Das Leben der Simone de Beauvoir - Die große Biographie über die Ikone des Feminismus

Das Leben der Simone de Beauvoir - Die große Biographie über die Ikone des Feminismus

von: Alois Prinz

Insel Verlag, 2021

ISBN: 9783458770664

Sprache: Deutsch

300 Seiten, Download: 18926 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Leben der Simone de Beauvoir - Die große Biographie über die Ikone des Feminismus



Prolog


Am Morgen des 7. März 1944 rutscht der deutsche Hauptmann Ernst Jünger in Paris in der Avenue Kléber auf einer Apfelsinenschale aus. Er stürzt und verrenkt sich den Arm. Für den hochdekorierten Kriegshelden Jünger, der als Soldat schon auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs gekämpft hat, ist das ein peinlicher Ausrutscher. Aber Jünger ist nicht nur ein Soldat, er ist auch ein Dichter und Kunstliebhaber. Er stellt Überlegungen über den Zufall an. Als er nämlich kurz vorher sein Zimmer im Pariser Luxushotel Raphael verlassen hatte, fiel ihm auf der Treppe ein, dass er seine Schlüssel vergessen hatte, und er kehrte um. Hätte er seine Schlüssel nicht vergessen, wäre er eine Minute früher auf die Straße getreten und sicher nicht auf der Apfelsinenschale ausgeglitten. Jünger erschrecken solche Zufälle. Aber er ist kein Nihilist, der glaubt, dass alles nur Zufall sei. Er glaubt, trotz aller Zufälle, an ein Schicksal, an sein Schicksal. Ja, er sympathisiert sogar mit der religiösen Vorstellung von einer Vorsehung, die uns lenkt.1

Paris ist seit dem Juni 1940 von den Deutschen besetzt. Auf den Champs-Élysées, am Triumphbogen, auf dem Montmartre, im Invalidendom, in den Cafés und Restaurants – überall begegnet man den Deutschen in ihren feldgrauen und grünen Uniformen. Die deutsche Stadtkommandantur hatte an die Soldaten Stadtpläne verteilt mit allen Sehenswürdigkeiten und den Adressen von Bordellen, solchen für normale Soldaten und solchen für die »Herren Offiziere«. Ernst Jünger freilich findet man nicht an den üblichen Touristenorten. Er interessiert sich für das geistige Paris. Er besucht das Grab des Dichters Paul Verlaine, und er trifft sich mit Künstlern wie Jean Cocteau oder Pablo Picasso.

Mit der aufstrebenden Schriftstellerin Simone de Beauvoir trifft er sich nicht. Er kennt sie auch gar nicht. Und von einer neuen philosophischen Richtung des Existenzialismus hat er noch nie etwas gehört. Wenn der Zufall es wollte, dass sich die beiden begegneten, käme es vermutlich zu einer hitzigen Diskussion. Denn Simone de Beauvoir hasst die deutschen Besatzer, und sie hält nicht viel von Zufällen. Auch nicht von Schicksal und Vorsehung. Das sind für sie Konstruktionen, die man erfindet, um sich der Verantwortung für sein Leben zu entziehen. Wahrscheinlich würde sie Jünger für einen Ästheten halten, und Ästheten kann sie nicht ausstehen. Es sind für sie Menschen, die sich im Namen der Kunst oder der Dichtung über ihre Zeit stellen und daraus einen Genuss ziehen. Wirklichkeit wird für sie zu einem »Objekt der Betrachtung«. Echte Künstler dagegen stürzen sich für Beauvoir mitten ins Leben. Sie werden »ein Mensch unter Menschen« und teilen deren Glück und Leid.2 Befreit von Fremdbestimmungen, berufen sie sich nicht mehr auf Befehle, auf ein Ziel der Geschichte, auf die Verpflichtungen der Tradition, auf die Ehre einer Familie oder auf andere angeblich vorgegebene Werte. Sie nehmen ihre Freiheit ernst, und sie nehmen die Herausforderung an, jeden Augenblick ihres Lebens selbst entscheiden zu müssen, wer man sein will und wie man handelt.

Für Simone de Beauvoir sind solche Worte mit leidvollen Erfahrungen verbunden. Lange genug hat sie in Verhältnissen gelebt, in denen über sie bestimmt wurde. Lange genug war sie in einer Familie wie gefangen, in der sie vor lauter Vorschriften und moralischen Geboten schier zu ersticken drohte. Aus der »Tochter aus gutem Hause«, die täglich in die Kirche ging und lernte, wie man Knickse macht und sich in einer Teegesellschaft benimmt, ist eine andere geworden – eine Frau, die sich nicht mehr sagen lässt, wie sie sein soll, und der es gleichgültig ist, wenn anständige Bürger ihren Lebenswandel verurteilen. Sie würde zwar zugestehen, dass es Dinge gibt, die wir nicht beeinflussen können. Aber am wichtigsten ist es für sie, frei zu sein. Mit dem Einmarsch der Deutschen wurde ihr diese Freiheit genommen, oder zumindest eingeschränkt. Sie fühlte sich wie eine Sache im Spiel der Mächte und Kriegstreiber. Die Zukunft schien wie verstellt. Und eine Zukunft zu haben, das gehört zu einer Lebensform, die man jetzt »existenzialistisch« nennt.

Nun öffnet sich am Horizont wieder die Zukunft. Eine deutsche Niederlage scheint in Sichtweite. In Paris hat jemand eine Schnecke an die Wand gemalt, in den Farben der englischen und amerikanischen Flaggen, die an der italienischen Küste entlangkriecht. Englische und amerikanische Einheiten rücken unaufhaltsam auf Rom vor. Die Nachrichten verdichten sich, dass amerikanische Streitkräfte an der Westküste Frankreichs landen. Der Luftraum wird von den Alliierten beherrscht. Deutsche Städte wie Berlin, Hamburg und Köln sind verwüstete Steinlandschaften mit Tausenden von Toten. Auch Paris wird bombardiert. Ende April suchen die deutschen Offiziere im Raphael das erste Mal Schutz im Bunker unter dem Hotel. Nur Ernst Jünger nicht, der es vorzieht, im Bett zu bleiben. Beim nächsten schweren Bombardement begibt er sich sogar auf das Dach des Hotels und beobachtet, mit einem Glas Burgunder in der Hand, die brennenden Türme und Kuppeln. »Alles war Schauspiel«, schreibt er in sein Tagebuch, »war reine, von Schmerzen bejahte und erhöhte Macht.«3

Die Angriffe der Alliierten werden unterstützt von Anschlägen der französischen Widerstandsbewegung, der Résistance. Die Vergeltungsmaßnahmen der Deutschen werden immer menschenverachtender und sinnloser, je verzweifelter ihre Lage ist. Jedes Attentat auf die Besatzer wird mit der Erschießung von Geiseln beantwortet. Zur Abschreckung der Bevölkerung hängen an den Hauswänden und in den Gängen der Metro die Fotos von Widerstandskämpfern, die darauf »Terroristen« genannt werden und die »hingerichtet« wurden. Für Beauvoir sind es die Gesichter von Helden. Sie hat den Eindruck, dass die Deutschen bei ihren Racheaktionen völlig den Verstand verloren haben. In einem Brief, den man in Paris von Hand zu Hand reicht, wird geschildert, was sich in dem Ort Oradour-sur-Glane zugetragen hat. Die männlichen Bewohner waren von deutschen Soldaten zusammengetrieben und erschossen worden. Die Frauen und Kinder hatte man in die Dorfkirche gesperrt und das Gebäude angezündet. Wer zu fliehen versuchte, wurde erschossen. Flüchtlinge, die aus dem Süden nach Paris kommen, berichten von Kindern, die von den Deutschen an Fleischerhaken aufgehängt wurden.

Die sechsunddreißigjährige Simone de Beauvoir hat Kontakt zu Leuten der Résistance, ist aber keine aktive Widerstandskämpferin. Sie ist der festen Überzeugung, dass man durch Worte und Bücher auch Widerstand leisten kann. Obwohl ihr die Zukunft versperrt wurde, waren die Jahre des Krieges und der Besatzung doch keine verlorene Zeit. Sie hat ihr erstes Buch geschrieben, L'Invitée, deutsch: Sie kam und blieb. Und sie schreibt schon an einem zweiten. Außerdem hat sie ein Theaterstück verfasst, mit dem sie allerdings nicht sehr zufrieden ist. Simone ist nicht berühmt, noch nicht, aber man kennt jetzt ihren Namen. Das liegt nicht zuletzt daran, dass sie die Lebensgefährtin von Jean-Paul Sartre ist. Sartre ist der aufsteigende Stern am literarischen und philosophischen Himmel. Er hat neben einem Roman und Theaterstücken ein dickbändiges philosophisches Werk verfasst, »L'Être et le Néant«, deutsch: »Das Sein und das Nichts«. Beauvoir und Sartre kennen sich schon seit Studienzeiten. Vor Jahren haben sie einen Pakt geschlossen. Sie wollten zusammenbleiben, ohne zu heiraten. Jeder sollte seine Freiheit behalten. Eine »notwendige Liebe« nennen sie das, im Unterschied zu einer zufälligen.

Für konservative Kreise in Paris ist dieses ungewöhnliche Paar ein Skandal. Skandalös ist es auch, dass Mademoiselle de Beauvoir aus dem Schuldienst entlassen wurde, weil sie angeblich ein intimes Verhältnis mit einer Schülerin hatte. Simone war nicht unglücklich darüber. Sie ist froh, den ungeliebten Beruf als Lehrerin endlich los zu sein. Sie schreibt jetzt Texte für den Rundfunk. Das interessiert sie nicht besonders. Sie wartet darauf, endlich als freie Schriftstellerin leben zu können. Denn das ist ihr Lebenstraum. Zu diesem Traum gehört es auch, unbürgerlich zu leben. Simone wohnt immer nur in Hotels. Zurzeit im Hotel Louisiane, in der Rue de Seine. Ihr Zimmer ist klein, kalt und ungemütlich. Die feuchten Wände sind rosa gestrichen und an der Decke sind hässliche Flecken. Ein Zimmer behaglich einzurichten, dazu fehlt ihr der...

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