Die seltsamsten Orte der Religionen - Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen

Die seltsamsten Orte der Religionen - Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen

von: Johann Hinrich Claussen

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406755996

Sprache: Deutsch

241 Seiten, Download: 3550 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die seltsamsten Orte der Religionen - Von versteckten Kirchen, magischen Bäumen und verbotenen Schreinen



1. Orte für Lastwagen und Motorräder


Die Heilige der Lastwagenfahrer: Vallecito, Argentinien


31° 44ʹ 17ʺ südlicher Breite; 67° 59ʹ 9ʺ westlicher Länge

Es ist lange her, aber die Bilder stehen immer noch lebendig vor meinem inneren Auge: Haufen von Wasserflaschen an Parkplätzen und Straßenrändern. In der Weite und Leere der argentinischen Landschaft sah ich oft diese Flaschen, ein bisschen schmutzig, das Wasser darin schon leicht bräunlich. Als deutscher, in säuberlicher Müllentsorgung geübter Gast konnte ich darin zunächst nur eine Umweltverschmutzung erkennen. Aber dann hörte ich von der Difunta Correa. Ich entdeckte die vielen kleinen Schreine am Wegesrand, mir begegneten an ungezählten Lastwagen ihr Namenszug und ihr Bild: eine auf dem Rücken liegende junge Frau mit geschlossenen Augen und einem Säugling an der Brust.

Überall waren diese Flaschen zu sehen, aber ich konnte mit niemandem über sie sprechen. Denn diejenigen, die sie an den Wegesrand stellten, schienen einer anderen Welt anzugehören als der, zu der ich einen Zugang hatte: der Welt der deutschstämmigen, protestantischen Bauern. Auch jetzt, als ich mich nach vielen Jahren wieder mit der Difunta Correa beschäftigte, konnten mir meine deutschargentinischen Freunde kaum etwas über sie sagen. Natürlich kannten sie alle diese Flaschen, aber selbst hatten sie noch nie mit jemandem gesprochen, der sie mit Wasser füllte und einzeln oder in Haufen ablegte. Auch war keiner von ihnen je in Vallecito gewesen, dem zentralen Heiligtum der Difunta Correa, im wüstenhaften Nordwesten des Landes, gleich neben der Provinzhauptstadt San Juan. Es war, als ob eine gläserne Wand uns von diesem seltsamen Kult trennte, der in Argentinien vor allem von Lastwagenfahrern und armen Menschen gepflegt wird.

Aber einer fiel mir ein, den ich noch fragen konnte: der argentinische Priester und Dichter Hugo Mujica. Ein Student aus Kolumbien hatte mich auf seine Verse aufmerksam gemacht, deren Verbindung aus Mystik und Moderne mich faszinierten. Als Pfarrer einer Gemeinde in Buenos Aires, deren Mitglieder der Mittel- und Oberschicht angehörten, hatte er zwar ebenfalls keine direkte Berührung mit dem volkstümlichen Kult der Difunta Correa. Aber einige Hinweise konnte er mir doch geben.

Der Kult gründet auf einer Legende. Es war im Jahr 1841, in Argentinien herrschte ein elend langer, zäher Bürgerkrieg, da verließ eine junge Frau namens María Antonia Deolinda y Correa fluchtartig ihr Heimatdorf im fernen Nordwesten. Ihr Mann war verschleppt und zwangsrekrutiert worden. In Sorge um ihn und aus Angst, vom örtlichen Machthaber zur Geliebten gemacht zu werden, eilte sie ihm nach, hinein in die Wüste. Sie hatte keine Zeit gehabt oder einfach nicht daran gedacht, Proviant und vor allem Wasser mitzunehmen. Nur das gemeinsame, erst vor kurzem geborene Kind trug sie in ihren Armen. Der unerbittlichen Hitze war sie wehrlos ausgeliefert. Nach wenigen Tagen war sie so furchtbar erschöpft, dass sie sich unter einen Baum legte und verdurstete. Einige Tage später entdeckten Hirten die beiden. Die Mutter war tot – aber das Kind, es lebte noch! Es lag an der Brust seiner Mutter und trank deren Milch. Über ihren Tod hinaus hatte die Difunta Correa, die «verstorbene Correa», ihr Kind gestillt. Bei einem Hügel gleich in der Nähe, in Vallecito, dem «kleinen Tal», begruben die Gauchos die tote Frau. Nur ein einfaches Holzkreuz schmückte ihr Grab. Das gerettete Kind nahmen sie mit und erzählten allen von dem Wunder, das sie erfahren hatten.

Wie es mit diesem Kind oder seinem Vater weiterging, erzählt die Legende nicht mehr. Denn viel wichtiger waren andere Wunder, die die Difunta Correa nach ihrem Tod bewirkte. Sie führte Gauchos zu verlorenen Tieren und half Bauern in Not. So wurde sie zur Patronin der armen argentinischen Landbevölkerung. Bei welchem Unglück auch immer riefen sie die Difunta Correa an und baten sie um Hilfe. Mit Gebeten wie diesem:

«O liebenswürdige Frau, Difunta Correa, hervorragende Beschützerin derer, die leiden und weinen, wir bitten dich, nimm unser flehentliches Gebet gnädig an. Durch die Vermittlung unseres Herrn Jesus Christus gewähre uns die Gnade, um die wir dich bitten! Ich vereinige mich mit dir und flehe: Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade …»

Doch umsonst gibt die Difunta Correa nichts, das wissen ihre Anhänger genau. Sie erwartet Gegengaben, zum Beispiel Flaschen mit Wasser am Wegesrand. Nach größeren Gnadenerweisen hat man sie zu besuchen. So wurde Vallecito mit der Zeit zu einem sehr beliebten Wallfahrtsort. Man nennt es auch «das argentinische Mekka» – jeder Argentinier, zumindest wenn er katholisch geprägt ist, sollte es in seinem Leben einmal besucht haben. Zu Ostern, in der «Heiligen Woche», kommen Hunderttausende in die heiße, trockene Menschenleere von San Juan. Über das Jahr sollen es eine Million Besucher sein. Sie alle haben die Difunta Correa um etwas gebeten, ihr Wunsch wurde erfüllt, nun kommen sie, um ihr Versprechen einzulösen und eine Gegengabe zu bringen. Sie steigen den Hügel, der über und über mit kleinen Schreinen bedeckt ist, hinauf zu ihrer Kapelle. Manche quälen sich die siebzig Stufen auf den Knien empor. Einige robben sogar auf dem Rücken und mit einem kleinen Kind auf ihrem Bauch nach oben.

In der wichtigsten der insgesamt siebzehn Kapellen liegt die Difunta Correa: eine große, bunt bemalte Gipsfigur mit einem Säugling an der nackten Brust. Die Wände sind übersät mit kleinen Dankestafeln, Fotos von geheilten oder beschenkten Menschen und Plastikblumen. Unter Tränen, gerührt und andächtig streicheln die Verehrer – Männer, Frauen, Alte und Junge – ihre Nothelferin, küssen sie, geben ihr kleine Schlucke Wasser zu trinken, bekreuzigen sich anschließend, oder auch nicht.

Die übrigen Kapellen sind unterschiedlichen Anliegen gewidmet. Besonders bedeutsam ist die Auto-Kapelle. Denn die Difunta Correa gilt insbesondere als Patronin der Reisenden und speziell der Lastwagenfahrer. Das ist natürlich in ihrer Geschichte begründet, aber auch in der Tatsache, dass man difunta correa heute auch mit «gerissener Keilriemen» übersetzen kann. Vallecito gleicht einem Autofriedhof. Als Votivgaben werden Autokennzeichen, Felgen und ganze Wagen herangebracht, aber auch Motorräder und Fahrräder in Mengen. Wer die Difunta Correa erfolgreich um ein eigenes Haus gebeten hat, stiftet ihr ein Modell aus Holz – der Berg ist übersät damit. Wem ein Hochzeitswunsch in Erfüllung ging, schenkt ein Brautkleid und hängt es in die dafür vorgesehene Kapelle. Sie wirkt deshalb eher wie ein unaufgeräumtes Lager als wie ein Andachtsraum, ebenso wie die mit alten Uniformen vollgestopfte Kapelle der Polizisten und Sicherheitsleute. Eine weitere Kapelle ist mit Schulzeugnissen gepflastert, eine andere quillt über von Fußballtrikots, Boxhandschuhen und Sportpokalen. Und wohin man in Vallecito schaut, hängen Dankesplaketten für eine gewährte Genesung, die Rettung bei einem Unfall oder die sehnlich erwartete, endlich eingetroffene Rente. Hinter jeder dieser Tafeln, dieser Gaben steht ein Menschenschicksal aus Verzweiflung, Schmerz, Angst, Armut, Hoffnung, Heilung und Glück. Das ergibt einen seltsamen Effekt: hier die Leere und Dürre der Landschaft, dort die Überfülle des Dankes.

Der Glaube an die Difunta Correa braucht keine Institution. Ihre Wunder wirken wie von selbst, ihre Botschaft geht von Mund zu Mund, der fromme Handel von Gabe und Gegengabe funktioniert ohne offizielle Vermittler. Wer mitmachen will, braucht nur eine Flasche mit Wasser zu füllen oder in den Norden zu reisen. Inzwischen regelt allerdings eine Difunta-Correa-Stiftung den Pilgerbetrieb von Vallecito. Bis 1940 gab es nur ein Holzkreuz, heute läuft hier ein mittelständischer Betrieb mit etwa fünfzig Angestellten, und es ist ein richtiges Dorf entstanden mit Kirche, Schule, Restaurants und Souvenirshops. Das alles will organisiert sein. Da der Pilgerbetrieb in dieser armen Provinz ein erheblicher Wirtschaftsfaktor ist, engagieren sich die örtlichen Behörden, vor allem das Tourismusamt, massiv für diesen Kult. Aber in die eigentliche Verehrung der Difunta Correa mischen die Beamten sich nicht ein. Das ist eine Angelegenheit allein der Gläubigen. Die allermeisten sind katholisch, jedoch erkennt ihre Kirche die Difunta Correa nicht als Heilige an. Zwar hält ein Ortspriester jeden Sonntag hier eine Messe, aber ihren Namen spricht er niemals aus. Auch wenn er Lastwagen segnet, nimmt er keinen Bezug auf die unheilige Heilige dieses Ortes.

Inzwischen gibt es in der katholischen Kirche eine Debatte, ob man nicht den...

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