Wut und Böse

Wut und Böse

von: Ciani-Sophia Hoeder

hanserblau, 2021

ISBN: 9783446271937

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 3345 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wut und Böse



Was ist eine »Frau«?


Dieses Buch analysiert die Wut von Frauen aus einer gesellschaftskritischen sowie feministischen Perspektive.

Dabei ist Wut nicht binär weiblich oder männlich. Sie wird aufgrund des engen Korsetts des Patriarchats aber in eine rigide Binarität gepresst. In Mann und Frau. In Stark und Schwach. In gute Wut und in böse Wut. Das wirkt sich auf die Daten aus, die in diesem Buch herangezogen wurden. Sie sind größtenteils binär ausgewertet, es gibt also einen »männlichen« und einen »weiblichen« Wert, die sich gegenüberstehen. Dabei ist es nicht meine Intention, diese Geschlechterbinarität zu reproduzieren, sondern ganz im Gegenteil, will ich darauf aufmerksam machen, dass Identität ein Spektrum ist.

Dieses Buch betrachtet die soziologische Dimension von Wut. Und die sollte eigentlich geschlechtsneutral sein, doch wie unsere Gesellschaft ist auch unser Verständnis von Wut durch das Patriarchat geformt.

»Frau« ist in diesem Buch kein biologischer, sondern ein soziologischer Begriff, der das ganze Spektrum von Weiblichkeiten aus einer intersektionalen Perspektive einschließt.

Wenn in diesem Buch von »Männlichkeit« gesprochen wird, bezieht es sich in den meisten Fällen nicht auf individuelle Männer, sondern auf die soziale Konstruktion von Männlichkeit durch das Patriarchat und die daraus resultierende soziale Ordnung und ihre Folgen.

Frausein zu greifen ist kompliziert. Die Ordnung der Welt, die aus dem europäischen Kolonialismus hervorging, beruht auf der Vorstellung, wie ein Mensch behandelt werden soll und muss. Ein berühmter Satz von der Schwarzen Freiheitskämpferin Sojourner Truth aus dem 19. Jahrhundert lautet: »Bin ich nicht eine Frau?« Dieser Satz forderte ihre weißen Schwestern im Kampf um die Abschaffung der Sklaverei heraus, anzuerkennen, dass ihr Bild einer Frau von dem Konstrukt der Race abhing. Zur Lebenszeit von Sojourner Truth waren beispielsweise öffentliche Toiletten mit »Männer«, »Frauen« und »Colored« gekennzeichnet. Schwarze Frauen waren somit keine Frauen. Sie waren Schwarz.

Erst ab den 1950ern führten Wissenschaftler:innen aus dem angloamerikanischen Raum den Begriff Gender ein, um die sozialen Dimensionen des Geschlechts zu beschreiben. Frausein ist nicht an dem Satz »Es ist ein Mädchen!« ausgemacht, der erklingt, sobald ein Säugling auf die Welt kommt und untersucht wird, es ist abhängig von unseren gesellschaftlichen Konventionen. Die französische Philosophin Simone de Beauvoir schrieb vor knapp fünfzig Jahren in Das andere Geschlecht, dass Frauen nicht geboren, sondern gemacht werden. Gender ist nicht gleich Geschlecht, und Geschlecht nicht gleich Gender.

Es ist idealistisch zu denken, dass wir Geschlecht ohne Gender betrachten könnten oder andersherum. Wir können nicht feststellen, wie viel von unserer Existenz durch Biologie, Sozialisation und freien Willen determiniert ist. Diese Aspekte können nicht wie eine Gummibärchenpackung auf einem Tisch ausgekippt werden, um dann die roten und die gelben Bärchen auseinanderzuklamüsern. Alle Elemente interagieren miteinander, bedienen und verändern sich.

Philosoph:in und Gendertheoretiker:in Judith Butler beschreibt in dem Werk Gender Trouble, dass das Konzept Gender weniger die Unterschiede zwischen »Mann« und »Frau« beschreibt, sondern eine gesellschaftliche Machtverteilung. Butler stellt den Unterschied zwischen Selbst- und Fremdbestimmung aller Geschlechter in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Jeder Mensch könne das kulturelle Geschlecht ständig neu aufführen und unter Beweis stellen. Frausein sei eine Performance. Diese Theorie wurde von radikalen Feministinnen als amerikanisches Hirngespinst deklariert. Doch die deutsche Kulturtheoretikerin Dr. Ines Kappert argumentiert:

»Warum sonst tragen Richter:innen Roben, Ärzt:innen Kittel und Banker:innen Anzüge? Sie gliedern sich damit in eine Tradition ihres Berufsstands ein, wiederholen Rituale und verschaffen sich so Ansehen in einem professionellen Umfeld, noch ganz unabhängig von ihrem jeweiligen individuellen Handeln.«

Diese Kleiderordnung zeigt, wie die Performance von Identitäten den Alltag jedes Menschen bestimmt.

Judith Butlers spätere Arbeit kritisierte die Trennung zwischen Geschlecht und Gender. Butler macht darauf aufmerksam, dass sogar biologische Zuschreibungen und Kategorisierungen sozialen Prozessen unterliegen. Zusätzlich weisen die Neurowissenschaften schon länger auf die Wechselwirkung von Biologie und Psychologie hin. Beispielsweise ist unsere Gehirnstruktur maßgeblich von unserem Verhalten beeinflusst. Umgekehrt können sich zum Beispiel hormonelle Veränderungen auf unsere Empfindungen auswirken. Die Welt ist halt nicht weiß oder schwarz. Frausein sowieso nicht, genauso wenig wie eine Gummibärchenpackung.

Nur weil ein Mensch menstruiert, macht ihn das nicht automatisch zu einer Frau. Auch die Fähigkeit des Schwangerwerdens klassifiziert keine Frau. Die rein biologische Definition von Weiblichkeit schließt unter anderem trans Frauen aus. Eine rein soziale Definition von Weiblichkeit löscht die Erfahrungen von cis Frauen.

Nichtsdestotrotz sind Cis-Privilegien real. Systematisch erhobene Daten zur Benachteiligung von transidenten Menschen — zu denen auch nonbinäre, genderfluide und einige intergeschlechtliche Menschen gehören — gibt es in Deutschland nicht. »Transsexualität« wird in der Bundesrepublik weiterhin als psychische Krankheit geführt und als »Geschlechtsidentitätsstörung« klassifiziert. Eine Änderung des eigenen Namens, Personenstands oder des Geschlechts setzt nach den bestehenden rechtlichen Regelungen des »Transsexuellengesetzes« eine Begutachtung durch Sachverständige voraus — ein sehr langwieriges und strenges Diagnoseverfahren.

In einem Bericht für die Generaldirektion Justiz der Europäischen Kommission wird aufgezeigt, dass transidente Menschen in Europa massiver Diskriminierung in Form von Drohungen, Ausgrenzungen, sozialem Ausschluss, Spott, Beleidigungen sowie physischer und sonstiger Gewalt ausgesetzt sind. Dies betrifft alle Bereiche des täglichen Lebens, den Zugang zu Bildung und anderen Gütern sowie Dienstleistungen und das Arbeitsleben. Darüber hinaus dokumentieren internationale Studien massive Gewaltverbrechen gegen transidente Menschen.

Auch geschlechtsspezifische Räume wie Umkleideräume oder Toiletten führen zu Diskriminierung. Dies ist einer der liebsten Punkte der sogenannten TERFs. Ein Akronym für »Trans-Exclusionary Radical Feminist« — ein Radikalfeminismus, der transidente Menschen ausschließt. Feministinnen, die diese Meinungen vertreten, sprechen sich aktiv gegen Transfeminitäten aus und wollen diese nicht in Frauenräumen und der feministischen Bewegung vertreten sehen.

TERFs gehen davon aus, dass das Geschlecht biologisch festgelegt und somit unveränderbar sei, weil uns bestimmte männliche und weibliche Körperteile für immer und ewig zu Männern oder Frauen machen. Aus dieser Perspektive heraus werden transidente Menschen wahlweise als Opfer oder als Täter:in gesehen, so Felicia Ewert in ihrem Buch TRANS. FRAU. SEIN. Je nachdem, wie es passt.

Der Mainstream-Feminismus sowie die radikalen TERFs verstehen unter einer »Frau« eine meist weiße, nicht offensichtlich behinderte cis Frau, die entweder hetero, maximal lesbisch ist. So werden Marginalisierungen und Ausschlüsse eins zu eins aus patriarchalen Strukturen übernommen und unhinterfragt weitergetragen. Statt Geschlecht als Spektrum und Geschlechteridentität als fließend anzuerkennen, wird hier etwas festgenagelt, das komplex ist und sich im stetigen Wandel befindet.

Dieses Buch wird immer wieder dafür plädieren, dass wir nicht von denjenigen in unserer Gesellschaft ausgehen, die die meisten Privilegien haben, sondern von denjenigen, die weniger Sichtbarkeit erhalten.

Frausein ist eine vielfältige Identität, die Erfahrungen, Erwartungen, institutionelle Steuerung, soziale Präsentation und innere Realität verbindet. Diese Faktoren werden nie isoliert erlebt, sondern bilden eine Bedeutungsmatrix, die Kontexte und Individuen miteinander verschmilzt und verschiedene Ideen und Verkörperungen von Weiblichkeit hervorbringt.

Die Definition von »Frau« in diesem Buch ist also weder rein biologisch noch rein sozial oder kulturell. Vielmehr ist Frausein eine komplexe Verhandlung eines vielschichtigen Systems. »Frau« bleibt ein nützliches Kürzel für die Verschränkung von Weiblichkeit und sozialem Status, unabhängig von der Biologie —...

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