Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist

Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist

von: Seyda Kurt

HarperCollins, 2021

ISBN: 9783749950454

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1177 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Radikale Zärtlichkeit. Warum Liebe politisch ist



WARUM LIEBE POLITISCH IST. UND WARUM ZÄRTLICHKEIT RADIKAL SEIN MUSS

Dieses Buch gründet auf einem Unbehagen. Manchmal rumort es, manchmal tobt es. Mal klagt das Unbehagen, mal schweigt es. Doch es verschwindet nie. Es macht sich unerwartet beim Blick auf die Nachrichten bemerkbar. Und manchmal beim Blick auf ein vergessenes Kindheitsfoto. Das Unbehagen und ich, wir sind uns schon länger bekannt.

Als Journalistin schreibe ich über Kunst und Kultur, über Innen- und Außenpolitik, über Diskriminierung und Ausbeutung, (Anti-)Rassismus, Kolonialismus und Feminismus. Ich schreibe, weil ich das Erzählen mancher Geschichten und Perspektiven, aber auch jener Analysen, die all diese Netze verweben, für unerlässlich halte. Ich schreibe, weil mich die Welt zutiefst beunruhigt. Buchstaben machen die Unruhe für mich fassbar. Und ich schreibe, weil ich Veränderung will.

Ein Unbehagen, das ich vor langer Zeit zu spüren begann, betrifft die etablierten Wahrheiten der Liebe. Kurz vor meinem Abitur trennten sich meine Eltern. Ich war erschüttert. Und ich versuchte die zurückgebliebenen Bruchteile meiner Gefühle neu und sinnvoll zu ordnen. Ich begann die Erwartungen, die an mich als Tochter, Partnerin, Frau, rassifizierte Frau, Frau aus einer Arbeitendenfamilie mit vorgeschobenem Dies-und-jenes-Hintergrund gerichtet wurden, neu zu verhandeln. Manche nahm ich an, andere wies ich ab. Ich arbeitete mal auf brüchigem Boden, mal mit ausholenden Schritten an Beziehungen, die auf Fairness und Gleichheit fußen sollten – und tue es immer noch. Und irgendwann auf diesem Weg verabschiedete ich mich von der Monogamie.

Doch das Unbehagen bleibt.

In diesem Buch verknüpfe ich all diese Themen, die mich seit vielen Jahren als Journalistin umtreiben, mit den Wahrheiten und Lügen der Liebe – und mit meinen eigenen Erfahrungen. Denn vor einiger Zeit merkte ich, dass ich lange selbst in die Falle getappt war, meine Beziehungen aus meinen politischen Überlegungen herauszuhalten. Und damit bin ich nicht alleine. Trotz der Impulse der feministischen #MeToo-Bewegung aus den letzten Jahren und der Kritik an diskriminierenden und ausbeuterischen Verhältnissen schließen selbst viele Feminist*innen insbesondere die Sphäre der romantischen Zweierbeziehungen aus diesen Verhandlungen viel zu häufig aus.

Was »romantisch« überhaupt bedeuten soll? Puh. Das ist ein Wort, an dem ich mich in diesem Buch ziemlich abarbeite. Aber so viel sei vorweggenommen: Ich verstehe romantisch als ein historisch gewachsenes Konzept, das die Beziehung von zwei Menschen zueinander normieren will. In unserer Gesellschaft kommt der romantischen Beziehung – zumal in Hetero-Konstellationen – ein Vorrang zu. Eine romantische Beziehung wird als exklusiv, meist monogam und sexuell verstanden.

Andere Konzepte von Intimität, etwa Freund*innenschaften, werden im Gegensatz zur romantischen Beziehung häufig als weniger erstrebenswert betrachtet. Während die meisten bei dem Gedanken an romantische Beziehungen grundsätzlich davon ausgehen, dass die Partner*innen auch Sex haben, sprechen sie Freund*innenschaften sexuelle Intimitäten ab. Somit lebt das Konzept der romantischen Beziehung von gewissen Abgrenzungen und Polarisierungen, die viele oftmals unhinterfragt hinnehmen.

Viel zu selten sprechen wir darüber, wie unser Miteinander anders sein könnte. Vielleicht weil wir zu oft davon ausgehen, dass das Verständnis dafür, etwa für das Phänomen der Liebe und Freund*innenschaft, in uns eingepflanzt ist und nicht zur Neuverhandlung steht. Als gäbe es eine Mechanik der Umgangsformen, die wir nur ab und an mit ein paar Küssen und Worten ölen müssten. Viele denken, weil wir Menschen seien, wüssten wir automatisch, wie wir einander zu begegnen hätten. Doch wenn ich mir einer Tatsache sicher bin, dann dass wir imstande sind zu erkunden, wie wir einander begegnen wollen. Und diese Angelegenheit ist höchst politisch.

»Politisch ist alles, was mit Begegnung, Reibung oder Konflikt zwischen Lebensformen, Wahrnehmungsweisen, Sensibilitäten, Welten zu tun hat, sobald dieser Kontakt einen gewissen Intimitätsgrad erreicht hat«1, schreiben die Autor*innen des Unsichtbaren Komitees in ihrer Streitschrift Jetzt. Reibungen und Konflikte entstehen dort, wo Bedürfnisse und Interessen aufeinanderstoßen. Und infolgedessen stellt sich die Frage, wer imstande ist, sich für diese Bedürfnisse starkzumachen, wer die Möglichkeit hat, diese zu realisieren. Die Frage nach den Möglichkeiten ist immer politisch. Und die Frage nach den Möglichkeiten eines jeden Menschen ist immer die Frage nach Macht und Ohnmacht.

Ich behaupte, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der mächtige Institutionen, Gesetze und das zirkulierende kollektive Wissen unermüdlich daran arbeiten, manche Wahrheiten aufrechtzuerhalten. Auch die Wahrheiten der Liebe. Es sind Wahrheiten, die über unsere Körper herrschen sollen und in ihrem Kern von patriarchalen, rassistischen und kapitalistischen Logiken zusammengehalten werden. Es sind hierarchisierende Muster, die sich tief in die Textur unseres Denkens und Fühlens eingefressen haben. Und sie äußern sich darin, wie wir miteinander kommunizieren. Wie wir einander berühren, ob und wie wir einander schützen. Ich sehe das und erlebe das, auch in meinen eigenen Beziehungen zu anderen Menschen, seien sie sexuell, romantisch oder freund*innenschaftlich.

Eine der gefährlichsten Wahrheiten ist, dass mein Verhältnis zu mir selbst und zu anderen Menschen eben nicht politisch sei. Dass es sich um eine rein private, individuelle Angelegenheit handle, für die ich mich allein verantwortlich zeichne.

Romantische Zweierbeziehungen wie traditionelle Kernfamilien sind dabei so häufig Räume von (Macht-)Missbrauch, weil sie sich als vermeintlich rein private Sphären dem Öffentlichen entziehen. Und weil gefährdete Menschen in gefährlichen Beziehungen auf diese Weise auf sich gestellt bleiben. Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Es geht mir nicht darum, dass andere sich ungefragt in meine Beziehungen, in meine Intimsphären einmischen sollen. Aber ich kritisiere den Starrsinn von Logiken, die nur zulassen, zwischen zwei angeblich konträren Polen entscheiden zu können: auf der einen Seite die vermeintlich absolute Freiheit des Privaten und auf der anderen Seite der absolute Zwang des Politischen. Das ist nicht nur absoluter Quatsch, sondern auch eine verkürzte Analyse. Die Politisierung von Beziehungen nimmt uns nicht unbedingt Handlungsräume weg. Ganz im Gegenteil: Sie eröffnet Handlungsräume, weil wir Muster und Machtstrukturen erkennen, die uns gewisse Rollen zuweisen und uns in diesen Rollen gefangen halten.

Denn was folgt aus der Erkenntnis, dass Beziehungen politisch sind? Daraus folgt, dass sie veränderbar sind, genauso wie Politiken veränderbar sind. Und genau das macht jenen, die von der Ohnmacht anderer profitieren, Angst. Sie haben Angst vor der Forderung nach einem Miteinander auf Augenhöhe. Sie haben Angst vor der Forderung nach Zärtlichkeit, wie ich sie verstehe.

Im Haupttitel meines Buches ziehe ich den Begriff der Zärtlichkeit dem Begriff der Liebe vor. Warum? Zärtlichkeit und Liebe sind beides Substantive. Doch mir scheint es, dass dem Wort der Zärtlichkeit eine direktere Aufforderung zugrunde liegt – die des tatsächlichen Zärtlichhandelns. Ich sehe Zärtlichkeit dort, wo Menschen zärtlich zueinander sind, ganz konkret, und diese Zärtlichkeit kann viele Formen haben. Doch immer ist sie von einem Handeln geleitet: ein Sprechen, ein Schauen, eine Bewegung, die – je nach Absprache – nicht immer unbedingt sanft und behutsam sein muss. Es geht um ein Handeln, das einem anderen Menschen zuspielt, mit ihm spielt, bejahend und produktiv, ohne ihm schaden zu wollen. Bei Zärtlichkeit denkt kaum jemand an Gewalt.

Daher ist die Zärtlichkeit mein Ausgangspunkt und mein Ziel.

Mit gängigen Konzepten von Liebe – und damit meine ich insbesondere jene der romantischen – verhält es sich in unserer Gesellschaft oftmals anders. Mit diesen Konzepten beschäftige ich mich, wie der Untertitel meines Buchs verrät, auf dem Weg zu einer neuen Idee von Intimität. Jede*r kennt die Erzählungen von romantischer Liebe als Drama, Hölle, Kampf, Schmerz oder als ein gewaltvolles Naturereignis, dem wir uns beugen und ausliefern müssen – gerade als weibliche Personen –, auch wenn die Konsequenzen uns zerstören mögen.

Filme und Bücher erzählen von der Liebe, selbst wenn sich die vermeintlich Liebenden bekriegen und verletzen, selbst wenn sie sich egoistisch und gewaltvoll verhalten. Und all diese Erzählungen von der romantischen Liebe als Krieg und Kreuzzug gibt es in unserer westlich-europäischen, kapitalistischen Kultur, in deren Gegenwart die koloniale und nationalsozialistische Geschichte dieses Landes konserviert ist, nicht ohne Grund. Sie existieren, weil weiße bürgerliche cis Männer in den letzten Jahrhunderten Gewalt und Macht und infolgedessen Zeit und Muße hatten – jedenfalls mehr Zeit und Muße als etwa ihre Frauen und Bediensteten, deren Arbeitskraft sie im Haushalt und anderswo ausbeuteten –, die romantische Liebe in dieser Form zu imaginieren. In diesen Erzählungen lassen sich über Jahrhunderte hinweg gewachsene vergeschlechtlichte, rassifizierte und andere Herrschaftsverhältnisse und Rollenverteilungen nachspüren. Wer ist aktiv, und wer bleibt passiv? Wer leidet, und wer triumphiert?

Dass die Sphäre der romantischen Liebe dennoch selbst in feministischen...

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