und ich hatte das Gefühl, dass ich nicht der Einzige war, der das wollte. Ich hatte mich vorübergehend von meinem alten Leben verabschiedet. Ich hatte die letzte Nacht auf dem Fußboden von meinem Zimmer geschlafen. Die Arme so weit von mir gestreckt wie ein Seestern, um möglichst viel Raum zu berühren. Ausbreiten wollte ich mich, in jeden Winkel. Ich hatte mir heimlich eins von Mamas Bieren mit in mein Zimmer genommen und die Zimmerdecke angestarrt, als wäre sie mit Sternen übersät. Ein wenig hatte ich mir gewünscht, der alte Herr Mauk von obendrüber hätte seine Möbel hin und her gerückt, wie er das oft mitten in der Nacht machte. Ein Poltern, Kratzen und Schleifen von Holz über Holz. Dann hätte ich ihm zuhören können und gewusst, dass dies mein Zuhause-Geräusch war. Das und die Krähe im Innenhof. Aber an diesem Abend war Herr Mauk wohl zu müde, um Möbel zu rücken. Die Krähe war ausgeflogen. Alles blieb still. Tick.

Nein, zurück war keine mögliche Richtung. Nicht nur wegen Mama, sondern auch wegen Levin.

Der Gedanke, ein Jahr ohne meinen besten Freund zu verbringen, hätte mich traurig machen können. Jedenfalls unter anderen Umständen. Ein Jahr ohne den Menschen, den ich schon aus einer Zeit kannte, an die ich mich noch nicht mal erinnern konnte. Aus einer Zeit, bevor Sprache Sinn machte, bevor ich wusste, was ein Freund ist, oder auch nur verstand, was ein Jannik eigentlich sein soll. Doch nun begann für mich ein Jahr ohne Levin, ohne seine Karottenhaare und seine schlechten Witze. Wahrscheinlich wäre ich zu jedem anderen Zeitpunkt traurig gewesen, aber zu diesem eben nicht. Es hatte Streit gegeben. Und dann hatte es ein langes Schweigen gegeben und danach war ich eben nicht mehr traurig. Stattdessen war ich erleichtert. Ich wollte weggehen, möglichst weit, und erst wiederkommen, wenn alles anders geworden war, oder wenn ich mich zumindest selbst verändert hatte. Tack.

Ich hatte Fernweh und dem wollte ich folgen. Zumindest bis zu dem Moment in der Wartehalle.

»Was ist los, Junge?«, fragte ein Mann mit einem blauen Overall und einem Wischmopp. Weil ich keine Antwort hatte, gab ich ihm nur einen leeren Blick zurück und zog meine Knie an, damit er um meinen Koffer herumwischen konnte. Ich hielt die Füße in die Luft über meine Kofferinsel, so als wäre der Boden Lava, die man nicht berühren durfte, wie früher als Kind, wie früher mit Levin.

Der Boden glänzte. Ich sah meine eigene Spiegelung zu mir aufblicken, aber ich kam mir nicht bekannt vor. In der Halle wurde es immer leerer. Kurz darauf wurde es wieder voll. Tick.

Der nächste Flieger war gelandet. Der Mann mit dem großen Wischmopp kam noch drei Mal an mir vorbei. Er sah mich fragend an. Ich zuckte mit den Schultern. Was ich hier machte? Das hätte ich auch gern gewusst. Irgendwann hörten sogar die Sorgen auf und meine Augen verfolgten nur noch den schwarzen Sekundenzeiger auf der großen Hallenuhr. Tack.

Nach einer Ewigkeit sah ich sie endlich. Ich sah, wie vier Menschen den Gang zum Empfang entlanggerannt kamen. Alle in Flipflops und einer hielt ein Schild mit meinem Namen in der Hand. Das Schild baumelte beim Rennen hin und her, aber meinen Namen erkannte ich trotzdem sofort. Als wäre mein Koffer spontan entflammt, sprang ich auf.

Die vier sahen aus wie aus einer Werbung für Sonnencreme. Die sahen aus wie Hochsommer. Ihre Flipflops machten Schmatzgeräusche auf dem Linoleumboden. Sie liefen hintereinanderher. Ganz vorne lief Neil, mein Gastbruder. So alt wie ich, logisch, aber wesentlich größer, viel zu groß für einen Sechzehnjährigen. Praktisch ein Riese. Schon aus der Entfernung sah er übertrieben supermanmäßig aus. Es war beinahe unangenehm, ihn anzugucken, weil alles an ihm so extra lässig aussah, so nach dem Typ Jungen, neben dem man immer klein wirkt. Hinter Neil lief ein kleines Mädchen. Ruby war sechs Jahre alt. Ein Goldstück. Oben im Mund fehlte ihr ein Zahn und unten im Mund sah sie aus wie ein Haifisch. Sie hatte zwei Reihen Zähne. Die alten Milchzähne waren noch drin und die neuen Schneidezähne standen schon klein und stummelig dahinter. Während Neil zur Begrüßung nur die Hand hob und mir zunickte, wollte Ruby sofort ein Wettrennen mit mir machen – zum Van der Madens. Familie Maden, so hießen die nämlich. Cory und Analeigh, die Eltern, hatten ihren hellblauen Camping-Van direkt vor der Tür der Empfangshalle geparkt. Quer.

»Habt ihr nicht noch eine Schwester?«, fragte ich Neil, als wir einstiegen.

Er nickte. »Sam. Die ist aber nicht mitgekommen. Sie hatte keinen Bock, dich abzuholen«, sagte er.

Irgendwie war mir das sympathisch. Neil sah mich an, wie man einen Käfer ansieht. Einen kleinen harmlosen Käfer, einen, den man zwar nicht zertreten will, bei dem man sich allerdings auch nicht sicher ist, ob er es wert ist, dass man sich die Mühe macht, ihn nach draußen zu werfen. Schließlich könnte man ihn auch einfach ignorieren, bis er von selbst zu krabbeln aufhört.

Knallend fielen die Türen zu. Neil schnallte sich an, setzte sich Kopfhörer auf und drehte sich so weit wie möglich in Richtung Fenster.

Wir fuhren ziemlich stumm durch Queensland – von Brisbane nach Byron Bay. Analeigh saß am Steuer, Cory und Ruby schliefen schon nach wenigen Metern ein, Neil hörte Musik und ich kriegte vor Aufregung kein einziges Wort heraus. Nur Analeigh redete ohne Pause. Ihre rot gefärbten Haare glänzten, während ihr Kopf beim Reden fröhlich hin und her wippte.

Sie erzählte Geschichten über die Gegend hier, über ihre Kinder, über ihren Job beim Curry Home, über Haie und über giftige Tiere. Ich nickte die ganze Zeit. Dass sie nicht sehen konnte, wie ich nickte, weil ich ja hinten saß, das fiel mir viel zu spät auf. Erst als wir anhielten.

Irgendwann hörte ich den Van bremsen. Wir waren angekommen. Ich sprang aus dem Auto auf die Straße und BAM: Die Luft schmeckte nach Salzwasser.

»Das Meer«, platzte es aus mir heraus und alle vier sahen mich fragend an. Ich hatte vergessen, Englisch zu reden, ich hatte gar nicht richtig gemerkt, dass ich überhaupt sprach.

»Willkommen in der Lawson Street«, sagte Analeigh.

»Der Strand dahinten wird Clarkes Beach genannt. Von deinem Fenster aus kannst du ihn sehen«, sagte Cory.

»Du kannst das Meer beim Einschlafen hören, so nah ist es«, sagte Ruby.

Nur Neil sagte nichts.

»Willst du sofort zum Meer?«, fragte Analeigh.

»Da kannst du aber sicher sein«, sagte ich und meine Stimme kippte fast vor Aufregung. Ich redete auf einmal viel zu laut.

Meinen Koffer ließ ich einfach im Hausflur stehen und ging sofort wieder...

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