Leo Baeck - Rabbiner in bedrängter Zeit

Leo Baeck - Rabbiner in bedrängter Zeit

von: Michael A. Meyer

Verlag C.H.Beck, 2021

ISBN: 9783406773792

Sprache: Deutsch

369 Seiten, Download: 1216 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Leo Baeck - Rabbiner in bedrängter Zeit



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Die Würde des Judentums wiederherstellen


Wissenschaft und Religion


Ungeachtet der theoretischen und praktischen Unterschiede zwischen den Strömungen innerhalb des deutschen Judentums war dessen religiöse Führung, mit Ausnahme der streng Orthodoxen, bestrebt, mit dem kritischen Studium des Judentums, der «Wissenschaft des Judentums», im Einklang oder zumindest in Beziehung zu stehen. Baecks Ansicht nach konnte dieses gemeinsame Bestreben der Einheit dienen, auch wenn die Ergebnisse manchmal entzweiten. In einer Buchbesprechung, die er noch als Student in Berlin schrieb und veröffentlichte, führte ihn seine Darlegung der regen Teilnahme der Juden an der Kultur des mittelalterlichen muslimischen Spanien zu der Schlussfolgerung, das Judentum sei «den Fortschritten der Wissenschaft nie feindlich» gegenübergetreten, sondern habe sie als «Mittel für die Förderung der Religion betrachtet».[1] Dass eine unvoreingenommene und kritische Untersuchung dem Judentum nicht schade, sondern es vielmehr stärke, war Baecks lebenslange Überzeugung. Doch so sehr er sich in seinen Schriften der objektiven Forschung widmete, blieben es direkt oder indirekt fast immer historische Untersuchungen mit dem Ziel, das Judentum zu befördern.

In Leo Baecks Leben spielte die jüdische Wissenschaft vom Beginn seiner Karriere an eine zentrale Rolle. Einem seiner Studenten am Liberalen Seminar zufolge, an dem Baeck selbst studiert hatte und später fast dreißig Jahre lang lehrte, war «von all seinen zahlreichen Interessen und Aktivitäten die wissenschaftliche Forschung das eigentliche Hauptelement seines Lebens, und er widmete sich ihr mit besonderem Eifer und Hingabe».[2] Baeck besaß einen breiten wissenschaftlichen Horizont und konnte sachkundig über Philologie, Philosophie, Geschichte und Theologie schreiben. Seine Griechisch- und Lateinkenntnisse gingen weit über das hinaus, was ihm am humanistischen Gymnasium vermittelt worden war. Im Lauf der Jahre schrieb er sieben Artikel für das damals bedeutendste wissenschaftliche jüdische Journal, die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums, sowie Dutzende wissenschaftlicher Aufsätze in anderen Organen.

Als Wissenschaftler interessierte er sich wenig für die äußere Geschichte der Juden. Er schrieb selten über deren wirtschaftliche Errungenschaften und beschäftigte sich nicht mit der jüdischen Leidensgeschichte, die neben der Geschichte der jüdischen Gelehrsamkeit für den jüdischen Historiker Heinrich Graetz ein wichtiges Element der jüdischen Vergangenheit darstellte. Baecks Interesse galt nicht den Juden als Objekt, sondern als Subjekt ihrer Geschichte, und ihre historische Kreativität lag für ihn vorrangig im religiösen Bereich. Jüdische Geschichte war für ihn die Geschichte des «Volkes des Judentums», bevor es die Geschichte des jüdischen Volkes war.[3]

Einige von Baecks Artikeln in der Monatsschrift, vor allem die frühesten, tragen nicht den persönlichen Stempel ihres Verfassers. Hier wird Baecks religiöse Verpflichtung nicht evident. Die Artikel hätten genauso gut von einem anderen – jüdischen oder nichtjüdischen – Wissenschaftler geschrieben worden sein können. Sein erster, 1900 veröffentlichter Aufsatz handelte von Levi ben Abraham, einem Epigonen von Maimonides, und war dezidiert kritisch.[4] Nach einer sorgfältigen Analyse von dessen Werk kam Baeck zu dem Ergebnis, es enthalte nichts Neues von Wert. Alles Wichtige finde sich bereits in den Schriften von Moses Maimonides. Baeck wollte, so können wir vermuten, mit diesem Artikel nur eine kleine geschichtliche Wissenslücke schließen – oder durch die Demonstration seiner kritischen Fähigkeiten in die jüdische Gelehrtenschaft Aufnahme finden. Ein Zweck oder eine religiöse Motivation ist nicht erkennbar.

Dass sich Baeck so intensiv der kritischen Untersuchung widmete, zeigt, dass er, anders als traditionellere jüdische Wissenschaftler, seiner Forschung keine Grenzen setzte. Nach seiner Ansicht konnte selbst eine radikale Bibelkritik dem Glauben nichts anhaben. In einem 1902, in den mittleren Jahren seines Oppelner Rabbinats, erschienenen kurzen Artikel argumentierte Baeck, das hebräische Wort s’neh im Buch Exodus – das gewöhnlich einen «Busch» oder «Strauch» bezeichnet, den sogenannten Brennenden Dornbusch, den Moses in der Wüste entdeckt – sei in Wirklichkeit eine Sprachvariante von sinai. Er geht so weit zu schlussfolgern, dass es nie einen brennenden Dornbusch gab, sondern nur einen brennenden Berg, den vulkanischen Berg Sinai. Von dieser ungewöhnlichen, wenngleich nicht ganz neuen Hypothese hat er sich nie distanziert, er wiederholte sie später sogar.[5] Zu dem wenig schlüssigen Vorschlag am Ende des Artikels, es sei vielleicht trotzdem angemessener, bei der herkömmlichen Interpretation von Exodus 3,2 zu bleiben, könnte Baeck von dem konservativen Herausgeber der Monatsschrift gedrängt worden sein, in welcher der Artikel erschien.

In den folgenden Jahren veröffentlichte Baeck gelegentlich Studien mit einem streng wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Doch in den meisten seiner Publikationen ging es ihm um die Verteidigung und Verbreitung der jüdischen Religion. In dieser Absicht unterschied er sich von führenden Vertretern der jüdischen Geschichtswissenschaft in Deutschland. Leopold Zunz, ein religiöser Jude, der dennoch als Vater der modernen Wissenschaft des Judentums gilt, erklärte emphatisch: «Unsere Wissenschaft soll sich … zunächst von den Theologen emanzipiren und zur geschichtlichen Anschauung erheben.»[6] Zunz lebte die meiste Zeit seines Lebens in einem Deutschland, in dem die Juden nicht vollständig emanzipiert waren, und deshalb ging es ihm in seinen historischen Schriften um die politische Erringung der bürgerlichen Gleichheit und die Anerkennung der Wissenschaft des Judentums als akademisches Fach an deutschen Universitäten und nicht so sehr um religiöse Ziele. Sein Schüler Moritz Steinschneider vertrat eine ähnliche Position. Dennoch beschäftigte sich Zunz, anders als Steinschneider, in seinen wissenschaftlichen Arbeiten vorrangig mit der Geschichte der jüdischen Religion und nicht mit den Leistungen der Juden in den Wissenschaften und Künsten. Im 20. Jahrhundert begannen einige jüdische Wissenschaftler, unter ihnen Fritz Bamberger, das kritische Studium der jüdischen Quellen als eine genuin religiöse Unternehmung zu betrachten, womit die Wissenschaft als Mittel für einen außerhalb ihrer selbst liegenden religiösen Zweck nicht mehr gebraucht wurde.

Baecks wissenschaftlicher Arbeit lag ein völlig anderer Ansatz zugrunde, der im religiösen Judentum verankert war, auch wenn er die Maßstäbe der objektiven Wissenschaft anlegte. In der Vorrede zu seiner ersten Essaysammlung Wege im Judentum (1933) schrieb Baeck, die Aufsätze dieses Bandes seien «nicht sowohl über das Judentum als vielmehr aus dem Judentum hervor … geschrieben worden».[7] Sich selbst – und alle Juden – sah er als «hineingestellt» in die religiöse Erfahrung. Ein jüdischer Wissenschaftler müsse von dieser Position ausgehen, nicht von einer künstlichen Außenperspektive. Wenn auch nicht durchgängig, so benutzte Baeck doch häufig den Ausdruck «Wissenschaft vom Judentum» statt «Wissenschaft des Judentums». Diese von ihm bevorzugte Formulierung könnte bedeuten, dass jüdische Wissenschaft schon durch ihre Bezeichnung signalisiert, dass sie von innen nach außen geht und nicht von außen angewandt wird. Auf seine eigene Wissenschaft traf dies ganz sicher zu. Das rein akademische Studium der Religion, schrieb er, sei aufgrund seiner Methode außerstande, den Glauben hervorzubringen, dessen Quellen anderswo lägen. Religion, davon war er überzeugt, könne durch «wissensmäßige Erforschung» allein nicht vollständig erfasst werden.[8] Doch in einer vom Glauben durchdrungenen akademischen Untersuchung könne beides miteinander verbunden werden. Beim Studium der Religion, so Baeck, müssten Glaube und Wissenschaft untrennbar miteinander verschmolzen sein. Eine tiefgreifende Untersuchung der Religion müsse von einem religiösen Standpunkt aus geschrieben werden, und der Stoff sollte durch das Bewusstsein ihres Verfassers und nicht durch die von ihm losgelöste Geschichte der Religion geprägt sein. In Dieses Volk. Jüdische Existenz, seinem letzten großen Werk, schrieb er: «Man kann die Geschichte begreifen, nur wenn man in den Glauben eingedrungen ist, und man kann den Glauben verstehen, nur wenn man auch die Geschichte erfaßt.»[9]

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