Alles hat seine Geschichte ... - Eine Weltreise durch Zeit und Raum

Alles hat seine Geschichte ... - Eine Weltreise durch Zeit und Raum

von: Norman Davies

Theiss in der Verlag Herder GmbH, 2020

ISBN: 9783806241242

Sprache: Deutsch

332 Seiten, Download: 29504 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Alles hat seine Geschichte ... - Eine Weltreise durch Zeit und Raum



Einleitung
Wo die Zitronen blühn – Von Pilgern und Entdeckern


Die liebste Lektüre meiner Mutter war John Bunyans Pilgerreise (The Pilgrim’s Progress).1 Über Jahre lag dieses Buch auf ihrem Nachttisch, fast wie ein stiller Tadel an die Adresse meines Vaters, dessen sehr viel seichterer Lieblingsschmöker, Der Graf von Monte Christo, stets neben seinem Kissen auf der gegenüberliegenden Seite des Bettes zu finden war.2 Die Helden dieser beiden Bücher verkörperten die so verschiedenen Gemüter meiner Eltern – und ich habe allen Grund zu der Annahme, dass „der Pilger“ und „der Graf“ auch in jenen Augenblicken diskret zugegen waren, in denen mein eigener Lebensweg seinen Anfang nahm.

Trotz einer obligatorischen Wallfahrt zu der Stelle, wo in Elstow, Bedfordshire, einmal sein Geburtshaus gestanden hatte – ich muss damals sieben oder acht Jahre alt gewesen sein –, bin ich mit Bunyan nie wirklich warm geworden. Er ist Puritaner gewesen – mehr noch: ein puritanischer Prediger, ernst und streng. Und doch habe ich ausgerechnet bei ihm jene wunderbare Allegorie kennengelernt, die den Lebensweg als eine Reise durch wechselvolles Gelände beschreibt, mitsamt allen „Sümpfen der Verzweiflung“, aber auch mit „herrlichen Höhen“; als eine Reise, an deren Ende die Ankunft in einer „himmlischen Stadt“ lockt. Bei der allmorgendlichen Schulversammlung schmetterten wir aus voller Kehle Bunyans mitreißendes To Be a Pilgrim, das einzige Kirchenlied aus seiner Feder:

He who would valiant be

’Gainst all disaster,

Let him in constancy

Follow the Master.

There’s no discouragement

Shall make him once relent

His first avowed intent

To be a pilgrim.

Wer sich im Lebenssturm

fest will bewähren,

folge dem Meister nur

und seinen Lehren.

Keiner Enttäuschung Schlag

zeitigt, dass er verzagt

und schließlich ganz entsagt

dem Weg des Pilgers.3

Die markante Melodie von Ralph Vaughan Williams, nach der Bunyans Text heute meist gesungen wird, trägt zu der immensen Wirkung des Liedes noch einiges bei.

Das Singen von Kirchenliedern war ein wesentlicher Teil meiner Erziehung. Noch immer kann ich mich ans Klavier setzen und Dutzende dieser Lieder aus dem Gedächtnis spielen. Aber keines davon kommt für mich an Cwm Rhondda heran, ein ursprünglich walisisches Lied, das als „Gebet um Stärke auf der Reise durch die Wildnisse dieser Welt“ ins Englische übertragen wurde. Es erklingt in einem kräftigen As-Dur und ist, was kräftigende Kirchenlieder angeht, das Stärkungsmittel überhaupt:

Guide me O Thou, Great Redeemer,

Pilgrim in this barren land.

I am weak, but Thou art mighty;

Hold me with Thy powerful hand.

Bread of Heaven! Bread of Heaven!

Feed me till I want no more.

When I pass the banks of Jordan

Bid my anxious fears subside.

Death of death, and Hell’s destruction

Bring me safe to Canaan’s side.

Songs of Praises! Songs of Praises!

I will ever give to Thee.

Leite mich, du großer Retter,

den Pilger in der Wüstenei.

Ich bin schwach, doch du bist mächtig;

deine Rechte mach’ mich frei.

Brot vom Himmel! Brot vom Himmel!

Gib mir, bis ich hab’ genug.

Wenn ich Jordans Fluten quere,

lindre meiner Ängste Qual. Todes

Tod, der Höll’ Zernichtung

führ’ mich heim in Kanaans Saal.

Halleluja! Halleluja!

will ich singen immerdar.4

Wann immer ein „Sumpf der Verzweiflung“ sich drohend auftut: ein oder zwei schnelle Durchgänge von Cwm Rhondda, und man kann seine Reise sicheren Schrittes fortsetzen.

Ein- oder zweimal im Jahr nimmt mein Sohn Christian (der unter anderem nach dem Helden von Bunyans Buch so getauft wurde) mich mit ins Millennium Stadium von Cardiff – um ein Rugbyspiel zu sehen, natürlich, aber auch, damit ich den Fangesängen lauschen kann. Bei diesen Gelegenheiten wird der walisische Text von Cwm Rhondda gesungen, und das sogar mit noch mehr Inbrunst:

Arglwydd, arwain trwy’r

Fi berein gwael ei wedd

Na does ynof nerth na bywyd

Fel yn gorwedd yn y bedd:

Hollaluog! Hollaluog!

Ydw’r Un a’m cwyd i lan

Ydyw’r Un a’m cwyd i lan.5

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter haben ältere Brüder im Ersten Weltkrieg verloren, der noch heute in Großbritannien schlicht als „der große Krieg“, the Great War, bezeichnet wird. Die meisten populären Stücke aus ihrem Liederschatz entstammten jenen Kriegsjahren und tauchten – damit ich auch noch etwas davon hatte – in den 1960er-Jahren in Joan Littlewoods brillantem (später auch verfilmten) Satire-Musical Oh, What a Lovely War! wieder auf. Meist geht es in diesen Liedern um Verlust und Sehnsucht:

There’s a long, long trail a-winding

Into the land of my dreams

Where the nightingales are singing,

And a white moon beams.

There’s a long, long night of waiting

Until my dreams come true,

Till the day when I’ll be going down

That long, long trail with you.

Eine lange Straße windet

sich für mich in einen Traum,

wo die Nachtigall verkündet

Fried’ in mondbeglänztem Baum.

Eine lange Nacht, die dauert

ohne dich noch mal so lang –

wann erwach’ ich mit dem Schauer,

dass ich mit dir dort wandeln kann?6

Nur wenige moderne Popsongs, finde ich, können da mithalten, was Melodie, Stimmung oder Aussage angeht.

In der achten oder neunten Klasse lasen wir in der Schule William Hazlitts On Going a Journey („Über das Reisen zu Fuß“), einen Klassiker des englischen Essays. Für mich war es eine wahre Offenbarung, dass da einer seine eigenen Gedanken und Gefühle mit derart gründlicher Präzision – und in aller Seelenruhe! – zergliedern und reflektieren konnte. Hazlitt (1778–1830), der tatsächlich ein ziemlich erbärmliches Leben führen musste, feiert in seinem Essay die Freuden der Einsamkeit und den therapeutischen Nutzen des Reisens. Am bekanntesten ist der folgende Satz: It is better to travel than to arrive – „Reisen ist besser als ankommen“ oder anders gesagt: Der Weg ist das Ziel. Aber Hazlitts Text enthält noch weitere Perlen: „Nie bin ich weniger allein, als wenn ich ganz allein bin“ etwa oder das folgende Motto: „Gebt mir den strahlend blauen Himmel über mir, das saftig-grüne Gras unter meinen Füßen und drei Stunden Fußmarsch bis zum Abendessen – und dann wird nachgedacht!“7

Zu meinem ewigen Vorteil teilten gleich mehrere meiner Lehrer Hazlitts Philosophie; immer wieder unternahmen sie mit uns Ausflüge, bei denen wir jede Menge saftig-grünes Gras unter die Füße bekamen. Ich kann nicht sehr viel älter als zehn Jahre gewesen sein, da hatte ich bereits die fells des nordenglischen Lake District erklommen, angefangen mit dem Helvellyn und seinen immerhin 951 Metern; ich hatte den Peak District in Mittelengland erkundet (zuerst bestiegen wir den Mam Tor) und war über die Lichtungen des altehrwürdigen New Forest in Südengland gestreift, wo wir in Queen’s Bower auf der Isle of Wight unser Lager aufgeschlagen hatten. Ich war durch die Einöde von Dartmoor im Südwesten Englands gewandert und hatte mein Zelt vor den Mauern einer Burg in den schottischen Highlands aufgeschlagen, während der Dudelsackspieler des lairds – des Burgherrn – uns eine Serenade blies.

Ein weiterer Lehrer, der in nur kurzer Zeit einen tiefen Einfluss auf mich ausübte, war David Curnow, der später Professor für englische Literatur an der Amerikanischen Universität von Beirut werden sollte. Als jungem Cambridge-Absolventen hatte man ihm die beinah unmögliche Aufgabe übertragen, in die Dickschädel einer Horde von Oberstufenschülern, die noch dazu Englisch als Hauptfach bereits abgewählt hatten, so etwas wie literarische Sensibilität einzutrichtern. Hochgewachsen und elegant, spielte er seine Rolle perfekt: das Haar zu einer modischen Tolle nach Art der Teddy Boys frisiert, mit einer etwas geckenhaften Krawatte angetan und in Hosen aus Cavalry-Twill, an deren akkurat gepressten Bügelfalten man sich hätte schneiden können. Seine Strategie war es, leise und unauffällig den Raum zu betreten, die Hände in den Hosentaschen – wobei er den Tumult, den wir gerade veranstalteten, vollkommen ignorierte –, sich ein Stück Kreide zu schnappen und (ohne auch nur ein Wort zu sagen) einige Verse an die Tafel zu schreiben. Dann drehte er sich blitzschnell um, sah den Dickschädeln unerschrocken ins Auge (wobei er weiter schwieg) – und wartete auf eine Reaktion:

Ah Sun-flower! weary of time,

Who countest the steps of the Sun:

Seeking after that sweet golden clime

Where the traveller’s journey is done.

Where the...

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