Vom Schweden, der den Zug nahm - und die Welt mit anderen Augen sah
von: Per J. Andersson
Verlag C.H.Beck, 2020
ISBN: 9783406751288
Sprache: Deutsch
379 Seiten, Download: 3515 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Vorwort
Großmutter und ich nahmen den Zug. So hat es angefangen. Wir fuhren von Bohuslän, wo meine Familie lebte, zu ihr und Großvater hinauf nach Dalarna. Ich war fünf Jahre alt, und sie war frisch gebackene Rentnerin. Während ihres Berufslebens hatte sie im Bahnhofsrestaurant von Krylbo als Kellnerin gearbeitet und auch in den Zügen nach Stockholm Butterbrote verkauft. Großvater hatte im Stellwerk Waggons und Loks gewechselt und war im Laufe der Zeit Stellwerksmeister und dann Stationsvorsteher geworden.
Wir fuhren mit dem sogenannten Snälltåg. So wurden diese etwas schnelleren Züge in einer Verschwedischung des deutschen Wortes schnell genannt. Nun heißt snäll auf Schwedisch aber nett, und ich glaubte natürlich, die Züge würden so heißen, weil alle, die dort arbeiteten, wie auch meine Großmutter, sehr, sehr nett waren. Irgendwie glaube ich das heute immer noch. Deshalb war ich besonders erstaunt, als ich kürzlich erst lernte, dass das schwedische snäll tatsächlich seinen Wortursprung im deutschen schnell hat, dass das Wort dann aber eine ausgedehnte Bedeutungsveränderung von erst aktiv, lebendig und schnell zu geschickt und brillant durchgemacht hat, um dann zu begabt, klug und am Ende zu nett, freundlich zu werden.
Die Expansion der Eisenbahn hatte dafür gesorgt, dass meine Großeltern ein anderes Leben hatten wählen können, als ihre Eltern es gelebt hatten. Sie hatten die Bauernhöfe in Grytnäs und Jularbo, auf denen sie aufgewachsen waren, verlassen und in den kleinen Ort Krylbo mit dem Bahnknotenpunkt ziehen können, wo sie sichere staatliche Anstellungen im Dienst der neuen Infrastruktur fanden. Als Eisenbahnbedienstete bekamen sie Freifahrten. Sie besaßen niemals ein Auto oder einen Führerschein. Die wenigen Urlaubsreisen, die sie machten, unternahmen sie mit der Bahn. Die Eisenbahn war eine Zukunftsbranche, und sie waren dabei. Auf diese Weise bekamen sie Essen auf den Tisch, wachsenden Wohlstand und eine Zukunft, so dass sie bald aus der engen Mietwohnung ausziehen und sich ein eigenes Haus bauen konnten. Die Eisenbahn schenkte ihnen Sicherheit, die es ihnen auch ermöglichte, vier Kinder großzuziehen.
Früher habe ich nie so gedacht, und es ist auch nichts, worüber wir in der Familie gesprochen haben. Vielleicht weil es selbstverständlich war. Doch je häufiger ich meinen Vater über die verschiedenen Berufe, die meine Vorväter hatten, ausgefragt habe, desto klarer wurde mir, welche entscheidende Rolle die Eisenbahn auch auf seiner Seite der Familie spielte. Einer seiner ersten Jobs war das Rangieren von Güterwaggons, während sein Vater wiederum erst Heizer auf den Dampfloks der Södra Dalarnes Eisenbahn-Aktiengesellschaft war. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wechselte mein Großvater väterlicherseits in die Metallindustrie nach Surhammars bruk – seit 1866 einer der größten europäischen Hersteller von Eisenbahnrädern und -achsen. Und nach dem Zweiten Weltkrieg ging er zum Eisenwerk Avesta, das Stehtoiletten aus Blech für die Indian Railways herstellte.
Als ich als Teenager begann, selbständig zu reisen, war es die Eisenbahn, die mich in die Welt hinausbrachte, weil sie einfach, praktisch und vor allem die billigste Alternative war. Wenn es einen Zug gab, dann nahm ich selbstverständlich den. Mit einem preiswerten Jugendticket, das Transalpino hieß, reiste ich über Trelleborg, Sassnitz, Berlin, Prag und Belgrad nach Athen. Von dort nahm ich das Schiff nach Israel, dann ging es mit dem Bus weiter nach Ägypten, bevor ich die Fahrt per Zug von Kairo den Nil herunter bis Luxor fortsetzte. Später reiste ich mit dem Interrailticket durch Europa, besuchte Freunde von früheren Reisen, sprang auf die Fähre nach Tanger und dann in den Zug nach Marrakesch und … ja, ich fühlte mich wie ein echter Kosmopolit.
Nachdem ich in Europa, dem Nahen Osten und Nordafrika gewesen war, begab ich mich nach Osten. Doch nach Asien flog ich. Der Landweg durch den Iran und Afghanistan war zu unsicher geworden. Zu Beginn der Achtzigerjahre gab es aber auch keine Klimadebatte. Die meisten glaubten, die Umweltzerstörung käme durch Benzinabgase, Waschmittel mit Phosphaten, Industrieausstöße und Kernkraftmüll. Wenn es ein Transportmittel gab, das schlecht für die Umwelt war, dann war es das Auto. Das Flugzeug hinterließ nur einen schimmernden Kondensstreifen. Der konnte doch wohl niemandem schaden, oder?
In Indien selbst bewegte ich mich dann fast ausschließlich mit dem Zug. Selbst dort war das Fliegen zu teuer und darüber hinaus ebenso langweilig und anonym wie überall. Der Zug war immer meine erste Wahl.
Die langen Zugreisen, die auch viele Stunden schweigender Betrachtung der Landschaften vor dem Fenster boten, halfen mir, meinen eigenen Gedanken nachzugehen. Einen Gedanken zu Ende zu denken. Sonst wird man ja in seinem Nachdenken so oft unterbrochen.
Zwischen den Zugreisen wurden im Laufe der Zeit die Flugreisen immer zahlreicher, und dies vor allem aufgrund meines Berufes als Reiseschriftsteller. Doch wie die meisten anderen Menschen dehnte auch ich meine privaten Urlaubsflüge ins Ausland aus, als die Preise für ein Flugticket sanken, während gleichzeitig die Zugfahrkarten teurer wurden.
Als die Auswirkungen des Kohlendioxid-Ausstoßes auf das Klima im Zusammenhang mit der Premiere von Al Gores Film Eine unbequeme Wahrheit 2006 und im folgenden Jahr durch einen Bericht des Weltklimarates der Vereinten Nationen IPCC zu einer heiß diskutierten globalen Frage wurden, begann ich, mich mit den Argumenten auseinanderzusetzen, dass ein Viertel von Europas Kohlendioxid-Ausstoß aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe durch Transporte herrührt, und dass das Auto zwar durchaus der schlimmste Sündenbock ist, aber dass Fliegen und Seefahrt gleich an zweiter Stelle kommen. Ich verkaufte das Auto, fuhr innerhalb Schwedens mehr mit dem Zug, flog aber weiterhin, wenn ich den Rest der Welt besuchte. Es war so unkompliziert und preiswert, und zu reisen und zu schreiben war schließlich immer noch mein Beruf.
Erst als ich kürzlich eingeladen wurde, auf einem Literaturfestival auf Bali über eines meiner Bücher zu sprechen, wuchsen all die kleinen, durch Unmengen von Zeitungsartikeln vermittelten Besorgnismomente zu dem starken Gefühl, dass mit dem Reiseverhalten von mir und meinen Zeitgenossen irgendetwas grundsätzlich nicht stimmte. Das Flugticket nach Bali hin und zurück bedeutet ja fast dreitausend Meilen Flug. Zum ersten Mal riefen all die Umweltfakten, über die ich gelesen hatte – und über die ich selbst Artikel geschrieben hatte –, ein unbehagliches Gefühl hervor. Selbst wenn das Festival zu unschätzbaren Begegnungen mit Schriftstellern aus der ganzen Welt (die wohl kaum durch Skype-Gespräche am Computer hätten ersetzt werden können) einlud, so trug ich doch mit nur einer einzigen derart langen Flugreise zu einem größeren Ausstoß an Treibhausgasen bei, als ich in meinem ganzen Leben durch alle U-Bahnfahrten zur Arbeit produziert hatte. Mir wurde klar, dass ich die Augen nicht mehr vor der Tatsache verschließen konnte, dass ich, der begeisterte Weltreisende, ein Teil des Problems war.
Doch dann erwachten meine Verteidigungsmechanismen zum Leben. So sind wir einfach, wir Menschen. Was spielte es für eine Rolle, ob ich mich noch in jenes Flugzeug dazu setzte oder nicht? Es würde ja in jedem Fall fliegen und seine Treibhausgase ausstoßen, auch wenn ich am Boden blieb. Sofort fühlte sich alles besser an. Doch der bittere Nachgeschmack des schlechten Gewissens kehrte zurück. Also machte ich einen Test im Netz, um zu sehen, wie groß der Kohlendioxid-Ausstoß war, den mein Lebensstil verursachte. Vielleicht war es ja gar nicht so schlimm, wie ich dachte? Und zu Beginn sah es gut aus, weil ich in einer Wohnung in der Stadt lebe, immer noch kein Auto habe, sondern im Alltag stets zu Fuß gehe, mit dem Fahrrad fahre oder Zug oder U-Bahn nehme. Außerdem esse ich nur wenig Fleisch und kaufe sehr selten neue Kleidung. Das ergab im Test, dass meine Werte nur halb so hoch waren wie die des Durchschnittseuropäers. Ich hatte das Gefühl, aufatmen zu können. Vielleicht war mein Lebensstil sogar vorbildlich? War ich kein Sünder, sondern ein Büßender?
Doch in meinem tiefsten Innern wusste ich, dass das nicht stimmte. Denn bisher hatte ich nur getestet, wie ich den Alltag in meiner Heimatstadt verbrachte. Dann waren da aber noch meine beruflichen Reisen in die Welt, die ich zwar immer öfter mit dem Zug unternahm, aber immer noch auch mit dem Flugzeug.
Ich sah mich gezwungen, ein weiteres Mal zur...