Corona - Geschichte eines angekündigten Sterbens

Corona - Geschichte eines angekündigten Sterbens

von: Cordt Schnibben, David Schraven

dtv, 2020

ISBN: 9783423438230

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 891 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Corona - Geschichte eines angekündigten Sterbens



Vorwort


An dieser Stelle sollte eigentlich der Text eines Menschen stehen, der beängstigende Wochen hinter sich und mühsame Monate vor sich hat. Der Journalist war willens, zu beschreiben, wie das Virus – wahrscheinlich in New York – Besitz von ihm ergriff, wie er es mit nach Deutschland brachte. Und wie er dann in der Berliner Charité darum kämpfen musste, nicht zu verlieren gegen dieses Wesen, das einen Namen hat wie aus einem düsteren Science-Fiction Film. SARS-CoV-2.

Thomas, nennen wir ihn so, konnte dieses Vorwort nicht schreiben, weil er, wie er in einer SMS schrieb, »jeden Tag Untersuchungen« hat. Obwohl er vor zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Die Ärzte suchen in seinem Körper immer noch nach den Schäden, die der Eindringling angerichtet hat, in der Leber, im Darm, überall.

Thomas wollte diesen Text unbedingt schreiben, weil er sich in den Wochen seiner Krankheit über die Leute aufgeregt hat, die ihm auf Demonstrationen und in den sozialen Medien klarmachen wollen, dass das Virus, wenn überhaupt, nur alten Menschen oder Risikopatienten gefährlich werden könne.

Thomas ist weder alt noch vorbelastet. Er kann in den Stunden am Tag, die er nicht bei Ärzten verbringt, nur schlafen, essen und erschöpft sein. Er kämpfte, er schrieb, er kapitulierte. Irgendwann beschlossen wir, dass ein ungeschriebener Text die gleiche Botschaft haben kann wie ein geschriebener.

Unter Journalisten kenne ich inzwischen vier Kollegen, die nach überstandenen Wochen im Krankenhaus monatelang damit zu tun haben werden, wieder der Mensch zu werden, der sie mal waren.

Während Thomas im Krankenhaus lag, sind draußen viele Menschen lauter geworden. Sie wollen zurück zu dem, was sie für Normalität halten. Sie gehören zu den 30 Prozent der Bevölkerung, die nicht glauben, sich anstecken zu können, vielleicht sogar zu den 20 Prozent, die SARS-CoV-2 für einen Schwindel halten.

Fünf Monate Pandemie sind ein Crashkurs für alle, für die Ängstlichen wie für die Sorglosen. Am Anfang, zurückgeworfen in die eigenen vier Wände, verteilt über fünf Wohnungen, traf sich unsere Familie samstags zum gemeinsamen Corona-Kaffee, fünf Kinder, sieben Enkelkinder, vor den Screens ihrer Computer und Smartphones. Es gab Rhabarberkuchen, Apfelkuchen und irgendwo auch frisch Gegrilltes, ein lustiges Gewinke, die Enkel krähten nach ihrer »Nana«, und die musste die Tränen wegdrücken.

Seit die Bildschirme wieder leer sind, ist er wieder da, der angstvolle Blick in die nächsten Wochen und die Erinnerung an eine Beobachtung von Frank Schirrmacher, beschrieben in seinem Buch ›Minimum‹. In den großen Krisen der Menschheit werde die Familie zur Schicksalsgemeinschaft, die Menschen suchten Schutz und Trost zuerst in ihrer Familie, »denn in jedem Familienmitglied lebt ein Vertrauen aus Urzeiten: Was immer geschieht, man wird nicht im Stich gelassen«.

Dieses Virus, das nicht heimtückisch sein kann, weil es kein Lebewesen ist, dieses Virus zerstört neben Lungen dieses Urvertrauen – und das beschreibt die tückische Angst, die das Virus auslöst: Um das Virus zu bekämpfen, muss der Mensch die Familie zerlegen in die Gefährdeten und die Gefährder, und er muss sie voneinander isolieren.

Das Virus ist im doppelten Sinn ein innerer Feind: Er attackiert unsere Körper, und er attackiert unser Denken; er attackiert unser Leben, auch wenn wir überleben. Das Virus entfacht einen inneren Bürgerkrieg: Der besorgte Bürger in uns kämpft mit dem sorglosen Bürger. Wer sich diesen inneren Streit nicht eingesteht und nach außen entweder als Propagandist für den radikalen Shutdown oder für die rücksichtslose Rückkehr zur Normalität auftritt, belügt sich.

Diesen inneren Meinungsstreit zwischen Angst und Zuversicht, zwischen Sehnsucht und Einsicht trägt fast jede und jeder aus. Dieser Streit ist mal ein ruhiger Dialog, mal ein wüstes Geschrei, besonders dann, wenn man etwa gegen Mitternacht auf CNN die Horror-Show aus dem Weißen Haus verfolgt: Ein US-Präsident, der mit Zahlen von 100.000, 200.000 oder 2 Millionen Toten Amerikanern herumhantiert und sich – während er diese Modellrechnungen referiert – einen Scherz über sein Verhältnis zu Models erlaubt. Über 60.000 infizierte Ärztinnen und Ärzte, Schwestern und Pfleger in den USA, das ist die schlimmste Zahl einer Seuchenpolitik der Ignoranz.

In der ersten Phase der Pandemie sahen wir die Kanzlerin vor die Mikrofone treten und uns die halbe Wahrheit verkünden. Wir dachten uns, das macht sie, um uns keine Angst zu machen. Aber wir haben das Internet, wir können rechnen, wir sind keine blöden Untertanen. Und deshalb fragten wir uns: Wenn die Regierenden längst wissen, das es schlimmer steht, als ihre Maßnahmen uns glauben machen sollen, warum greifen sie nicht gleich zu den Maßnahmen, die der Lage entsprechen? Also zu den Maßnahmen, die in Taiwan, Südkorea und China geholfen haben, den Anstieg der Infiziertenzahlen zu brechen? Kann es sein, dass der Regierende in der Demokratie glaubt, uns wirksame Maßnahmen erst zumuten zu können, wenn die Wirklichkeit uns beweist, dass sie zu spät kommen?

In der zweiten Phase der Pandemie hat sich dann so etwas wie Herdenmentalität etabliert. Die überforderte Regierung hörte endlich auf den Rat der gesammelten Virologen. Und die Bürger hörten auf die Regierung. Die Bilder der Ohnmacht aus Italien hatten Regierung und Bürger so eingeschüchtert, dass man für einige Zeit das Gefühl hatte, eine wissenschaftsgläubige Regierung und ein regierungsgläubiges Volk werden dem Virus vorbildlich trotzen. Zudem bestätigte der schon fast unheimliche Gleichklang vieler Regierungen, dass ein Shutdown, mindestens aber ein Lockdown, richtig sein musste.

Diese Dreieinigkeit zwischen Politik, Wissenschaft und Volk funktionierte, weil die Botschaften der Wissenschaft einheitlich und beängstigend genug waren. Als Wissenschaftler dann das taten, was Wissenschaftler nun mal machen müssen, neue Erkenntnisse suchen, sich widersprechen und sich korrigieren, verloren die Regierenden ihre Kronzeugen und zu viele Bürger das Vertrauen.

»Wir werden wahrscheinlich einander viel verzeihen müssen«, sagte der Gesundheitsminister im Bundestag – ein ehrlicher, wenn auch verräterischer Satz. Da war den Regierenden schon klar, dass es in der dritten Phase der Pandemie so sein würde wie immer. Streit und Parteitaktik.

Bis dahin hatte sich schon einiges an Verzeihmaterial angehäuft. Erstens der lustige Glaube, ein sich rasch vermehrendes Virus in China werde schön in Asien bleiben. Zweitens die – trotz Pandemieplan – lückenhafte Vorbereitung auf eine Pandemie in deutschen Kommunen und Krankenhäusern. Drittens die Maskenkomödie: bringen nix, sowieso zu wenig da, näht euch die selbst, Maskenpflicht! Viertens das Testvakuum, wochenlang immer zu wenig.

Aus dem Lockdown wieder herauszukommen, das ist, so wissen wir nach fünf Monaten Coronacrashkurs, die eigentliche Kunst. Weshalb die Schweden immer gesagt haben, wir gehen gar nicht erst in den Lockdown. Kuchen wird jetzt sonntags nicht mehr per Zoom gegessen, aber immer nur zwei Kinder mit Partnern und Enkeln gleichzeitig am Gartentisch im Garten.

In der dritten Phase der Pandemie, der Lockerung, lesen wir die Zahlen der Pandemie unterschiedlich: Für die einen bedeuten sie, alles ist nicht so schlimm gekommen wie prophezeit; für die anderen sagen sie, bloß nicht weiter lockern, dann werden die Zahlen so schlecht wie befürchtet.

Zahlen sind für uns wie Frontberichte. Infizierte, Getestete, Tote, Genesende; Tote pro 100.000 Einwohner, Tote im Verhältnis zu Getesteten, Zuwachs der Infizierten am Tag. Es ist beruhigend, wenn man dieses unsichtbare, gefährliche, allgegenwärtige Ding in eine Zahl verwandeln kann. Jeder hat Zahlenkolonnen, aus denen er Angst oder Hoffnung schöpft. Und Zahlen waren in den letzten Monaten der Grund dafür, dass wir gläubig in den Lockdown gefolgt sind.

Wie hoch die Ausbreitungsgeschwindigkeit ist, die Sterblichkeitsrate, die Verdopplungszeit, darauf haben wir bis jetzt geachtet, jetzt lernen wir, dass die Reproduktionsrate die entscheidende Zahl ist. Sie ist zu dem Zeitpunkt »eins«, sie soll am besten deutlich unter »eins« sein, das hat auch die Kanzlerin, da mal ganz die Physikerin, auf den Pressekonferenzen so eindringlich und überzeugend vertreten, dass seither in allen Nachrichtensendungen die Zahl erklärt wird als das Tor zur Normalität: Wenn jeder Infizierte zukünftig nur noch weniger als einen Menschen ansteckt, stirbt das Virus irgendwann aus, logisch.

Kaum die Reproduktionszahl kapiert, müssen wir kurz darauf lernen, auf Zahlen in Landkreisen zu schauen: Wenn sich in einem Landkreis pro 100.000 Einwohnern in einer Woche mehr als 50 Leute infizieren, müssen Maßnahmen zur Eindämmung ergriffen werden. Ja klar. Verstehen wir, im Verlaufe einer Pandemie muss man den Maßstab zur Beurteilung der Lage verändern. In der Phase des exponentiellen Wachstums braucht man einen anderen Maßstab als in der Phase des Ausstiegs aus dem Lockdown. Klar ist aber auch: Wenn sich das Vertrauen in Politik aus Zahlen ableitet, fördern wechselnde Bezugsgrößen das Misstrauen.

Was vor Monaten noch ein einig Volk von Coronabürgern war, ist jetzt eine Klassengesellschaft: Die Klasse der Homeoffice-Eltern mit Kind denkt anders über den Lockdown...

Kategorien

Service

Info/Kontakt