Geschichte schreiben - Briefe, die die Welt veränderten

Geschichte schreiben - Briefe, die die Welt veränderten

von: Simon Sebag Montefiore

Klett-Cotta, 2021

ISBN: 9783608121148

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 3540 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Geschichte schreiben - Briefe, die die Welt veränderten



Einleitung


Liebe Leserin, lieber Leser,

es geht doch nichts über die Unmittelbarkeit und Originalität eines Briefes. Wir Menschen haben nun mal den Drang, Empfindungen und Erinnerungen, die mit der Zeit verloren gehen könnten, zu dokumentieren und mit anderen zu teilen. Wir suchen verzweifelt nach Bestätigung für Beziehungen, für zärtliche oder auch feindliche Bande, denn die Welt steht niemals still und unser Leben ist eine Aneinanderreihung von Anfängen und Schlusspunkten – sie zu Papier zu bringen, mag uns das Gefühl geben, wir könnten ihnen größere Realität verleihen, sozusagen Ewigkeitscharakter. Briefe sind das literarische Gegenmittel gegen die Vergänglichkeit des Lebens und natürlich auch gegen die Oberflächlichkeit und Schnelllebigkeit des Internets. Goethe, der viel über den Zauber von Briefen nachgedacht hat, hielt sie für »das wichtigste Denkmal, das ein Mensch hinterlassen kann«. Derartige Empfindungen sind tatsächlich nicht von der Hand zu weisen, denn noch lange nach dem Tod der Protagonisten leben ihre Briefe weiter. Und auf dem Gebiet von Politik, Diplomatie und Krieg müssen Befehle oder Beteuerungen auf jeden Fall schriftlich festgehalten werden. Endlos viele unterschiedliche Ziele lassen sich mit dem Medium Brief erreichen, und auf diesen Seiten bieten wir ihnen allen eine Bühne.

Es gibt bereits zahlreiche Sammlungen von ausgefallenen und amüsanten Briefen, doch diese hier wurden nicht in erster Linie aufgrund ihres Unterhaltungswertes ausgewählt, sondern weil sie auf die eine oder andere Weise die Geschichte der Menschheit beeinflusst haben, sei es in den Bereichen Krieg und Frieden oder in Kunst und Kultur. Sie gewähren uns Einblicke in faszinierende Lebensgeschichten, ob durch die Augen eines Genies, eines Monsters oder eines Durchschnittsmenschen. Hier finden Sie Briefe aus vielen Kulturen, Traditionen, Ländern und Ethnien, vom Ägypten und Rom der Antike bis zum modernen Amerika, Afrika, Indien, China und Russland, wohin mich ein Großteil meiner Forschungsarbeit geführt hat – daher die vielen Russen, die in diesem Buch vertreten sind, angefangen bei Puschkin bis hin zu Stalin. Es ist die Rede von Kämpfen um Rechte, die wir heute für selbstverständlich halten, von Befehlen zu Verbrechen, die uns unfassbar erscheinen. Auch Liebesbriefe sind dabei sowie fesselnde Bekenntnisse von Kaiserinnen, Schauspielerinnen, Tyrannen, Malern, Komponisten und Dichtern.

Ich habe Briefe ausgewählt, die vor dreitausend Jahren von Pharaonen verfasst und in vergessenen Bibliotheken in untergegangenen Städten konserviert wurden – ebenso wie Exemplare aus dem gegenwärtigen Jahrhundert. Unbestreitbar gab es auch für den Brief ein goldenes Zeitalter: die fünfhundert Jahre vom Mittelalter bis zur breiten Nutzung des Telefons in den 1930er Jahren. Ein gravierender Niedergang setzte dann in den 1990er Jahren mit der Einführung des Mobiltelefons und des Internets ein. Ich konnte die Entwicklung zum Teil selbst nachverfolgen, als ich in den Stalin-Archiven recherchierte. In den 1920er und 1930er Jahren schrieb Stalin lange Briefe an seine Gefolgsleute und auch an Außenstehende, vor allem wenn er im Süden Ferien machte, doch als eine sichere Telefonleitung eingerichtet wurde, hörten die Briefe unvermittelt auf.

Es ist nur folgerichtig, dass mit dem Aufkommen der Schrift der Brief schnell zu einem ausgiebig genutzten Instrument von Herrschern und Eliten wurde, schließlich ließ sich mit seiner Hilfe wunderbar organisieren und lenken – und noch so viel mehr. Während der vergangenen drei Jahrtausende vereinte der Brief in sich all das, was uns heute Zeitungen, Telefon, Radio, Fernsehen, E-Mail, SMS, Sexting und Blogging bieten. Diese Anthologie enthält auch ursprünglich in Keilschrift verfasste Briefe, die in der Bronze- und in der Eisenzeit im Vorderen Orient verwendet wurde. Dabei wurden mit einem Schilfrohr Zeichen in eine feuchte Tontafel geritzt, die dann in der Sonne trocknete. Seit dem dritten Jahrtausend vor Christus schrieb man auf Papyrus, hergestellt aus dem Mark der Papyruspflanze. Dem folgten Briefe auf Pergament – der zäheren, getrockneten Tierhaut –, bis um 200 v. Chr. in China das Papier erfunden wurde und nach und nach über Zentralasien nach Europa gelangte. Dort machte seine preisgünstigere und leichtere Herstellung es ab dem 15. Jahrhundert zunehmend praktischer, verfügbarer und erschwinglicher. Das Briefeschreiben erreichte seinen Höhepunkt zwischen dem 15. und dem frühen 20. Jahrhundert, und das war nicht nur der Verfügbarkeit von Papier geschuldet, sondern auch den Erleichterungen bei der Beförderung und Zustellung durch Kuriere sowie der Entwicklung des Postwesens.

Es ging aber auch über den rein praktischen Aspekt hinaus – war Teil einer neuen Ordnung eines verbindlichen Rechts- und Vertragssystems, einer verantwortungsvollen Staatsführung, eines rechenschaftspflichtigen Finanzwesens und der öffentlichen Moral. Vor allem aber offenbarte es eine neue Geisteshaltung mit frischen Ideen und modernen Visionen von der zuträglichsten Lebensweise, eine Wertschätzung der Privatsphäre sowie einen wachsenden Sinn für eine länderübergreifende Gesellschaft und das eigene Gewissen.

Manche Briefe waren zum Zwecke der Publicity gedacht, andere trugen sozusagen das Siegel der Verschwiegenheit. Die Vielfalt ihrer Verwendung ist eine der Freuden einer Sammlung wie dieser. In der überwiegenden Zahl von Briefen ging es um banale, weitgehend uninteressante Alltagsangelegenheiten – das Bestellen von Waren, das Begleichen von Rechnungen, die Verabredung von Treffen. Auf dem Höhepunkt des Briefeschreibens als Kunstform und als Werkzeug saßen gebildete Menschen viele Stunden am Tag an ihren Schreibtischen, mitunter bei unzureichenden Lichtverhältnissen, und schrieben wie besessen. Katharina die Große bezeichnete sich selbstironisch als »Graphomanin« (sie nannte sich auch eine »Plantomanin« wegen ihrer Liebe zum Gärtnern), und ein Reich, ein Krieg, ein Staat ließ sich tatsächlich nur mithilfe von fieberhaftem Briefeschreiben führen. Es war auch eine Möglichkeit für die Verfasser, sich über ihr Zimmer, ihr Haus, Dorf, Land hinaus in andere Welten und ferne Träume hineinzuversetzen. Es war nicht weniger eine körperlich anstrengende Pflichtübung als ein Zeitvertreib. E-Mails und SMS machen weitaus weniger Mühe, doch sind sie ja vielleicht auch zu einfach, so informell, dass wir die Macht der einzelnen Worte gar nicht mehr zu schätzen wissen, auch wenn natürlich die Kürze, die Schnelligkeit und der Reiz dem Texten Suchtpotenzial verleihen und es in der modernen Welt unverzichtbar machen. Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein hatten nur wenige Menschen, Staatsoberhäupter eingeschlossen, Büros, die ihnen bei ihrer umfangreichen Korrespondenz behilflich waren. Die meisten von ihnen beantworteten und versiegelten (zum Teil aus Sicherheitsgründen) ihre Briefe selbst – darunter auch Briefeschreiber aus diesem Buch wie Lincoln, Katharina oder Nikolaus II., der tatsächlich seine Briefe selbst frankierte.

Natürlich bleiben die Verfasser in ihren Briefen nicht immer nur bei der Wahrheit, und mit der Entscheidung, welche sie zerstören und welche sie aufheben, greifen sie mitunter massiv in die Rezeptionsgeschichte ein. Aber so oder so spiegelt ein Brief einen einzelnen historischen Augenblick wider – was Goethe den »unmittelbaren Lebenshauch« nannte. In vielen Gärten wurden schon Feuer entzündet, um die brieflichen Beweise für geheime Absprachen oder verbotene Liebesaffären zu vernichten. Solche literarischen Feuersbrünste vollzogen sich häufig in viktorianischen und edwardianischen Familien nach dem Tod von Granden – auch in meiner eigenen. Doch einen Brief zu vernichten, selbst aus Gründen der Diskretion, bedeutet Goethe zufolge, das Leben selbst zu vernichten.

Die Geschichtsschreibung ist – wie der Journalismus unserer Tage – voll von Klatsch, Rätselraten, Mythen, Lügen, Missverständnissen und Verleumdungen. Wenn wir eine Boulevardzeitung oder eine Klatschspalte lesen, ist uns bewusst, dass möglicherweise die Hälfte davon nicht stimmt. Das Schöne an privater Korrespondenz ist, dass es der wahre Jakob ist. Wir sind nicht auf Klatschgeschichten angewiesen, wir können die authentischen Worte hören. Genau so sprach Stalin zu seinen Schergen, redete Hürrem liebevoll mit Suleiman dem Prächtigen oder Frida Kahlo mit Diego Rivera. Und dann sind da ja auch noch Mozarts sündhaft obszöne Briefe an seine Kusine Marianne.

Die Briefe lassen sich nach verschiedenen Kategorien unterteilen. Als Erstes haben wir die offenen Briefe: Mao Tse-tung setzt die Kulturrevolution mit einem Brief an Studenten in Gang, in dem er sie auffordert, sich gegen ihre Vorgesetzten zu erheben; Balfour...

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