Fanny oder Das weiße Land - Roman

Fanny oder Das weiße Land - Roman

von: Beatrix Kramlovsky

hanserblau, 2020

ISBN: 9783446268807

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 1880 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Fanny oder Das weiße Land - Roman



II

Mai 1918


Die Irkutsker Theaterwerkstatt


Liebster, die Sonne strahlt heute; Maxl sortiert Primeltöpfchen im Schaufenster um, und gleich stell ich mir vor, dass bei dir endlich der Frühling einkehrt und uns allen die Hoffnung stärkt.

aus Fannys Brief vom 12.4.1917

Sie wurden sofort voneinander getrennt, ihre Papiere eingesammelt. Wienerisches Deutsch ließ Karl herumfahren, genauso wie Viktor, der sich gerade durch das dichte Gedränge zurück zu seinem Bruder kämpfte. Von den Tischen, auf denen sich Dokumente türmten, blickte ein Rotarmist auf und lächelte.

»Willkommen in der kommunistischen Heimat, Genosse«, klang es in breitem Ottakringerisch.

»Wir gehören zusammen!«, hörte Karl Eduard schreien, und ein neuerliches Geschiebe setzte ein, bis die sechs Männer vor dem Wiener standen.

»Aha. Lauter zwangsbefreundete Haberer! Na, dann schauen wir uns einmal eure Papierln an.«

Der joviale Ton täuschte keinen von ihnen. Über die, die in der Gefangenschaft der kommunistischen Bewegung beigetreten waren, gab es unter den Offizieren eine einheitliche Meinung: Frisch Konvertierte waren in ihrer Begeisterung gefährlich und wollten allzu bereitwillig zweifelsfreie Gefolgschaft für die neue Botschaft beweisen.

»Und ausziehen«, schob der Mann beiläufig nach.

Ein Armist stellte sich mit entsichertem Gewehr hinter sie, einer nahm Rucksäcke, Mäntel, Schuhe, Hosen, Rubaschkas und brachte sie zu einem anderen Tisch, wo sämtliche Taschen geleert und alle Nähte überprüft wurden.

Karl dachte an den perfekt gelungenen Saum seines Hemdes mit den fühlbaren Knoten des Spagats, dem scheinbar abgewetzten Stoff, genau so wie bei vielen Bauern und Militärs, die die Säume ihrer Rubaschkas beschwerten, damit der Eiswind nicht so leicht unter den Leinenstoff geriet. Nur bestand seine Einlage aus dicht gerollten Vierzig-Rubel-Scheinen, den kleinsten, die es gerade gab, nicht größer als ein Omnibusfahrschein in der Heimat. Eduard hatte es genauso gemacht; die anderen hatten ihr Geld im Hosenbund, in einer Falznaht, in verdeckten Futteralen verborgen. Karl traute sich nicht, zum Tisch und zu den Grölenden zu schauen, wenn sie wieder ein Versteck fanden. Aber er sah die unterdrückte Wut im Gesicht seines Bruders, hörte, wie Ludwig schnaufte und dann erleichtert den Atem ausstieß. Also hatten sie sein Schnitzmesserchen nicht gefunden und kein Interesse an der Oboe. Dann setzte neben ihm Imres Summen ein.

»Was denkt ihr denn, mit dem bissl Geld wärt ihr doch nicht weit gekommen«, lachte der Wiener, »und seids mir net bös, aber fälschen könnts ihr auch net gut.«

»Wir wollen halt heim.«

»So ein Quatsch, die warten doch dort nicht auf euch. Wisst ihr, was sich zu Hause abspielt? Hunger, Not, Chaos. Und jetzt auch noch die Grippe. Außerdem könnts ihr noch nicht über den Fluss. Und wir haben jetzt den Scherm auf, weil ihr nicht in Chabarowsk geblieben seids, ihr Trottel.« Er wartete gar keine Antwort ab, gab den Bewaffneten ein Zeichen und wandte sich schon den nächsten zu.

Sie wurden hinausgetrieben, bevor sie richtig angezogen waren, krampfhaft ihre zerlegten Siebensachen an sich pressend; die Papiere drückte der Wiener Eduard in die Hand mit dem Rat, sich doch einmal näher die Grundsätze der kommunistischen Partei anzusehen, die nächsten Monate würden viel verändern; sie kämen jetzt einmal in ein interimistisches Lager, eine neuerliche Flucht sei lachhaft, sie könnten sich da ruhig bei denen umhören, die man schon eingesammelt hätte.

Ein Gefangenenwagen, der abseits der Station auf einem Nebengleis des Güterbahnhofs stand, wurde geöffnet, sie sprangen hinauf, die Tür schloss sich, ein Riegel schnappte hörbar ein, ein Wachtposten bezog Stellung.

Ungläubig bestaunten sie das blank geputzte Klosett, das Waschbecken mit funktionierendem Wasserhahn. Josef befragte den Posten, der nur lachte: Deutsche Soldaten, die vor wenigen Wochen aufgegriffen und hier kaserniert worden waren, hatten den Wagen einer Generalreinigung unterzogen. Wo sie denn jetzt wären, fragte Josef weiter. Da lachte der Posten wieder.

Karl setzte sich auf eine der Bänke bei dem winzigen Ofen und schloss die Augen. Er hatte vor wenigen Tagen damit begonnen, Fannys Briefe der Reihe nach auswendig zu lernen. Er war davon ausgegangen, dass sie ihm vom vielen Lesen schon in Fleisch und Blut übergegangen wären, doch er staunte, wie viel Geschriebenes sich mit Erinnertem bereits zu etwas Neuem vermischt hatte. Es störte ihn nicht, aber er wollte die Originale im Kopf behalten, solange er lebte. Ihr Ton, ihre Wortwahl, ihre Gedankengänge mussten ihn für den Fall begleiten, dass man ihm alles raubte. Es war eine Frage des Überlebens, fand er. Die Fanny seiner Fantasie durfte die Fanny der Wirklichkeit nicht überdecken oder verfälschen. Außerdem würde ihn das weiterhin davor bewahren, den Verstand zu verlieren.

»Sie haben unser Geld geklaut«, knurrte Ludwig.

»Und die Taschenmesser!«

»Eins nach dem anderen«, beruhigte Eduard, während er unbewusst den intakten Saum seiner Rubaschka knetete. »Im Augenblick hilft uns Geld ohnehin nicht. Waschen wir uns, essen wir alles, was wir noch haben, auf, schlafen wir. Ich fürchte, morgen wartet die nächste Überraschung.«

Fanny war ganz sicher zu seinen Eltern ins Mostviertel gezogen, dachte Karl. Sie hatten ausgemacht, im Falle einer ausweglosen Situation würde Fanny mit Max Wien verlassen. Ihre Schwestern hatten genügend mit den eigenen Kindern zu tun, und wer würde schon in einer solchen Zeit Blumen brauchen? Sie würde ein zusätzliches Schloss an der Verbindungstür zur Wohnung anbringen und alles hinter sich absperren.

Seine Eltern hatten Fanny von Anfang an gemocht und das auch gezeigt. Das war mehr, als Fanny seit Jahren vom verwitweten Vater kannte. Als Karl sie 1913 den Eltern mit dem Säugling im Arm vorgestellt hatte, hatte ihre ehrliche Freundlichkeit, ihre Schüchternheit, gepaart mit der Gewissheit einer eigenen Stärke, die zwei alten Leute sofort eingenommen. Draußen im Garten war für den Kaffee unter dem abgeblühten Flieder gedeckt, späte Tulpen leuchteten noch an der Hauswand, Hühner scharrten unter den Obstbäumen, im Hintergrund konnte Fanny die Kaninchenställe sehen. Karl erinnerte sich, dass sie immer wieder unter dem Tisch nach seiner Hand gefasst hatte; sie, die unter ihrer lückenhaften Bildung litt, schätzte, was seine Eltern für beide Söhne ermöglicht hatten, und er wusste, sein schäbiges Daheim besaß allen Glanz erfüllter Wünsche für sie. Damals waren Karls Eltern bekümmert gewesen, dass sie nicht genügend Erspartes besaßen, um zu Kriegsbeginn eine Hochzeitserlaubnis zu erwirken. Später hielt es niemand mehr für lebensnotwendig, Hauptsache, alle kamen durch, und sie konnten den gefangenen Söhnen Notgroschen schicken.

An jenem Wochenende hatte Fanny Max etwas vorgesungen, leise und abgewandt, weil sie ihn gerade stillte, und die Mutter war mit ihrem Alt eingefallen. Viktor, der Vater und er waren still geworden, während das Lied sich über ihnen im Gezweig verfing. Wie eine richtige Familie, hatte Karl gedacht. Das war im Monat vor der Mobilmachung.

Einen Blick auf die Eltern hatte er dann nur noch im Bahnhof erhascht, als sie winkend in der jubelnden Menge standen, während sein Regiment die geschmückten Wagons bestieg.

Karl schlug die Augen auf, zwei Stunden Stillstand im Schlaf zerronnen, Ludwig entzündete gerade die Petroleumfunzel, die über dem Waschbecken hing. Viktor breitete auf der Bank neben sich seine Schätze aus, einen halben Fladen, einen seltsam geformten Knödel Käse, ein Streifen geräucherten Speck, an dessen Fett mittlerweile allerlei Fusseln hingen. Imre besaß einen fest verklebten Klumpen aus gekochten Linsen, gelb verfärbt von Kurkuma und nach den Blättern schmeckend, mit denen sie im Sud gelegen hatten. Josef hatte noch am Ostufer des Baikalsees getrocknetes Obst und etwas Hirsebrei eingehandelt. Salz besaß Karl. Ein Festessen, dachte er und ahnte, dass sie in wenigen Tagen davon träumen würden.

Die Nacht zog sich endlos dahin. Durch die Ritzen drang der Frost, weiße Eiskristalle wuchsen auf den feuchten Holzplanken. Sie saßen dicht gedrängt um den glühenden Ofen, der unaufhaltsam Holzscheite fraß. Über Schultern und Köpfe hatten sie Decken gebreitet. Als wäre der Ofen ein Altar, dachte Karl, und sie wären grob herausgehauene Skulpturen, die noch mit ihrer Steinwand verbunden waren, die auf das schimmernde Leben warteten, das ihnen bald von kleinen...

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