Wilde Freude - Roman

Wilde Freude - Roman

von: Sorj Chalandon

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2020

ISBN: 9783423437684

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 1640 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wilde Freude - Roman



Sieben Monate davor …


2


DIE KAMELIENDAME


(Montag, 18. Dezember 2017)


Es würde natürlich gut ausgehen. Eine Routinekontrolle.

»Wir fangen jetzt an, Madame Hervineau. Wenn ich Ihnen wehtue, sagen Sie bitte Bescheid.«

Mit nacktem Oberkörper, die Hand am Griff, stand ich vor dem Gerät.

»Kinn bitte heben«, forderte mich die Röntgenassistentin auf.

Meine linke Brust wurde von zwei Platten zusammengepresst.

»Nicht mehr bewegen!«

Sie ging hinter die Scheibe.

»Nicht mehr atmen.«

»Sorry.«

Ich atmete nicht mehr.

Da war dieser Schmerz in der linken Brust, wenn ich meinen BH zumachte.

»Das beweist, dass alles in Ordnung ist«, hatte meine Gynäkologin gescherzt.

Ihrer Meinung nach musste man nicht immer alles ernst nehmen, was eine Krankheit von sich gab.

»Erst wenn der Knoten schmerzfrei ist, sollte man sich Sorgen machen.«

So leicht ließ ich mich nicht abspeisen. Ich brauchte eine Mammografie, eine Röntgenaufnahme, einen Beweis dafür, dass alles in Ordnung war. Das letzte Mal sei ich doch erst vor einem Jahr bei ihr gewesen. Und da war nichts. Warum also den ganzen Aufwand noch mal?

»Um nie wieder drüber zu reden«, sagte ich.

Sie zuckte mit den Schultern. Und stellte mir eine Überweisung aus.

Drei Tage später stand ich mit gequetschter Brust da und wartete.

»Sie können jetzt loslassen. Und normal weiteratmen.«

Ich ging zurück in die Umkleidekabine. Den BH noch nicht anziehen. Und keinen Schmuck. Die Bluse war kalt. Ich betrachtete meine Hände. Ich zitterte. Es war nur eine Kontrolluntersuchung, ich hatte nichts zu befürchten, aber ich zitterte.

»Wir machen trotzdem noch einen Ultraschall«, sagte der Arzt.

Einfach so. Mit ausdrucksloser Stimme. Ein junger Mann, sehr beschäftigt. Er verteilte das Gel auf meinen Brüsten, wie man sich ordentlich die Hände wäscht, bevor man sich an den Tisch setzt.

»Ist Ihnen kalt?«

Ich antwortete nicht. Nickte nur. Zitterte immer noch. Ich beobachtete den Radiologen, der keinen Blick für mich hatte. Er fuhr mit der Sonde unter die Brust, um die Warze herum, die Augen auf den Monitor gerichtet. Foto, Foto. Ich schloss die Augen. Foto, Foto. Ich war oft abgetastet worden, aber das war es dann schon gewesen. Ein paar höfliche Worte, Händeschütteln, bis zum nächsten Mal.

Eine Ultraschallaufnahme hatte noch keiner gemacht.

»Ah, da ist etwas«, murmelte der Arzt.

Schweigen im Raum. Der Atem der Maschine. Das Klackern der Tastatur. Und diese Worte.

Da ist etwas.

Ich schloss die Augen. Hörte auf zu zittern.

Die Sonde lief über meine Haut. Wie ein Tier, das mit seiner Beute spielt.

»Ja, da ist etwas«, wiederholte der Radiologe.

Dann legte er seine Instrumente beiseite und hielt mir Papiertücher hin.

Ich blieb liegen. Wischte das Gel langsam weg, um den Schmerz herum.

»Schauen Sie bitte nach, ob es einen Platz für eine Punktion gibt, Agathe.«

Die Assistentin nickte.

»Heute?«

»Ja, fragen Sie Duez, ob er uns irgendwo dazwischenschieben kann.«

Dann verließ er den Raum. Und warf im Gehen die Handschuhe in den Mülleimer.

Die Assistentin half mir auf.

»Da ist etwas.«

Ich fragte mich, was nach diesem Etwas käme. Etwas in meiner linken Brust. Ich dachte an den Tod. Der Satz hämmerte in meinem Kopf. Ich hörte auf zu atmen. Etwas. Ein unglücklicher Ausdruck, jämmerlich und nichtig.

Ich hatte keine Beine mehr. Keinen Bauch. Nichts mehr. Keine Kraft und keine Gedanken. Um mich tanzte das Zimmer.

Als die Assistentin mir von der Liege helfen wollte, hob ich den Kopf.

»Wann kann ich weinen?«

»Jetzt, dafür bin ich da.«

Also weinte ich. Sie hielt mir die Hand.

»Vielleicht ist es ja gar nichts, nur eine Zyste.«

Unsere Blicke trafen sich. Sie glaubte es selbst nicht.

»Schauen Sie, ob es einen Platz für eine Punktion gibt.«

Die Worte des Arztes. Eine Gewebeentnahme, Angst vor dem Schlimmsten.

Agathe setzte mich auf einen Stuhl.

Gab mir Bonbons gegen die Unterzuckerung danach.

»Werde ich gleich informiert, ob es gutartig oder bösartig ist?«

Sie machte sich zu schaffen. Räumte mir unbekannte Instrumente hin und her.

»Nein, wir müssen die Ergebnisse abwarten.«

»Kann mir der Arzt denn gar nichts sagen?«

»Das kann nur die Analyse. Der Arzt macht sich eine Vorstellung. Je nach Konsistenz der Probe, die er nimmt. Das ist aber noch keine Diagnose.«

»Aber er wird doch eine Idee dazu haben! Das könnte er mir doch sagen, meinen Sie nicht?«

»Sie können ihn ja fragen.«

Sie brachte mich wieder zu meiner Kabine. Ich setzte mich auf die Bank. Es gelang mir nicht, meine Bluse anzuziehen und die Strickjacke zuzuknöpfen. Ich ging zur Toilette. Betrachtete mich im Spiegel. Graue Haut. Der Mund ein Strich. Ich schöpfte Wasser auf meine Augen. Und sagte mir immer wieder, dass es schon gut gehen würde, aber nichts ging mehr. Ich hatte Krebs. Ich spürte ihn in mir. Ich hätte Matt bitten sollen, mich zu begleiten, aber er wäre ohnehin nicht mitgekommen.

»Du hast doch selbst gesagt, es ist nur zur Kontrolle.«

Manchmal griff ich nach seiner Hand, wenn ich die Straße überqueren wollte. Er mochte das nicht. Verstand nicht, warum mir das so wichtig war. Und ich traute mich nicht zu sagen, dass ich ihn brauchte. Ich erinnerte mich an meine Kinderhand in der Hand meines Vaters. Und an die heiße, schmächtige Hand unseres Sohnes in meiner. Nun hatte ich nur noch Matts Hand. Aber er gab sie mir nicht.

»Jeanne Hervineau?«

Ja.

Schnitt, Gewebeentnahme, drei kleine Proben. Nur ein paar Minuten.

Doktor Duez sagte nichts. Nichts Wichtiges.

»Der Knoten muss jedenfalls raus.«

Das war alles. Und dass ich sehr bald mit meinem behandelnden Arzt sprechen müsste.

»Ich lasse Sie nicht allein«, beruhigte mich Agathe. Und legte mir die Hand auf den Arm.

»Was ist Ihre Strategie?«

Ich schaute sie an. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft in der Klinik gebrauchte jemand Kriegsvokabular. Ich betrachtete meine herunterhängenden Beine, meine nackten Füße, den gekachelten Boden. Und sagte mir, ich bin im Krieg. In einem richtigen Krieg. In einer Schlacht, die Tote fordern wird. Und der Feind steht nicht vor meiner Tür, er ist schon in mich eingefallen. Ich wurde überrannt. Dieses Biest sitzt in meiner Brust.

»Was werden Sie tun, Jeanne?«

»Ich rufe meinen Mann an und heule mich richtig aus, dann sehe ich weiter.«

Agathe lächelte.

»Guter Plan. Rufen Sie mich an, wenn Sie mich brauchen.«

Als ich ging, sah ich sieben Patientinnen warten. Ich hatte gelesen, dass eine von acht Frauen im Laufe ihres Lebens Brustkrebs bekommt. Hier war die ganze Stichprobe versammelt. Acht schweigende Gestalten in einem fensterlosen Raum. Acht zum Zerreißen gespannte Brüste. Acht verlorene Blicke auf verblichene Illustrierte. Acht Gestrandete, die auf die Mitteilung warteten, wen es getroffen hatte.

Morgens hatte es geregnet. Schmutzig grau und von Graupeln gepeitscht. Doch als ich das Haus verließ, begrüßte mich die Sonne. Ich rief Matt an, drei Mal. Drei Mal ging der Anrufbeantworter dran. Er musste längst vom Mittagessen zurück sein. Ich brauchte ihn, nicht bloß seine Stimme. Aber was wollte ich ihm sagen?

»Schlechte Nachrichten, ich habe womöglich Krebs. Ruf mich bitte zurück!«

Ich nahm nicht die Metro, sondern ging zu Fuß. Morgens war ich noch eine lustige Neununddreißigjährige. Nachmittags eine schwerkranke Frau. Sechs Stunden für den Umschwung von der Unbeschwertheit zum Unerträglichen. Ich schlug die Augen nieder. Weil ich fürchtete, die anderen könnten mir ansehen, dass ich nicht mehr eine von ihnen war. Das Wetter hatte gewechselt. Die Schaufenster, die Straßen, die Gesichter – alles dünstete Weihnachten aus. Ich brauchte ein Notizbuch, ein dickes mit Spiralbindung, um alles aufzuschreiben. Um zu begreifen, was aus mir wurde. Ich ging in ein Papiergeschäft und wählte eines mit blauem Umschlag. Leuchtendes, fröhliches Himmelblau. Der erste Akt meines Widerstands.

*

Matt ließ sich in seinen Sessel fallen. In Mantel und Schal.

»Scheiße!«

Das war alles, was er sagte. Ich hatte ihn auf der Schwelle abgepasst. Gewartet, bis er durch die Tür war, und ihm dann alles erzählt. Tränen hatte ich keine mehr. Nur noch die Worte des Radiologen, die Gesten seiner Assistentin und meine Verzweiflung.

»Morgen habe ich einen Termin bei meinem Arzt.«

»Morgen bin ich unterwegs.«

Ein paar Tage im Monat war Matt immer unterwegs. Aber diesmal passte es schlecht.

»Kannst du das vielleicht verschieben?«

Er verzog den Mund zu einem Nein. Es tue ihm wirklich leid. Aber schließlich habe er die Idee zu diesem Arbeitsfrühstück gehabt, in London, um seinen Kunden die Reise zu ersparen, er habe auch die Tagesordnung festgelegt und seine Mitarbeiter ausgewählt. Das sei sein Fall. Niemand anderer könne das managen. Aber er käme am nächsten Tag wieder zurück, großes Ehrenwort. Dann würde er gleich anrufen, und ich könnte ihm alles erzählen.

Er stand auf. Legte Schal und Mantel ab. Ich stand noch immer mitten im Wohnzimmer.

»Hast du denn nichts geahnt?«

Sein Rücken vor der Garderobe. Wenn er sich Sorgen machte, verfiel er in den kanadischen Akzent seiner Mutter.

»Bitte?«

»So was spürt man doch! Hast du wirklich nichts gemerkt?«

Nein, nichts. Nichts Ernstes jedenfalls. Nur den schmerzenden Knoten, über den meine...

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