Mit den Augen von Zeitgenossen - Erinnerungen an Paul Celan

Mit den Augen von Zeitgenossen - Erinnerungen an Paul Celan

von: Petro Rychlo

Suhrkamp, 2020

ISBN: 9783518753545

Sprache: Deutsch

469 Seiten, Download: 2678 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mit den Augen von Zeitgenossen - Erinnerungen an Paul Celan



Czernowitz


Moshe Barash
Über Paul Celan
Ein Gespräch mit Cord Barkhausen


Moshe Barash Meine erste Begegnung mit Paul Celan fängt an, als wir wirklich kleine Kinder waren. Ich nehme an, ich war damals vier oder fünf Jahre alt. Paul Celan war um zwei Jahre älter.

Cord Barkhausen Das war 1927 etwa?

M. ‌B. Das war 1927, ja, in Czernowitz. Er ist mir schon damals, und das ist mir merkwürdigerweise erinnerlich, aufgefallen durch ein interessantes, schönes Gesicht. Schön auf eine merkwürdige Weise. Und er hat als Kind in seinen Gesichtszügen schon die ganze Physiognomie des älteren Paul Celan gehabt. Er war ein sehr zurückhaltendes Kind, und nachdem ich auch nicht einer der aktivsten Jungen dort war, haben wir uns ziemlich gut gefunden. Wir haben manchmal auch gespielt in dem Sinne, in welchem Kinder spielen, nämlich mit einem Fußball, das war das Ideal der Kinder, einem auf eine sehr primitive Weise selbsthergestellten Ball, aus irgendwelchen Materialien zusammengestellt. Der größte Teil unserer Begegnungen bestand aus Gesprächen.

C. ‌B. Das ist ja etwas ungewöhnlich, dass Kinder in dem Alter nicht spielen, sondern miteinander sprechen.

M. ‌B. Aber wir haben viel gesprochen. Das ist ziemlich klar.

C. ‌B. Man traf sich, um zu sprechen?

M. ‌B. Ich weiß nicht, ob es richtig ist zu sagen, dass man sich traf, um zu sprechen, aber man traf sich in der Erwartung, dass man sprechen wird. Und es war so eine irgendwie verträumte Atmosphäre, die mir heute rückschauend ein wenig utopisch gefärbt scheint.

C. ‌B. Was meinen Sie damit?

M. ‌B. Das Ganze hatte einen halb irrealen Charakter. Da saßen wir also in der Sonne und sprachen; wenigstens von meiner Seite, ich nehme an, auch von seiner, wussten wir so ziemlich klar, oder wir fühlten es ziemlich klar, dass wir über Phantasien sprechen. Ich sehe vor mir ein sehr lebendiges Bild: Wir saßen auf einem kleinen steinernen Zaun, vor uns ein großer Spielplatz, wo Kinder sich tummeln und großen Lärm machen. Er sprach auf eine merkwürdig verträumte Weise. Ob das seiner allgemeinen Zurückhaltung zuzuschreiben ist, kann ich nicht sagen, aber die Art des Sprechens, also der Ton – sehr leise, ruhig –, ich kann mich z. ‌B. überhaupt nicht an ihn erinnern als schreiend oder als lärmend, als jemanden, der Lärm macht. Es war irgendeine – heute würde ich sagen: so eine besonnene Melancholie über diesem Kinde.

C. ‌B. Aus was für einer Familie kommt er denn?

M. ‌B. Seine Familie, das war eine typisch jüdisch-czernowitzer Familie, d. ‌h. eine Familie, die in der Reichweite der deutschen Kultur aufgewachsen ist, wo man sich bemühte, gutes Deutsch zu sprechen. Es war eines der Merkmale für den jungen Celan und auch für seine Eltern, soweit ich mich sehr dunkel an sie erinnern kann, dass sie sich bemühten, gutes Deutsch zu sprechen. Gutes Deutsch hieß: reines Deutsch. Und reines Deutsch war, das ist vielleicht von Interesse, eine geschriebene eher als eine gesprochene Sprache.

C. ‌B. Also war da vielleicht schon etwas angelegt von der Sprachpräzision Celans?

M. ‌B. Ich glaube schon. Ich meine, ich will da keine poesiegenetischen Theorien aufstellen, aber auf eine intuitive Weise spricht das einen sehr an.

Darf ich noch ein Detail hinzufügen, an das ich mich eben jetzt erinnere, und daran habe ich wirklich schon Jahrzehnte nicht gedacht: Dieser Steinzaun, auf dem wir uns zu treffen pflegten, war gelegen genau an der Grenze zwischen dem streng orthodoxen chassidischen Wohnviertel und einer anderen Stadtgegend, wo die mehr europäisierten Juden wohnten. Gerade an der Grenze trafen wir uns dann. Ich hatte damals den Eindruck – das ist, was in meiner Erinnerung noch bestehenbleibt –, dass zwischen uns beiden in gewissem Sinne die Spannung der zwei Viertel noch lebte. Also ich gehörte mehr zu dem nördlichen, also dem streng chassidischen, Paul Celan gehörte mehr zu dem südlichen, also zu dem etwas mehr europäisierten Viertel. Es war auch interessant: Ich hieß – offiziell – Moses, und dieses junge Kind da hieß Paulus, Paul. Ich will nicht nachträglich Symbolik hinzufügen, aber … […]

Aus irgendwelchen Gründen – ich weiß sie nicht – haben wir uns dann beide irgendwie aus dem Gesichtsfeld verloren. Dann kommt eine zweite Phase, und das war ungefähr um die Zeit – oder vielleicht etwas später – nach der Bar Mizwa. Ich war ungefähr 13, 14 Jahre alt. Das war eine Reihe von Begegnungen, die einen völlig anderen Charakter hatten. Und da erinnere ich mich, dass wir zum großen Teil über Bücher – richtiger gesagt: über Gedichte – gesprochen haben. Ich erinnere mich, dass Paul mir ein merkwürdiges Gedichtbuch geschenkt hatte, das hatte ich bis zum Jahre 41, also bis zum Ende 41, bis zur Gettozeit. Das war eine Anthologie von Gedichten, eine Auswahl von Gedichten, mit der Maschine geschrieben, schön gebunden; die Gedichte waren nicht von ihm – oder fast nicht von ihm –, da waren Stellen aus Nietzsche, da waren einige Rilke-Gedichte, und da war auch ein Gedicht, wo nichts draufgestanden ist, kein Name, und ich nehme an, das war Paul Celans Gedicht. Das war so ein grün gebundenes Heft, das ich sehr klar vor mir sehe. Ich muss sagen: der Gebrauch der Schreibmaschine war schon an sich etwas nicht sehr Übliches.

C. ‌B. Das ist aber doch sehr spannend, wenn man sich überlegt, dass die Schreibmaschine ein anonymes Instrument ist, man weiß nicht, von wem welche Gedichte stammen können, dann hat er sich da untergereiht, und es ist kein Autor mehr festzustellen ‌…

M. ‌B. Eben! Wir haben viel über die Gedichte gesprochen. Ich glaube mich zu erinnern – ich will mich vorsichtig ausdrücken –, dass er eigentlich sehr viel über die Atmosphäre gesprochen hat, also über den allgemeinen Gefühlscharakter dieser Gedichte.

Aus jener Zeit also – vielleicht war das 35, 36 – sind mir noch zwei Problemkreise in Erinnerung, sehr verschiedener Art und doch irgendwie zusammenhängend. Das eine war: Ich ärgerte mich über seinen Namen. Über den Namen Paul. Ich hieß damals Moses, also heute Moshe, was natürlich die hebräische Urform von Moses ist. Paul, das war etwas, was fremd klang. Eine dunkle Erinnerung sagt mir – aber ich würde nicht zu sehr dafür einstehen –, dass er mir irgendwie geantwortet hat: Ich hab' mir ja nicht selber den Namen gegeben, also weder es verteidigt noch seinen Unmut ausgesprochen, aber irgendwie der Sache aus dem Wege gegangen ist.

C. ‌B. Haben Sie damit irgendeine Problematik von ihm angesprochen, dass er einen christlichen Namen hat, aber Jude ist und aus jüdischer, zionistischer …

M. ‌B. Ich habe wahrscheinlich etwas in ihm angesprochen da, was viel tiefer ging, als ich wusste. Denn er war natürlich aus völlig jüdischer Familie, aus einer sehr zionistischen Familie, aber er war damals, wenn ich nicht irre, in einem Stadium, wo manche dieser Dinge anfingen, fragwürdig zu werden. Die Frage: »Warum heißt Du Paul?« war natürlich eine Frage – ich weiß nicht, ob ich es damals so gewusst habe –, warum machst Du Deine Identität nicht völlig klar. Der Name Paul war ein Name, der von manchen unter uns Kindern damals als eine Verhüllung gedeutet wurde oder gedeutet werden konnte.

Und dann gab es noch ein Thema, über das wir öfter gesprochen haben. Das Thema mag im Retrospekt eigentlich...

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