Das Zeitalter der Einsamkeit - Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt

Das Zeitalter der Einsamkeit - Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt

von: Noreena Hertz

HarperCollins, 2021

ISBN: 9783749950461

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 1313 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Zeitalter der Einsamkeit - Über die Kraft der Verbindung in einer zerfaserten Welt



KAPITEL ZWEI
EINSAMKEIT KOSTET LEBEN

»Ich habe Halsschmerzen. Es brennt so. Es tut wirklich weh. Ich kann nicht in die Schule.«

Es ist 1975. Im Radio läuft »Bohemian Rhapsody«, Margaret Thatcher wurde kürzlich Oppositionsführerin im britischen Unterhaus, der Vietnamkrieg ist gerade vorbei, und ich habe zum sechsten Mal in diesem Jahr eine Mandelentzündung.

Wieder geht meine Mutter mit mir zum Arzt. Wieder gibt sie mir Penbritin, das widerlich süße Antibiotikum, das nach Zuckerwatte und Anis schmeckt. Wieder zerdrückt sie mir eine Banane und reibt mir einen Apfel – das Einzige, was ich mit meinem brennenden Hals hinunterbekomme. Wieder gehe ich nicht zur Schule.

Für mich ist 1975 das Jahr der ständigen Halsschmerzen, der laufenden Nase und der grippalen Infekte. Es ist außerdem das Jahr, in dem Sharon Putz in meiner Grundschule das Sagen hat. Das Jahr, in dem ich mich am meisten isoliert und allein fühle. In den Pausen saß ich jeden Tag alleine da, sah den anderen Kindern auf dem Schulhof beim Seilhüpfen oder Hüpfekästchenspielen zu und hoffte, sie würden fragen, ob ich mitspielen wolle. Sie haben mich nie gefragt.

Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht weit hergeholt, meine damalige Einsamkeit mit meinen geschwollenen Mandeln und meinem schmerzenden Rachen in Verbindung zu bringen. Aber wie sich herausstellt, hat Einsamkeit auch körperliche Auswirkungen. Und ein einsamer Körper ist, wie wir in diesem Kapitel sehen werden, kein gesunder Körper.

EINSAME KÖRPER

Denken Sie doch einmal zurück – wann haben Sie sich zuletzt einsam gefühlt (vielleicht auch nur für kurze Zeit)? Wie hat sich die Einsamkeit in Ihrem Körper angefühlt? Wo haben Sie sie gespürt?

Einen einsamen Menschen stellen wir uns oft als passiv, ruhig und schweigsam vor. Und wenn wir uns an die einsamsten Momente in unserem Leben erinnern, denken wir nicht direkt an Herzklopfen, rasende Gedanken oder andere typische Stresssymptome. Wir verbinden Einsamkeit vielmehr mit Stille. Doch die chemische Präsenz von Einsamkeit in unserem Körper – wo sie sich manifestiert und welche Hormone sie durch unsere Adern schickt – entspricht im Wesentlichen dem Kampf-oder-Flucht-Mechanismus, mit dem wir auf Bedrohungen reagieren.1 Es ist diese Stressreaktion, welche die oft schleichenden gesundheitlichen Auswirkungen von Einsamkeit hervorruft.2 Die gesundheitlichen Folgen sind oft gravierend, in den schlimmsten Fällen sogar tödlich. Wenn wir also von Einsamkeit sprechen, meinen wir nicht nur seelische, sondern auch körperliche Einsamkeit. Beide gehen Hand in Hand.

Dabei ist unser Körper durchaus an Stressreaktionen gewöhnt – wir sind ihnen mehr oder weniger regelmäßig ausgesetzt. Eine wichtige Präsentation bei der Arbeit, eine brenzlige Verkehrssituation beim Radfahren, ein Strafstoß, den unsere Fußballmannschaft einstecken muss – all das sind alltägliche Auslöser für Stress. Aber sobald die »Bedrohung« vorüber ist, sinken unsere Vitalwerte – Puls, Blutdruck, Atmung – wieder auf den Normalwert. Wir sind in Sicherheit. In einem einsamen Körper dagegen funktioniert weder die Stressreaktion noch die Regeneration so, wie sie sollte.

Wenn ein einsamer Körper Stress ausgesetzt ist, steigen die Werte von Cholesterin, Blutdruck und des »Stresshormons« Cortisol schneller an als in einem nichteinsamen Körper.3 Noch dazu summiert sich bei chronisch Einsamen dieser vorübergehende Anstieg von Blutdruck und Cholesterin mit der Zeit, da die Amygdala – jene Hirnregion, die für die Kampf-oder-Flucht-Reaktion verantwortlich ist – oft viel länger als üblich Gefahr signalisiert.4 Dies führt zu einer erhöhten Produktion weißer Blutkörperchen und höheren Entzündungswerten, was in akuten Stresssituationen zwar hilfreich sein kann, auf lange Sicht jedoch gravierende Nebenwirkungen hat.5 Denn ein chronisch entzündeter einsamer Körper, dessen Immunsystem überbelastet und geschwächt ist, ist anfällig für weitere Erkrankungen, die er normalerweise viel besser bekämpfen könnte, wie etwa Erkältungen, Grippe oder auch Mandelentzündung, meine alte Widersacherin von 1975.6

Ein einsamer Körper ist außerdem anfälliger für schwere Krankheiten. Wenn Sie einsam sind, haben Sie ein 29 Prozent höheres Risiko für die koronare Herzkrankheit, ein 32 Prozent höheres Schlaganfallrisiko und ein 64 Prozent höheres Risiko für eine klinische Demenz.7 Fühlen Sie sich einsam oder sozial isoliert, steigt Ihr Risiko, vorzeitig zu sterben, um 30 Prozent.8

Auch wenn die schädlichen Folgen für unsere Gesundheit immer weiter zunehmen, je länger wir uns einsam fühlen, können sich schon kurze Phasen der Einsamkeit negativ auf unser Wohlbefinden auswirken.9 Bei einer in den 1960er- und 1970er-Jahren durchgeführten Studie der Johns Hopkins University, Baltimore, für die junge Medizinstudenten über einen Zeitraum von 16 Jahren begleitet wurden, zeigte sich ein interessantes Muster: Diejenigen Probanden, die eine einsame Kindheit erlebt hatten und deren Eltern gleichgültig und distanziert gewesen waren, wiesen im späteren Leben eine höhere Wahrscheinlichkeit auf, an Krebs zu erkranken.10 Auch bei einer 2010 durchgeführten Studie mit Teilnehmern, die eine durch äußere Umstände ausgelöste Phase der Einsamkeit erlebt hatten, etwa durch den Tod des Partners oder den Umzug in eine neue Stadt, zeigte sich eine verringerte Lebenserwartung der Probanden, obwohl deren Einsamkeit zeitlich begrenzt gewesen war (in diesem Fall auf zwei Jahre).11 Angesichts der längeren Zwangsisolation, wie sie die meisten von uns 2020 erlebt haben, sind dies besonders beunruhigende Ergebnisse.

Wir werden uns noch genauer ansehen, warum Einsamkeit so großen Schaden in unserem Körper anrichtet. Zuerst aber richten wir den Blick auf den Gegenpol der Einsamkeit – Gemeinschaft – und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit. Denn wenn uns Einsamkeit krank macht – erhält uns ein Gefühl der Gemeinschaft dann gesund?

Das Gesundheitsgeheimnis der Charedim:

Butterig, sahnig, salzig, süß. Das Rugelach zerschmilzt auf meiner Zunge. Genau wie mein erster Bissen von einer Gerbeaud-Schnitte, einem traditionell jüdisch-ungarischen Schichtkuchen aus Schokolade, Walnüssen und Aprikosenmarmelade. Ich befinde mich in der Bäckerei Katz in der israelischen Stadt Bnei Berak, eine der beliebtesten Stationen der Charedim-Food-Tour.

Die Charedim gehören einer ultraorthodoxen Strömung des Judentums an, deren Ursprünge im 19. Jahrhundert liegen.12 Die sittsam gekleidete Gemeinschaft in schwarzen Hüten und weißen Hemden macht heute etwa zwölf Prozent der israelischen Bevölkerung aus; Hochrechnungen zufolge soll ihr Anteil bis 2030 auf 16 Prozent steigen.13 Ich finde all die Teilchen, die ich bei Katz probiere, wirklich köstlich. Aber gesund sind sie sicher nicht. Tatsächlich liefern die vor Butter, Zucker und Fett strotzenden Gebäckstücke wohl die Erklärung dafür, dass Übergewicht unter den Charedim siebenmal häufiger auftritt als bei säkularen jüdischen Israelis.14 Als ich Pini, den gut gelaunten charedischen Leiter der Tour, frage, wie viel Gemüse und Ballaststoffe ein traditionelles charedisches Gericht enthält, lacht er – »nicht viel«.

Die Ernährung ist nicht der einzige ungesunde Aspekt ihrer Lebensweise. Obwohl sie in einem Land mit durchschnittlich 288 Sonnentagen im Jahr lebt, weist diese Gruppe einen deutlichen Vitamin-D-Mangel auf. Die sittsame Kleiderordnung bedeutet, dass kaum mehr als ein Handgelenk der Sonne ausgesetzt ist. Und körperliche Betätigung? Größere Anstrengungen werden in der Regel vermieden.15 Allen heutigen Maßstäben nach führen Pini und seine Glaubensgenossen keinen sehr gesunden Lebensstil.

Auch was die finanzielle Absicherung angeht, stehen sie schlechter da. Der Großteil der Männer geht keiner Arbeit nach, um sich ganz dem Studium der Thora widmen zu können. Und obwohl 63 Prozent der charedischen Frauen berufstätig sind, oft als Alleinverdiener der Familie, können sie wegen ihrer umfangreichen häuslichen Pflichten (die durchschnittliche charedische Frau hat 6,7 Kinder, drei Kinder mehr als im israelischen Landesdurchschnitt) nicht so viele Arbeitsstunden leisten wie nichtorthodoxe Frauen.16 Noch dazu arbeiten sie oft in eher schlecht bezahlten Berufen, etwa als Lehrerinnen.17 In der Folge leben über 54 Prozent der Charedim unterhalb der Armutsgrenze, im Gegensatz zu neun Prozent der nichtcharedischen Juden; und ihr durchschnittliches monatliches Pro-Kopf-Einkommen (3500 Schekel, ca. 890 Euro) ist nur halb so hoch wie das ihrer weniger religiösen jüdischen Mitbürger.18

Unter all diesen Umständen würde man vermuten, dass die Charedim eine kürzere Lebenserwartung haben als die israelische Gesamtbevölkerung; schließlich zeigt eine überwältigende Mehrheit von Studien weltweit, dass Langlebigkeit deutlich...

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