Kurzes Buch über Tobias - Roman

Kurzes Buch über Tobias - Roman

von: Jakob Nolte

Suhrkamp, 2021

ISBN: 9783518767849

Sprache: Deutsch

231 Seiten, Download: 2754 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kurzes Buch über Tobias - Roman



Tobias schaute seinen Freund fassungslos an. »Hast du mir vorhin eigentlich zugehört?«, fragte er. »Ich will ein Kind von dir.«

»Natürlich habe ich dir zugehört. Ich finde das auch eine schöne Vorstellung.«

»Aber?«

»Nichts aber. Ich bin nur wirklich müde, wollen wir morgen darüber reden?«

»Eine schöne Vorstellung also.«

»Gute Nacht«, sagte Tobias und faltete seine Hände auf der Brust, »ich liebe dich.« Das Gespräch über waren seine Augen geschlossen gewesen.

+

Tobias hatte Silvester mit einigen Freunden aus Hannover in einem Häuschen in der Ardèche verbracht, einem Département im Süden von Frankreich. Die Berge dort sind bis zu 1700 Meter hoch. Das Häuschen lag an einem Fluss, und die nächste Stadt war eine halbe Stunde mit dem Auto entfernt. Gekauft und zu einer Ferienwohnung umgebaut hatte die einstmalige Mühle die Frau des Black-Sabbath-Bassisten Geezer Butler, Jeannes Tante. Die Freunde aus Hannover, zu denen Jeanne seit einer Weile gehörte, auch wenn sie sich selbst nicht als Hannoveranerin bezeichnete – überhaupt waren die meisten nicht aus Hannover, sondern kannten sich von ihrem Kunststudium an der Universität in Braunschweig –, nutzten dieses Domizil seit einigen Jahren als Rückzugsort. Es war das erste Mal, dass Tobias mit dabei war. Sven hatte ihn eingeladen. Er kam aus einem Ortsteil von Barsinghausen namens Großgoltern und war früher mit Tobias auf die Orientierungsstufe gegangen. Richtig kennengelernt hatten sie sich allerdings erst am Thie, einem Platz in der Innenstadt, wo Minderjährige skateten, Eisspray schnüffelten und gebrannte CDs austauschten.

Da die Silvestergesellschaft die Verbindung zu dem Black-Sabbath-Bassisten cool fand, hatte sie vor zwei Jahren damit begonnen, in der Nacht des 31. eine dunkle Messe abzuhalten. In Anbetracht der allgemeinen Ungläubigkeit Gott wie Satan gegenüber musste man es aber als Jux verstehen. Dass Tobias vor kurzem zum Glauben gefunden hatte, hielt er meist noch geheim. Er befürchtete, dass man es als eine seiner wahllosen Spontanbegeisterungen abtun würde; als eine modische Religiosität, die jeden Moment von einem Musikgenre oder japanischen Handwerk abgelöst werden könnte.

Blasphemie fand Tobias nicht schlimm. Alle trugen Kutten, räucherten die Bude mit Sandelholz aus, schminkten ihre Gesichter, besoffen sich extraterrestrisch, nahmen geringe Mengen LSD und trommelten in Trance auf dem 62-teiligen Schlagzeugset herum, das im Wohnzimmer stand. Auch zu kehligen Gesängen ließen sich einige verleiten. Natürlich wurde das Haus an diesem Abend ausschließlich mit Kerzen beleuchtet, und auf dem Boden hatten sie mit Kreide ein großes Herz in einem Dreieck gemalt. Serviert wurden Shrimps.

Zu Sonnenaufgang kam Jeanne auf die Idee, ihren Freunden unter Einfluss finsterer Mächte zu prophezeien, wie sie sterben würden. Sie hatte vorher schon geweissagt, wer als Erstes ein Kind bekommen, wer reich, wer arm, wer heute Nacht mit wem im Bett landen würde und welcher Partei es aufgrund eines unerklärlichen Auferstehens Zehntausender im Zweiten Weltkrieg gefallener junger Männer gelingen würde, die Wahl zu gewinnen. Jeannes Vorschlag wurde mit Schadenfreude und Sorge aufgenommen. Das ginge zu weit, meinten die, deren psychedelischer Rausch sie für Aberglauben anfällig machte. Aber nach einigen Wellen des Gruppenzwangs wurde der letzte Widerstand entweder gebrochen, oder man ging zu Bett.

Jeannes Augen waren hinter ihren im Licht der Morgensonne aufblitzenden Brillengläsern nicht zu erkennen. Sie nahm Tobias' Hand und legte sie in ihre. Dann zeichnete sie ein seltsames Kreuz in seine Handfläche, das aus einem Y und einem umgedrehten T bestand, träufelte einige Tropfen Wachs darauf und schloss sie zur Faust. Plötzlich jauchzte Jeanne auf und verzog ihr Gesicht zu einer Fratze. Als sie Tobias' Hand wieder öffnete, sah es aus, als hätte das Wachs die Form einer Feder angenommen.

»Gottloser!«, rief sie. »Unsterblicher Dämon! Fallen wirst du und den Tod doch nie finden! Weiche, Windhauch!« Daraufhin brach sie in Gelächter aus und wandte sich ihrem nächsten Opfer zu.

Die Horrorszenarien ihrer Weissagungen überschlugen sich vor grausamen Details, wobei sie irgendwann schlicht dazu überging, den Song Orphans von Teenage Jesus und den Jerks zu singen. Das war das Zeichen für Sven, einen Kaffee aufzusetzen, und nachdem nun alle eine ungefähre Ahnung von ihrem Schicksal hatten, lümmelten sie sich auf die Terrasse und genossen den angebrochenen Tag. Es war ein sonniger Morgen, und man entschloss sich dazu, einen Neujahrsspaziergang zu machen.

Am Flughafen von Marseille bot sich Tobias ein ungewohnter Anblick. Denn am Gate für den Easyjet-Flug nach Berlin saß (wobei er nur mutmaßen konnte, ob dieser Begriff wirklich stimmte, schließlich konnte er unmöglich wissen, wie es um seine Wohnverhältnisse bestellt war) ein obdachloser Mann. Er trug kaputte Kleidung, und von seinen Schuhen lösten sich die Sohlen. Außerdem waren seine Haare verfilzt. Eine Krücke hatte er auch dabei. Seine Wollhandschuhe waren an den Fingerkuppen abgeschnitten, und er schien streng zu riechen, denn die meisten Leute hielten mehrere Plätze Abstand von ihm, obwohl der Terminal voll war. Aber was sprach schon dagegen?, fragte sich Tobias, solange er einen Pass und genügend Geld hatte, konnte er umherfliegen wie jeder andere auch. Der Mann las konzentriert in einem Magazin, das er sich unwirklich nah vors Gesicht hielt. Am Kragen seiner Jacke war ein Blut- oder Rotweinfleck. Sein Cabin Bag war an einigen Stellen kränklich ausgebeult, und Nähte drohten zu platzen. Ein Pärchen stand am Schalter und beschwerte sich über etwas, dabei zeigte und schaute es immer wieder in Richtung des Mannes. Die Flugbegleitenden tuschelten, vielleicht überlegten sie, ob es Reglementierungen gebe, aufgrund derer sie ihn davon abhalten könnten, die Maschine zu betreten. Doch da es offensichtlich keine gab, stieg er wie alle anderen nach dem Aufruf zum Boarding in den Flieger.

Tobias saß am Notausgang vorne links, der Mann an dem hinten rechts. Nach dem Anschnallen schlug Tobias die Beine übereinander und faltete die Hände im Schoß. Auch wenn er die Sicherheitsanweisungen des Flugpersonals schon etliche Male gehört und gesehen hatte, schaute er der Frau mit dem Vorzeigegürtel und der Sauerstoffmaske aufmerksam zu. Danach stopfte er sich Ohropax in die Ohren. Er hasste Fluglärm und wollte die bei ihm von Takeoffs ausgelöste Müdigkeit dazu nutzen, etwas Schlaf zu finden. Er schloss die Augen und verlor unmittelbar das Bewusstsein. Manchmal kippte sein Kopf ruckartig nach vorne und holte ihn in den Halbschlaf zurück. Während der kurzen Zeit auf dem Rollfeld, beim Abheben und in den ersten etwa 23 Minuten in der Luft träumte Tobias Folgendes:

  • Er streifte durch den Deister. Die Buchen, Fichten und Eichen wiegten sich im Wind. Es war Frühling und das Geräusch ohrenbetäubend laut, fast mechanisch.

  • Auf einer Lichtung begegnete ihm ein Engel.

  • Seine Haut bestand aus unzähligen weißen, gelben und schwarzen Zähnen, die wie Schuppen angeordnet waren. Seine Augen leuchteten sanft. Der Engel war der Ausgangspunkt des Windes.

  • Der Engel schwebte auf Tobias zu. Tobias kämpfte gegen den Wind.

  • Tobias wollte gegen den Engel kämpfen. Er hasste ihn. Warum, wusste er nicht. Aber ihm war klar, dass er diesen Engel bekämpfen musste.

  • Der Engel ging auf Tobias zu. Tobias hatte die Fäuste erhoben. Weder Kneipen noch Spätis waren in Sicht. Der Engel umarmte ihn und berührte seine Hüfte. Er flüsterte ihm etwas ins Ohr. Tobias' Hass war verschwunden.

  • Gemeinsam hoben sie ab. Sie waren schwerelos zwischen den Baumkronen. Tobias fühlte sich so glücklich wie noch nie. Er fühlte sich geborgen.

  • Alles wurde grell und entsetzlich laut.

  • Der Körper des Engels begann sich zu schälen. Seine Zähne bohrten sich in Tobias' Haut. Er blutete. Tobias fühlte sich sicher. Der...

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