Visitation Street (eBook)

Visitation Street (eBook)

von: Ivy Pochoda

ars vivendi, 2020

ISBN: 9783747201640

Sprache: Deutsch

350 Seiten, Download: 1331 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Visitation Street (eBook)



 

eins

Der Sommer ist die Party der anderen. Er gehört den Hipstern, die man in ausgelatschten Sneakers und farbbespritzten Jeans neuerdings aus der Bar ein paar Häuser weiter kommen sieht. Er gehört den puerto-ricanischen Familien mit ihren Aluschalen voll Fleisch, ihren Holzkohlengrills, von denen Rauchsignale aufsteigen, er gehört sogar den alten Männern, die vor dem Veteranentreff VFW sitzen und das Viertel an sich vorüberziehen lassen.

Val und June liegen im ersten Stock von Vals Elternhaus in der Visitation Street auf dem Bett. Sie schauen zu den gepflegten zweistöckigen Backsteinreihenhäusern hinüber und warten darauf, dass der Abend Gestalt annimmt.

June hat die Nummern von zwanzig Jungs in ihrem Handy – zehn würde sie selbst gern küssen, zehn, schwört sie, sind scharf drauf, sie zu küssen –, und trotzdem sind die Mädchen allein. June scrollt durch ihr Telefonbuch, ob sie nicht jemanden vergessen hat; ihr lackierter Fingernagel klickt auf das Display. Wenn sie so weitermacht, ist der Akku bis Mitternacht leer – hofft Val.

Die beiden haben in der Kinderkrippe der Kirche Visitation of the Blessed Virgin Mary wieder den ganzen Tag Babys betreut und nichts vom Sommer gehabt. Sie haben den Gemeinschaftspool und die offenen Hydranten verpasst. Sie haben erneut die Gelegenheit verpasst, im Bikini auf der Vordertreppe zu sitzen. Sie haben den langsamen Übergang vom Nachmittag zum Abend, vom Rumhängen zum Rausgehen verpasst. Aber wenigstens haben sie ein bisschen Geld verdient, für später, wenn sie alt genug sind, um es für etwas Interessantes auszugeben. Mit ihren fünfzehn Jahren ist alles Interessante für sie noch außer Reichweite.

Die Visitation Street ist eine der schönsten in Red Hook, eine von Bäumen gesäumte Wohnstraße im überwiegend weißen, am Wasser gelegenen Teil des Viertels. Red Hook, durch den Expressway von Carroll Gardens mit seinen prächtigen Brownstone-Straßenzügen abgeschnitten, liegt auf einer anderthalb Kilometer langen Landzunge an der Südspitze Brooklyns, dort, wo der East River in die Bucht mündet. Der Coffey Park in der Mitte des Viertels trennt das »Vorn«, den verfallenden, aufgegebenen Teil am Wasser, von der Festung des »Hinten« mit den Sozialbauten und Billigsupermärkten.

Überall ringsum heizt sich der Abend auf. Die Vordertreppen füllen sich, manche mit neu Zugezogenen in Secondhandklamotten, andere mit grauhaarigen Männern, die die Luft durch die Zähne ziehen, als könnten sie sich damit Kühlung verschaffen. Es ist ein heißer Abend nach einer ganzen Reihe heißer Wochen. Der Gemeinschaftspool war den Tag über brechend voll, die Betoneinfassung ein Mosaik aus bunten Handtüchern. Die Männer von der Feuerwehr, die Red Hook Raiders und die Happy Hookers, haben Überstunden gemacht und sind durch die Straßen gefahren, um unerlaubt geöffnete Hydranten zu schließen und den Kindern zu sagen, sie sollen sich woanders abkühlen. Die Leute sind sich aus dem Weg gegangen, so gut sie konnten. Inzwischen hat jeder seine eigenen Abkühlungsgewohnheiten entwickelt – ein nasses Durag für den Kopf, ein Miniventilator direkt vor der Nase, ein kaltes Bier noch vor dem Mittagessen.

Hinter dem Haus haben Vals Schwester Rita und ihre Clique den Gartenpool in Beschlag genommen und feiern noch immer ihren Highschoolabschluss vor zwei Monaten. Der asphaltierte Hof ist mit Coors-Light-Bierdosen und herumrollenden Flaschen hochprozentiger Alcopops übersät. Val und June haben eine Weile am Rand gestanden und zugeschaut. Als die Gespräche auf Themen kamen, die nicht für ihre Ohren bestimmt waren, hat Rita sie ins Haus geschickt.

»Der Typ in dem Liegestuhl«, sagte June, als sie die Treppe hinaufstiegen. »Der hat mir an den Arsch gegrapscht. Aber wie!« Doch bei aller Empörung strahlte sie.

»Dein Hintern ist ihm in die Hand gefallen, so war’s«, sagte Val.

Junes Kurven sind neuerdings überall, besonders da, wo sie nicht hingehören. Sie sprengen die Knöpfe ihrer Schuluniform, quellen aus ihren zu kurzen Shorts. Die beiden Mädchen, die einander einmal so ähnlich waren, scheinen inzwischen wie aus verschiedenem Stoff gemacht: Val, deren helle Haut keine Sonne verträgt, aus Schilf und Zweigen – wie die traurigen jungen Bäumchen im Park, die zwar in die Höhe schießen, aber dann nicht ausschlagen – und June, die selbst im Winter mit einem olivfarbenen Teint gesegnet ist, aus etwas Weichem, Geschmeidigem, aus Lehm vielleicht oder aus Plätzchenteig.

Irgendwo anders, vermutet Val, gibt es vielleicht Jungs, die ihre langgliedrige Gestalt bewundern, aber in Red Hook stehen alle auf Junes üppige Rundungen, ihren elastischen Hintern, ihre Brüste, die June jede Nacht neu zu modellieren scheint, damit man im Viertel immer wieder was Frisches zu sehen bekommt. Selbst ihre braunen Haare haben etwas Mutwilliges, so wie sie wippen und sich kringeln. Vals eigenem, unscheinbar strohfarbenem Haar fehlt es an Enthusiasmus, findet sie.

Sie weiß, dass die Zeit für Kinderkram knapp wird. Wenn die Schule wieder anfängt, wird man von ihnen erwarten, dass sie perfekt gestylt auf Partys erscheinen. Aber manchmal kann Val ihre Albernheit nicht zügeln. Nachdem sie tagsüber in der Kinderkrippe eingesperrt waren, will sie sich jetzt austoben. Nicht auf eine direkte, offenkundige Art, etwa indem sie eine Flasche mit etwas Süßem, Alkoholischem mitgehen lässt oder heimlich eine Zigarette raucht. Sie ist auf etwas anderes aus, einen Streich, ein Geheimnis, das sie und June irgendwann mal, wenn sie beschwipst oder sogar high bei einem Jungen auf dem Sofa sitzen, preisgeben können.

Das Fenster steht weit offen. June hat sich dort in Stellung gebracht und springt jedes Mal auf, wenn sie draußen Schritte hört. Mit ausgebreiteten Armen stützt sie sich am Fensterrahmen ab.

»Heut Abend will ich’s wissen«, sagt sie so laut, dass man es auf der Straße hören kann. »Heut mach ich einen drauf.« Sie lässt die Hüften kreisen und drückt die Brust heraus. Ihre Shorts spannen an den Nähten. Wenn sie ihren Rücken noch einen Zentimeter weiter durchbiegt, platzt die ganze Packung, fürchtet Val. »Denen zeig ich’s.«

Irgendwie erinnert Junes Pose Val an eine Tüte Mikrowellenpopcorn. Sie lässt sich aufs Bett zurückfallen, und ihr Lachen schallt bis auf die Straße hinaus.

»Baby«, sagt June, »du lachst wie ein Baby.« Sie tritt vom Fenster zurück und lässt sich ebenfalls aufs Bett plumpsen, hält aber Abstand zu Val. Sie mustert ihre Fingernägel, dann holt sie ihr Handy hervor. »Lass uns irgendwas machen.«

»Wir könnten oben auf dem Dach schlafen«, sagt Val.

June sieht nicht auf.

»Oder einen Film schauen.«

»Damit alle denken, wir bleiben ewig Babys?«

»Was ist so schlecht dran, einen Film zu schauen?«

June steht auf. »Ich hol uns was zu trinken.«

Fünf Minuten später kommt sie mit einer halb vollen Alcopop­flasche zurück. »Hat das jemand übrig gelassen?«, fragt Val.

»Ich hab die Hälfte auf dem Weg hier rauf getrunken.«

»Wir könnten das Schlauchboot rausholen«, schlägt Val vor. »Das wär doch was.«

June trinkt die Flasche aus. »Bescheuerte Ideen hast du manchmal.«

»Deine einzige Idee war, meiner Schwester eine halb volle Flasche zu klauen.«

»Dann hol eben das Scheißboot.« June legt den Kopf in den Nacken, schüttelt ihr Haar und bläst den Rauch einer unsichtbaren Zigarette aus.

»Hör auf rumzuzicken«, sagt Val.

Das Gummiboot ist ein Geschenk von ein paar älteren Jungs, die sie schon länger aufgezogen und gereizt und sich schließlich letztes Wochenende am Pool an sie rangemacht haben. Val und June hatten keine Ahnung, was sie mit dem knallrosa Boot anfangen sollten, haben es aber trotzdem angenommen. Und heute – ihr ist heiß, und die Decke fällt ihr auf den Kopf – entscheidet Val, was sie damit machen: in die Bucht rausfahren, sich abkühlen, sehen, was auf dem Wasser passiert.

 

Die Mädchen machen sich auf den Weg. Das Boot schlägt ihnen beim Gehen an die Beine. »Es ist dein Boot, also trag du’s allein«, sagt June und setzt ihr Ende ab.

Spätsommergerüche hängen in der Luft: Gullygestank, Grilldüfte und der Geruch von brackigem Wasser, der sich in Red Hook zu jeder Jahreszeit hält. Die Nacht hallt wider vom Lärm der anderen: Gelächter, das aus Fenstern fällt, das Call and Response rivalisierender Gettoblaster. Die Mädchen nähern sich dem Coffey Park am Rand der Sozialsiedlung, des Red Hook Housing Project. June geht voraus, hält ein paar Schritte Abstand zwischen sich und Val mit dem Boot. Val lässt sie vorangehen, weiß nicht recht, was sie davon halten soll, dass June die Hüften schwingt und ihre Mähne wie ein Zirkuspferd schüttelt. Am einen Ende des Parks liegt die zu Lofts umgebaute alte Kofferfabrik, am anderen das erste der Sozialhochhäuser und dazwischen ein Platz, auf dem Basketball- und Barbecue-Schlachten geschlagen werden.

Die Parkbänke sind voll besetzt. Viele davon sind in Bühnen für Newbie-Rapper umfunktioniert, deren Reime ab und zu von den wummernden Bässen aus vorbeifahrenden Autos übertönt werden. Mädchen, in ihren engen Glitzerklamotten wie Geschenke verpackt, bumpen und dippen im Rhythmus mit. June und Val beneiden sie um ihre Doorknockerohrringe, ihre lässige Sprache, ihre straff sitzenden Haltertops, die hautengen Shorts. Darum, dass sie hier spätabends ihren Spaß haben.

Nach dem sonntäglichen Gottesdienst mit ihren Eltern in der Visitation of the Blessed Virgin Mary stehlen sich June und Val manchmal davon. Bei Tageslicht haben sie keine Angst, durchqueren...

Kategorien

Service

Info/Kontakt