1857 - Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur

1857 - Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur

von: Wolfgang Matz

Wallstein Verlag, 2021

ISBN: 9783835345911

Sprache: Deutsch

462 Seiten, Download: 1406 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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1857 - Flaubert, Baudelaire, Stifter: Die Entdeckung der modernen Literatur



Der Autor und sein Bild


Henri Beyle, als Romancier bekannt unter seinem Nom de plume Stendhal, ist der letzte große Autor des neunzehnten Jahrhunderts, von dem keine Photographie existiert. Balzac, Nerval, Flaubert und Stifter wurden photographiert, Chateaubriand, Novalis und Goethe nicht. Der alte Eichendorff, ein Dichter, so tief verwurzelt in einer vormodernen Welt, erscheint auf mehreren Porträtaufnahmen, der Dandy Baudelaire noch um vieles öfter, doch er hasste die neue Technik. Dass Heinrich Heine im Paris Nadars ein gemalter Dichter blieb, liegt wohl vor allem an seinem elenden Dasein in der Matratzengruft. Beyle lebte von 1783 bis 1842, Balzac von 1799 bis 1850, doch der Abstand, der die beiden voneinander trennt, scheint um einiges größer als der pure Abstand dieser wenigen Jahre. Über die Geschichte und die Ästhetik der Photographie ist viel geschrieben worden, doch nicht darum soll es hier gehen; nicht die photographischen Bilder selbst sollen betrachtet werden, zeigen sollen sie vielmehr, wie das, was in ihnen abgebildet ist, zu etwas anderem wurde. Wenn der Nachgeborene sich die Welt des späten achtzehnten und des neunzehnten Jahrhunderts vergegenwärtigt, so sieht er, irgendwo in diesen Jahrzehnten ist etwas Fundamentales geschehen, und für dieses Fundamentale ist die Photographie eine, aber sicher auch die deutlichste Illustration. Der moderne Blick, die moderne Ikonographie teilen die neuzeitliche Kultur unvermeidlich in zwei Territorien: in die gemalte und die photographierte Welt. Goethes Rom ist ein gemaltes Rom, Baudelaires Paris ein photographiertes Paris. Wie Beyle ausgesehen haben mag, ahnt man allenfalls in der Summe recht unterschiedlicher Porträts; wie Stifter aussah, ist auf genauen Photographien festgehalten. Die vorphotographische Zeit überlässt unendlich viel der Imagination; die Existenz eines Bildes war immer die Ausnahme, der größte Teil der Welt blieb unabgebildet, ebenso wie die meisten Menschen. Die Existenz eines Bildes war Ausweis der Bedeutung seines Gegenstandes, und so kommt es, dass von kaum einem später bedeutenden Schriftsteller Kindheitsbilder existieren. Städte, Dörfer, Häuser, Straßen wurden gezeichnet und gemalt, doch ein Panorama von Paris oder eine Straßenszene von Wien zeigt nicht den Augenblick in seiner zufälligen Realität, sondern ist eine ästhetische Synthese von Wirklichem und Stilisiertem, Besonderem und Verallgemeinertem. Die umfassende optische Wirklichkeit existiert für die Nachgeborenen nur in der Imagination.

Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert taucht aus den Tiefen dieser imaginierten Vergangenheit etwas Neues hervor, die moderne Gegenwart. Auf den ersten Daguerreotypien und Photographien sieht man Dinge, die man nie zuvor gesehen hat, eine Allee, in deren körniges, etwas feuchtes Erdreich sich Wagenspuren einzeichnen, eben erst zart belaubte Platanen, Vier- und Zweispänner, einen Gendarmen, eine dahineilende Frau in Schwarz, zufällig vorübergehende oder stehengebliebene Passanten: Wien 1847. Eine metallisch glänzende Seine, denn auf den Stadtansichten von Gustave Le Gray glättet die lange Belichtungszeit auch die kleinste Welle: Paris 1857. Natürlich hat die Evidenz solcher Bilder, bei denen eine Maschine festhielt, was der Fall war, auch die Ästhetik gemalter Bilder radikal verändert, aber hier soll etwas anderes interessieren: die Veränderung der Idee von Wirklichkeit. Die Photographie hat eine Grenze gezogen: hier eine objektiv und mechanisch festgehaltene Welt, die uns standhaft glauben macht, dass wir ihre optische Wirklichkeit kennen; dort jene andere, die wir nie gesehen haben und die wir uns imaginär zusammensetzen müssen aus subjektiven Wahrnehmungen bildender Künstler – und aus sprachlichen Beschreibungen. Die Welt in den Romanen Stendhals und die in jenem Marcel Prousts, um hundert Jahre voneinander geschieden, trennt neben allem anderen eines: Für Swann und Odette, Marcel, Albertine und Françoise sehen wir moderne, zeitgenössische und das heißt: photographierte Physiognomien vor uns; für Julien Sorel und Madame de Rênal, für Fabrizio del Dongo und die Sanseverina dagegen Physiognomien, die aller photographischen Exaktheit, Detailliertheit entraten, die ganz und gar im Unbestimmten der gemalten und gezeichneten Ikonographie verbleiben; und das gleiche gilt für das Paris in À la recherche du temps perdu und das in Le Rouge et le Noir. Ist dieser Glaube an die Objektivität der photographierten Wirklichkeit auch gewiss ein Irrglaube – für die optische und damit auch existentielle Imagination steht er unverrückbar fest. Die Photographie hat die vorphotographische Welt von der modernen Welt unwiderruflich getrennt. Wahrhaft unsichtbar liegt sie im tiefen Brunnen der Vergangenheit.

Dieser Umschwung vollzieht sich in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, und dass er tiefe ästhetische Konsequenzen hatte, ist bekannt. In der technischen Revolutionierung aber wird ein Bruch sichtbar, der weit mehr ist als eine Sache der Kunst, und zudem geht er einher mit weiteren Phänomenen, die dasselbe bewirken, wenn auch nicht immer ebenso sichtbar; die rasante Entwicklung der Eisenbahn ist das zweite, von den Zeitgenossen sofort begriffene Phänomen, denn zu seinen unabsehbaren Folgen gehörte die Reduktion des Raumes, das Schrumpfen der Zeit durch die unerhörte Beschleunigung, die den Kreis der erreichbaren Welt radikal erweiterte, aber auch die demokratische Nivellierung der gesellschaftlichen Rangunterschiede, der »Ennui«, mit dem einer den mechanischen Transport von hier nach dort über sich ergehen lässt. »Seit die Dampfmaschine Herrin der Welt ist, ist jeder Titel eine Absurdität«, heißt es schon in Stendhals Armance. »Ich quäle mich unfassbar in der Eisenbahn«, schreibt noch der späte Flaubert am 26. August 1873 an einen Freund, »und nach fünf Minuten brülle ich vor Langeweile. In den anderen Waggons glauben sie, das sei ein vergessener Hund. Ganz und gar nicht! Es ist Monsieur Flaubert, der seufzt!« Eines der emblematischen Werke der modernen Kunst, Claude Monets Darstellungen von rauchenden Eisenbahnen und Bahnhöfen in Paris, bezieht seinen Reiz deshalb aus einem Paradox: Hier wird das revolutionäre Verkehrsmittel eben nicht konsequent zeitgemäß photographiert, sondern noch einmal gemalt, nicht anders als gelassene Spaziergänger in der Landschaft und Seerosen.

Jeder Leser literarischer Werke weiß, in den Romanen des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts hat sich ein vollkommener Wandel der äußeren und inneren Welt vollzogen: bei Wieland, Goethe und Stifter, in Agathon, Wilhelm Meisters Lehrjahre und Der Nachsommer, bei Laclos, Stendhal und Flaubert, in Les Liaisons dangereuses, Le Rouge et le Noir und Madame Bovary, und dasselbe gilt in der Poesie, bei Voltaire, Heine und Baudelaire, in Poème sur le désastre de Lisbonne, Das Buch der Lieder und Les Fleurs du Mal. Diese Lese-Erfahrung eines umfassenden Wandels hat eine ästhetische und eine lebensweltliche Dimension zugleich: Gewandelt haben sich das Kunstwerk und die Lebenswelt, die in ihm aufgehoben ist. Und das heißt in der Konsequenz: Gewandelt hat sich auch die Art, wie der Künstler seine Welt erfährt und wie er sie verwandelt in Kunst, sie überführt von ihrem unästhetischen in ihren ästhetischen Zustand. Eine hegelianisch-dialektische Interpretation dieses Wandels als eine bloße konsequente Weiterentwicklung ästhetischer Kategorien und Materialien griffe viel zu kurz, weil sie die lebensweltliche Seite der ästhetischen Erfahrung einfach ausblendet.

Henri Beyle ist die Schlüsselfigur dieses epochalen Wandels, denn er steht auf der Schwelle zur Moderne, ohne diese Schwelle zu überschreiten; mehr noch: Er steht auf der Schwelle zwischen den beiden großen gesellschaftlichen Umbruchsmomenten der Moderne, die diesen Wandel rhythmisieren. Die Große Revolution von 1789 hat er als Kind gerade noch erlebt, die bürgerliche und bereits proletarische von 1848 schon nicht mehr. Erlebt hat er die Folgen der einen und die Vorboten der anderen, Napoleonismus und Restauration. Er ist ein Mann des Übergangs vom feudalen Ancien Régime, dem Laclos noch fest angehörte, zu jenem bürgerlichen Frankreich, das Flauberts Wirklichkeit sein wird. Er ist als das Individuum Henri Beyle wie auch als der Romancier Stendhal tief verwurzelt im achtzehnten Jahrhundert, doch dieses ist seit der Revolution 1789 und vor allem seit der Enthauptung Ludwigs XVI. 1793 definitiv zu Ende, ohne dass sich das bürgerliche Frankreich bereits durchgesetzt hätte. Le Rouge et le Noir ist der Roman dieses Übergangs, ist der Roman vom Kampf um die Durchsetzung des Bürgerlichen. Julien Sorel scheitert daran, dass er nicht mehr in der Epoche Napoleons lebt, als jeder Infanterist seinen Marschallstab im Tornister trug, eine Laufbahn sich also statt nach der Herkunft nur nach den Leistungen bemaß, und noch nicht in der bürgerlichen Gesellschaft, die dieses in nahezu allen Berufen möglich gemacht hätte. Monsieur de Rênal, sein Arbeitgeber, ist als Provinzadliger auch Abkömmling des Feudalismus und deshalb Parteigänger der Restauration, doch zugleich als Besitzer der Nagelfabrik und als Bürgermeister von Verrières sowohl wirtschaftlich als auch politisch ein Repräsentant des aufstrebenden Bürgertums. »Seit 1815 schämt er sich, Industrieller zu sein«, mit diesem Satz hat Stendhal die prekäre und deshalb auch nicht dauerhafte Malaise des Monsieur de Rênal und seinesgleichen ironisch skizziert. Seit 1815, das heißt seit dem Sturz Napoleons und dem Beginn der Restauration, hat die Ideologie einer Wiederkehr des Ancien Régime ihn...

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