Erkenntnis und Schönheit - Über Wissenschaft, Literatur und Religion

Erkenntnis und Schönheit - Über Wissenschaft, Literatur und Religion

von: Ian McEwan

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257610130

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 616 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Erkenntnis und Schönheit - Über Wissenschaft, Literatur und Religion



Größe in der Literatur ist für die meisten von uns verständlicher und nachvollziehbarer als Größe in der Wissenschaft. Wir haben alle unsere eigene oder doch eine überkommene Vorstellung davon, was es heißt, ein großer Schriftsteller zu sein. Lesen wir Anna Karenina oder Madame Bovary, verstehen wir auf Anhieb, ob nun ehrfürchtig und begeistert oder pflichtbewusst und voller Skepsis, was gemeint ist, wenn man von Größe redet. Wir verfügen über das Privileg eines unmittelbaren Zugangs. Schon beim ersten Satz spüren wir die Präsenz, die Eigenart eines besonderen Geistes; und in wenigen Minuten lesen wir das Ergebnis lang vergangener Stunden, die Früchte der einsamen Arbeit eines Nachmittags vor über hundertfünfzig Jahren. Und was ehedem ein persönliches Geheimnis war, das sich nach und nach offenbarte, wird jetzt zu unserem Geheimnis. Erdachte Menschen erscheinen vor unseren Augen, ihre historischen wie häuslichen Lebensumstände werden genau beschrieben, ebenso ihre Charaktere. Wir bezeugen und beurteilen das Geschick, mit dem sie heraufbeschworen werden. Dank einer unausgesprochenen Übereinkunft, einer Art Pakt zwischen Schriftsteller und Leser, gehen wir davon aus, dass wir diese Menschen, so fremd sie uns anfangs auch vorkommen mögen, schon bald verstehen werden und ihre Eigenart schätzen lernen. Das gelingt, indem wir auf unser eigenes Verständnis vom Menschsein zurückgreifen. Wir besitzen, um es mit einem Begriff aus der kognitiven Psychologie zu benennen, eine Theorie des Geistes, ein mehr oder minder unmittelbares Verständnis dafür, was es heißt, jemand anderes zu sein. Ohne ein solches Verständnis wäre es uns, wie die Psychopathologie beweist, praktisch unmöglich, Beziehungen aufzubauen und zu halten, ein Mienenspiel zu deuten, Absichten zu erkennen oder auch nur zu erahnen, wie wir selbst wahrgenommen werden. Dem besonderen Geschehen, das uns ein Roman aufblättert, begegnen wir mit diesem tiefen, umfassenden Verständnis. Als Saul Bellows Herzog vor einem Spiegel steht, was Figuren in Romanen so gern und zweckdienlicherweise tun, trägt er nur Badehose und einen kürzlich gekauf‌ten Strohhut. Seine Mutter wollte, dass er Rabbi wird, er aber kam sich in

»… Badehose und dem Strohhut, mit dem von schwerer Traurigkeit gezeichneten Gesicht und der törichten Sehnsucht des Herzens, von der ihn ein religiöses Leben vielleicht gereinigt hätte, grauslich unrabbinerhaft vor. Dieser Mund! – belastet von Begehren und unversöhnlichem Zorn, die manchmal grimmig aussehende gerade Nase, die dunklen Augen! Und diese Figur! Die langen Adern, die sich durch seine Arme wanden und die hängenden Hände zogen, Teil des Kreislaufs, eines alten Systems, das von noch höherem Alter als das der Juden war … Barbeinig sah er aus wie ein Hindu.«1

Mag sein, dass der Leser nicht jede Besonderheit der Verfassung Herzogs zuinnerst nachvollziehen kann – Amerikaner Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Jude, Stadtbewohner und geschiedener Mann, ein introvertierter Intellektueller –, noch mögen jüngere Leser Verständnis für die Reumütigkeiten des frühen mittleren Alters aufbringen, doch eine Selbstprüfung, die geradezu einer Abrechnung mit der eigenen Person gleichkommt, ist von allgemeiner Gültigkeit, ebenso die drollige, fälschliche und naive Wahrnehmung, laut der die eigene Biologie – das Kreislaufsystem – älter als die eigene Religion sei und folglich mehr über das Wesen des Menschseins verrate. Gleichsam am Wegesrand jener bereits erwähnten, unausgesprochenen Übereinkunft zwischen Schriftsteller und Leser erblüht die Literatur und offeriert uns eine geistige Karte, deren Nord und Süd das Spezifische und das Allgemeine sind. Im besten Fall ist Literatur universell und erhellt die menschliche Natur eben dort, wo sie regionaler und spezifischer kaum sein kann.

Größe in der Wissenschaft ist für die meisten von uns schwerer nachzuvollziehen. Wir könnten zwar eine Liste mit den Namen von angeblich großen Wissenschaftlern erstellen, doch sind nur die wenigsten von uns mit ihnen derart vertraut, dass wir das Besondere ihrer Leistung erklären könnten. Zum einen liegt das am Werk selbst – es ist nicht gerade leicht zugänglich –, es objektiviert, distanziert, erschwert die Lektüre durch schwierige oder scheinbar irrelevante Details. Die Mathematik ist eine weitere Barriere. Zudem zirkulieren wissenschaftliche Ideen ganz unabhängig von ihren Schöpfern. Wissenschaftler können durchaus die klassischen Bewegungsgesetze kennen, ohne sich je mit den entsprechen Texten von Newton selbst vertraut gemacht zu haben; sie eignen sich die Relativitätstheorie aus Lehrbüchern an, ohne Einsteins Spezielle und Allgemeine Relativitätstheorie zu lesen, oder sie verstehen die Struktur der DNA, ohne Cricks und Watsons Abhandlung von 1953 zu kennen – oder kennen zu müssen.

Und Letztere liefern uns ein Paradebeispiel. Ihr kaum zwei Seiten langer und in der Zeitschrift Nature veröffentlichter Aufsatz endet mit der berühmten bescheidenen Formulierung: »Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen, dass die spezifische Paarung, die wir postuliert haben, direkt auf einen möglichen Kopiermechanismus für genetisches Material schließen lässt.«2 Was sich ungefähr übersetzen ließe mit: »Hört alle her! Wir haben den Mechanismus entschlüsselt, wie sich das Leben auf der Erde repliziert; vor Freude sind wir außer Rand und Band und können kein Auge mehr zutun.« Es ist unserer Aufmerksamkeit nicht entgangen verrät jenen vertrauten Umgang, den ich meine. Ihn aus erster Hand erleben zu können ist nicht ganz einfach.

Allerdings gibt es einen herausragenden Wissenschaftler, der in dieser Hinsicht beinahe so zugänglich ist wie ein Romancier. Selbst Nichtwissenschaftler können anhand von Darwins Werk nachvollziehen, was ihn groß und einzigartig macht. Teils liegt das an der Abfolge günstiger Zufälle, die ihn seinen Weg finden ließen, jeder einzelne Schritt stets an der endgültigen Leistung gemessen. Teils liegt es auch am Thema selbst. Die Naturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, vielmehr die ganze damalige Biologie, war eine beschreibende Wissenschaft. Und die Theorie der natürlichen Selektion ist in ihren Grundzügen nicht schwer zu verstehen, obwohl ihre Auswirkungen ungeheuer, ihre Anwendungsmöglichkeiten beachtlich und die Konsequenzen in wissenschaftlicher Hinsicht ziemlich komplex sind – wie dies etwa die Theoretische Biologie von Bill Hamilton zeigt. Darwins Werk ist darüber hinaus so zugänglich, weil er, wenn auch kaum der größte Prosaschriftsteller des neunzehnten Jahrhunderts, so überaus mitteilsam war, warmherzig, ehrlich und direkt. Er schrieb viele Briefe und hat manch ein Notizbuch gefüllt.

Lesen wir sein Leben wie einen Roman, wie Bellows Herzog, wie eine große Abrechnung. Charles kommt mit sechzehn Jahren an die Universität von Edinburgh, zeigt sich aber vom Studium der Medizin bald enttäuscht. Seinen Schwestern schreibt er: »Von einem Mohren lerne ich, wie man Vögel ausstopft.«3 Bei einem gewissen John Edmonstone, einem freigelassenen Sklaven, den er »sehr sympathisch und intelligent« findet, nimmt Charles Stunden in Tierpräparation. Edmonstone erzählt dem jungen Darwin von seinem Leben als Sklave und beschreibt ihm die Wunder des tropischen Regenwaldes. Sein Leben lang sollte Darwin die Sklaverei verabscheuen, und vielleicht hat diese frühe Bekanntschaft einigen Einfluss auf das vergleichsweise vernachlässigte Buch Darwins gehabt, über das ich im Weiteren reden möchte. Ein Jahr später lernt Darwin die Ideen von Lamarck kennen und lauscht in Edinburghs Debattierklubs ebenso hitzig vorgebrachten wie gottlosen Argumenten für den wissenschaftlichen Materialismus. Auf der Suche nach Meeresgeschöpfen wandert er tagelang die Ufer des Firth of Forth ab und berichtet in seinem Notizbuch von 1827 ausführlich über seine Untersuchungen zweier wirbelloser Meerestiere.

Da Charles sich mit dem Gedanken einer ärztlichen Laufbahn nicht anfreunden kann, schlägt sein Vater ihm vor, es doch mit dem Priesteramt zu versuchen. »Er war vehement dagegen, dass ich ein Mann der Muße werde, worauf mein Leben damals hinauszulaufen schien.« Also beginnt Charles mit achtzehn Jahren ein Studium in Cambridge, wo aus seiner Vorliebe für Naturgeschichte wahre Leidenschaft wird. »Was werden wir für einen Spaß haben«, schreibt er seinem Vetter William Darwin Fox, »und was werden wir viele Käfer fangen! Es wird meiner Seele guttun, noch einmal unsere alten Jagdplätze aufzusuchen … wir wollen regelrechte Feldzüge in die Fens unternehmen; der Himmel stehe den Käfern bei.« Und in einem weiteren Brief: »Ich verkümmere regelrecht, weil ich niemanden habe, mit dem ich über Insekten reden kann.« Während der letzten beiden Trimester überredet ihn sein Mentor Henslowe, Professor für Botanik, zusätzlich Geologie zu belegen.

Nach dem Studium vermittelt Henslowe ihm die Möglichkeit, als Naturforscher und Begleiter des Kapitäns an Bord der Beagle zu gehen, um im Auf‌trag der Regierung eine Vermessungsfahrt nach Südamerika zu unternehmen. Anhand der Argumente, mit deren Hilfe Darwin versucht – unterstützt von seinem Onkel Josiah Wedgwood –, die Zustimmung des Vaters zu gewinnen, können wir sein Ringen um diese Fahrt nachvollziehen. »Ich muss noch einmal betonen«, bekniet er ihn in ernstem Ton, »dass ich nicht sehe, wie mich die Fahrt für...

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