Die große Erfindung - Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften

Die große Erfindung - Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften

von: Silvia Ferrara

Verlag C.H.Beck, 2021

ISBN: 9783406775413

Sprache: Deutsch

253 Seiten, Download: 3630 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die große Erfindung - Eine Geschichte der Welt in neun geheimnisvollen Schriften



UNENTZIFFERTE SCHRIFTEN


Inseln


In unserer ersten Erzählung sind das Geheimnis, der Wettbewerb und das Experiment mit Inseln verwoben. Auch wenn wir uns von Inseln als solchen eine falsche Vorstellung machen: die von urzeitlichen Ökoparadiesen, archaischen Idyllen mit überbordender, wildwuchernder und alles beherrschender Vegetation, in der man die Zivilisation weit hinter sich lässt. Inseln dienen uns als Orte der Zuflucht, die einfaches Leben verheißen. Als Orte, an denen man leicht vergessen kann.

In dieser Geschichte sind Inseln allerdings das Gegenteil: Schichten einer komplexen Gesellschaft, den anderen häufig voraus, hochentwickelte Zentren, in denen experimentiert und kreiert wird. Aktive Heimstätten, an denen darauf hingearbeitet wird, in Erinnerung zu bleiben. Und zwar rastlos. In dieser Geschichte stehen Inseln für das Aufblitzen von Schöpfung und Ambition, für die Behauptung von Identität. Auf den Inseln dieses Kapitels herrscht ein kraftvolles, tiefes Bedürfnis, das uns wohl alle verbindet: zu zeigen, dass man einzigartig ist.

Dies ist anscheinend eine wesentliche Zutat von Schriften, die auf Inseln entstanden sind. Eine Vielfalt, die beinahe zwangsläufig Rätsel aufgibt. Heute liegen uns ungefähr ein Dutzend alte Schriften vor, die wir nicht lesen und verstehen können. Sie warten immer noch auf ihre Entzifferung. Und fast alle werden in diesem Buch behandelt, vom Voynich-Manuskript bis zur Indusschrift – auf einem Weg, der über Inseln führt. Denn tatsächlich stammt die Hälfte dieser unentzifferten Schriftsysteme von einer Insel: von Zypern, Kreta und der Osterinsel. Wie hängen diese (bislang) noch nicht dechiffrierten Codes mit der räumlichen Begrenztheit von Inseln zusammen? Oder sind sie im Grunde deren logische Folge?

Mysterium und Kreativität, Geheimnis und Innovation, Vielfalt und Wettbewerb. Aber es fehlt ein weiteres Element: Auf Inseln stellt die Erfindung einer Schrift auch ein Experiment dar. Und in deren bewegter Geschichte ist dieser Versuch, zumindest auf lange Sicht, häufig gescheitert. Wie wir sehen werden, bringt die Inselseele offenbar Unvollständiges, Skizzenhaftes und Unvollendetes hervor. Der kreative Blitz erlischt und wird zum toten Gleis. Unsere isoliert entstandenen Schriften sind oftmals keine Erfolgsgeschichten. Weder für sich, weil sie ausstarben, noch für uns, die wir ihre Geheimnisse nicht lüften können.

Dennoch steht hinter allen Schriftexperimenten das hartnäckige Bestreben nach Existenz und Dauerhaftigkeit. Aber sie krankten häufig am Fehler, auf lokaler Ebene zu verharren, anstatt anderswo nach Lebenssaft zu suchen, ferne Orte zu erkunden. In ihrem beharrlichen Versuch, sich eine Existenz zu schaffen, machten sie an den Ufern des Meeres halt.

Kreta


Unentziffert. Nicht entschlüsselte Codes. Auf Kreta tauchten vier Schriften auf: die kretischen Hieroglyphen, die Linearschrift A, die Schriftzeichen auf dem Diskos von Phaistos und die Linearschrift B. Einzig von der letzten ist die Sprache bekannt. Wie ist dies möglich? Wieso ist unsere Kenntnis so begrenzt? Wieso wissen wir so wenig über die Sprachen dieser Insel? Genügen viertausend Jahre Geschichte, um alles in Stille zu begraben?

Mit offenem Blick


Allzu vieles von unseren Ursprüngen entzieht sich unserem Verständnis. Sprachen, Namen, Migrationsbewegungen, Völkergemische. Ohne entzifferte und gedeutete Schriften fehlt jeder Zugriff auf genaue und vielfältige Details. Die Archäologie hilft, Lebensweisen, Stile, Vorlieben einer Kultur und materielle Dinge zu verstehen. Genaue Kenntnisse über das Denken vermitteln dagegen nur Texte.

Es erscheint paradox: Aber je näher wir uns am eigenen Haus umschauen, desto weniger verstehen wir. Gerade die ersten Schriften auf unserem alten Kontinent bilden die am schwersten einzunehmende Festung. Wir stehen vor unüberwindbaren Mauern, die uns den Blick darauf versperren, welches unsere Wurzeln sind. Wer hat die erste europäische Schrift entwickelt? Welche Sprache (oder Sprachen) hielt sie fest? Kurz, von woher stammen wir eigentlich?

Der Konzept Europa ist offenbar ein historisches Konstrukt, schichtweise errichtet aus Eroberungen, Hinterlassenschaften, Überlieferungen und auch zahlreichen Mythen. Die europäische Identität wird seit jeher ebenso sehr gefeiert wie verfemt, weil ihre Grenzen fließend, ihre Farben allzu verschwommen sind. Jahrtausende Revue passieren zu lassen, um sich an der Idee einer Identität festzuklammern, ist eine komplizierte Übung, weil Identität flüchtig und veränderlich ist. Zu etwas dazuzugehören wirft stets Probleme auf. Und anstatt sich zu dessen Komplexität zu bekennen, greifen wir dieses Etwas häufig eben deshalb an, weil es auf brüchigem, vulkanischem Boden gründet. Wir haben ein verzweifeltes Bedürfnis nach Wurzeln.

Schon der griechische Mythos mit seiner Idealgeographie verweist, um uns eine Heimat zu schenken, direkt auf Kreta, indem er der Mutter des Minos, des kretischen Königs, den Namen «Europa» gibt. Europa ist Kreta, Kreta ist Europa, seit Anbeginn der Zeiten, so will es die Legende. Wurzeln.

Auch das Altgriechische hilft uns: eurys- – «weit», ops- – die Wurzel von «Gesicht», «Antlitz» (vielleicht ist das auch eine willkürlich hergestellte Etymologie, um den Namen verständlicher zu machen). Europa und sein Weitblick auf die Welt, mit dem es von Griechenland aus und über es hinaus alles kontrolliert. Manche vertreten einen semitischen Ursprung des Namens und ziehen eine Verbindungslinie zum Okzident, zu ereb – alles, was nach Westen blickt.[1]

Mit offenem Visier, mit offenen Augen gen Westen. Unsere Augen sehen allerdings immer noch nichts, wenn wir bedenken, dass wir unsere Ursprünge nach wie vor nicht sicher kennen. Europa, ein wackeliges Konzept, ein Kontinent, dessen ursprüngliche Sprachen unklar sind, und wir heute, die wir das Ergebnis kultureller Mischungen und Gebräue sind.

Schon Homer redet von Kreta als einem Schmelztiegel der Kulturen, einem Resonanzraum von Sprachgemischen. Dies alles legt er Odysseus in den Mund, der Penelope gegenüber behauptet, er stamme von keinem Geringeren als Minos ab, und ihr sagt, auf Kreta gebe es zahllose Völker, zahllose Städte und Sprachen über Sprachen: Achaier, Eteokreter, Kydonen, Dorer, Pelasger. Ein wahrhaftiges Chaos. Aber wer sind all diese Völker?

Wir stochern so ziemlich im Nebel, aber nicht ohne Hoffnung. Wenn Kreta das Europa der Anfänge ist, dann stoßen wir eines baldigen Tages vielleicht auf einen erhellenden Hinweis. Eben in den kretischen Texten, die wir bislang noch nicht lesen können.

Pioniere


Beginnen wir also hier, mit Kreta und dem Anfang: Begeben wir uns auf einen Friedhof, angelegt vor viertausend Jahren, mitten auf dieser Insel, die nach Sizilien, Sardinen, Zypern und Korsika die fünftgrößte des Mittelmeeres ist. Und auch hier gibt allein schon der Name Rätsel auf: Kreta. Woher er stammt, ist unbekannt, vielleicht aus einem antiken Dialekt Anatoliens: von *kursatta[2] für «Insel», also könnte der Name durch Antonomasie entstanden sein.

Kreta könnte folglich nicht irgendeine, sondern die Insel, the island, sein. Messen wir dem aber nicht zu viel Bedeutung bei: Der Name erscheint als die typische Bezeichnung, die jemand verwendet, der bislang nur wenige Inseln zu Gesicht bekommen hat. Man denke an einen Anatolier, der gewohnheitsmäßig Samos oder Mytilene auf Samos besucht. Da muss ihm Kreta wie ein gewaltiger Erdteil erschienen sein. Kreta = Europa, wie ein Kontinent. Aber was hat Anatolien damit zu tun? Inzwischen sind wir alle überzeugt, dass Kreta vor Jahrtausenden langsam, aber unaufhaltsam von anatolischen Migranten besiedelt wurde. Ein chaotischer Schmelztiegel, aus dem unvorstellbare Legierungen hervorgingen. Darauf kommen wir in Kürze zurück.

In den Gräbern des Friedhofs liegen Knochensiegel, winzig klein, mit akribischer Sorgfalt graviert, Miniaturkunst vom Feinsten. Hier stoßen wir auf die ersten europäischen Inschriften. Sie sind seltsam. Einige Zeichen sind erkennbar: eine Doppelaxt, ein Gefäß. Manche sind abstrakt, sodass ihre Bedeutung verborgen bleibt. Siegel...

Kategorien

Service

Info/Kontakt