Deutschland - Geschichte einer Nation

Deutschland - Geschichte einer Nation

von: Helmut Walser Smith

Verlag C.H.Beck, 2021

ISBN: 9783406774164

Sprache: Deutsch

669 Seiten, Download: 32029 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Deutschland - Geschichte einer Nation



Einleitung


I.


Dieses Buch handelt von Nation und Nationalismus in Deutschland zwischen 1500 und 2000. Seine Kernthese lautet, dass die deutsche Nation über fünf Jahrhunderte hinweg auf radikal unterschiedliche Art verstanden, dargestellt und erlebt wurde. Es vertritt die Ansicht, dass Nationen wie viele andere geschichtliche Phänomene weder zeitlose Wahrheiten noch willkürliche historische Erfindungen sind. Vielmehr sind sie zu verschiedenen Zeiten auf ganz unterschiedliche Weise real oder wahr. Etwas vereinfacht ausgedrückt: Es gab nie eine transhistorische Vorstellung der deutschen Nation. Es gab immer nur eine Nation in ihrer Zeit. Der deutsche Nationalismus bezog sich stets auf diese sich verändernden Konstellationen, war aber nicht die Sache selbst. Es gab ein Deutschland vor dem Nationalismus, während des Nationalismus und nach dem Nationalismus.

Diese These impliziert, dass die Vorstellung von der deutschen Nation – und nicht die Ideologie des deutschen Nationalismus – die umfassendere Geschichte mit der längeren Historie ist. Chronologisch betrachtet begann der deutsche Nationalismus erst relativ spät. Er durchlief eine äußerst verheerende mittlere Phase, und so, wie er hier definiert ist, ist es möglich, dass er endet. Er kristallisierte sich in eindeutiger Form erstmals nach der Französischen Revolution heraus. Er war eine explizit politische Ideologie, die Ich und Land als Einheit betrachtete, die der Ansicht war, Bindungen an die Nation sollten über anderen Loyalitäten stehen, und die den männlichen Bürger unausgesprochen, quasi vertraglich darauf verpflichtete, für sein Land Opfer zu bringen, zu sterben und zu töten. Im 20. Jahrhundert, in seiner radikalen Form, sorgte der deutsche Nationalismus für nationalen Zusammenhalt, indem er die Verfolgung, Vertreibung und Ermordung anderer propagierte und betrieb.[1]

Ganz im Gegensatz zu einer beliebten Deutungstradition behauptet dieses Buch, dass deutsche Nationalisten die deutsche Nation nicht hervorbrachten oder erfanden.[2] Vielmehr veränderten sie deren Bedeutung, deren Sinngehalt. Diese Veränderung erfolgte erst spät auf der nationalen Zeitachse. Nehmen wir den Zeitraum zwischen unserem Ausgangspunkt im Jahr 1500 (als deutsche Humanisten Deutschland erstmals als Nation definierten, es im zweidimensionalen Raum darstellten und eine beträchtliche Anzahl an Artefakten schufen, die Deutschland inmitten anderer Nationen zeigten) und unserem Endpunkt im Jahr 2000 (an dem die Geschichte, zumindest fürs Erste, in Zeitgeschehen übergeht), dann tauchte der Nationalismus erst nach über der Hälfte der langen und wechselvollen Geschichte dessen auf, wie die Deutschen sich ihre Nation vorstellten und sie erlebten. Das Zeitalter des Nationalismus, wie ich diese Periode nennen will, umfasste das Jahrhundert zwischen der Spätphase der Napoleonischen Kriege und dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Charakterisiert war es durch eine gesellschaftliche und kulturelle Vertiefung der Nation einerseits und den Nationalismus als wirkmächtiges Gefüge politischer Vorstellungen, welche die Nation definierten, andererseits. Doch selbst im deutschen Kaiserreich am Vorabend des Ersten Weltkriegs war der Nationalismus, wie wir sehen werden, eine zwar wichtige, aber in vielerlei Hinsicht noch keineswegs dominante Ideologie. Erst später wurde er zur beherrschenden Ideologie der Epoche, im nationalistischen Zeitalter, als er eine zwingende, letztlich aber brüchige Rechtfertigung für die Hingabe des eigenen Lebens lieferte, die Deutschland während des Ersten Weltkriegs von seinen Bürgern eingefordert hatte. In seiner radikalen Variante verlangte der Nationalismus in dieser Zeit, bestimmte Gruppen innerhalb der Nation zu opfern, um das zu erreichen, was uns als Dystopie ethnischer Homogenität erscheint. Während des Zweiten Weltkriegs mündete diese Dystopie in die Todesräume, die in der nationalsozialistischen Vorstellung vom «Lebensraum» implizit enthalten waren. Sie mündete in den Genozid. So gesehen war der deutsche Nationalismus nicht nur ein finsterer Kulminationspunkt einer langen und zerstörerischen Geschichte Deutschlands. Er war vielmehr ein wichtiges, am Ende verheerendes, aber eben auch historisches Kapitel innerhalb dieser Geschichte.

Die zweite zentrale These dieses Buches bezieht sich auf die Balance zwischen Krieg und Frieden in der longue durée deutscher Vergangenheit. Die Bücher zur Militärgeschichte Deutschlands füllen ganze Regale. Doch über weite Strecken der Geschichte betrachteten die Deutschen ihr Land als im Grunde friedlich. Ihre Nachbarn waren oftmals der gleichen Ansicht, manchmal allerdings in dem Sinne, dass sie genau das beklagten. «Kriegerischer Geist und Vaterlandsliebe (…) existieren (…) kaum noch für die Deutschen», schrieb beispielsweise 1810 eine kritische Madame de Staël. Doch als ihr brillantes Buch De l’Allemagne nach der Niederlage Napoleons in der Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 1813 endlich erschien, wirkte ihre Einsicht bereits etwas überholt. Es erübrigt sich, eigens darauf hinzuweisen, dass die anschließende Geschichte Deutschlands zu einem nicht geringen Teil von Militarismus, militärischer Zerstörung und Gewalt überschattet wurde. Heute erleben wir ein ganz anderes Deutschland – eines, dem es um gesellschaftliche Stabilität und Wirtschaftswachstum geht, weniger um militärische Macht und territoriale Expansion; eines, das von seinen männlichen Bürgern keinen Militärdienst mehr verlangt; und eines, in dem der Tod, mit dem Historiker Michael Howard gesprochen, «nicht mehr Teil des Gesellschaftsvertrags» ist.[3]

Doch der Frieden beschert uns nicht nur leere Blätter, wie Hegel einst mit Blick auf das Glück meinte. Vielmehr war er im absoluten wie im relativen Sinne für den langen historischen Bogen der deutschen Nation genauso wichtig wie der Krieg. Nehmen wir nur die Messgröße, mit der Politikwissenschaftler die «Bellizität» festzustellen versuchen: den sogenannten Konfliktkatalog.[4] Er listet größere und kleinere Konflikte des letzten halben Jahrtausends auf und bewertet ihre Letalität sowie ihre Dauer. Setzt man als Schwelle zum Krieg die Zahl von 1000 Toten an, wodurch man kleinere Scharmützel herausfiltert, so erlebten die deutschen Gebiete zwischen 1500 und 1914 etwa doppelt so viele Friedens- wie Kriegsjahre. In bestimmten Phasen blieb die kriegsbedingte Gesamtsterblichkeit (selbst wenn man sie in Relation zum geschätzten Bevölkerungsniveau setzt) jahrzehntelang niedrig, wie etwa in den 80 Jahren nach dem Bauernkrieg von 1525, im späten 18. Jahrhundert (nach dem Siebenjährigen Krieg) und für fast ein Jahrhundert nach dem Abschluss des Wiener Kongresses 1815. Skeptiker werden ohne Zweifel darauf hinweisen, dass Preußen, ein kriegerischer Staat, Deutschland 1871 einte und diese Tatsache die gesamte Geschichte unvermeidlich verzerrt. Doch dieser Ansatz begeht den Fehler der «kleinpreußischen Schule», welche die deutsche Geschichte zu einem Anhängsel preußischer Geschichte verkürzte und darüber außer Acht ließ, dass Preußen, wie jüngst gezeigt wurde, über viele Jahrzehnte eine schwächere und weniger kriegslüsterne Macht war, als man gemeinhin glaubte.[5] Noch deutlicher tritt die Aussage des Konfliktkatalogs zutage, wenn man Deutschland mit anderen europäischen Nationen vergleicht. So zeigt sich beispielsweise, dass im 18. und 19. Jahrhundert Großbritannien und Frankreich die großen Kriegsmächte waren; dass in Mitteleuropa Österreich eine bedrohlichere Militärmacht als Preußen war; und dass die deutschen Gebiete, die man ob ihrer «Mittellage» oft als besonders verwundbar betrachtete, tatsächlich mehr Friedensjahre genossen als viele Nachbarländer.[6]

Die dritte zentrale These des Buches betrifft Realismus und Tragödie. Sie ist womöglich die abstrakteste der drei Thesen, könnte jedoch eine begriffliche Tür öffnen, um neu über Nationen nachzudenken. Ausgangspunkt ist ein Forschungsansatz des deutsch-jüdischen Literaturwissenschaftlers Erich Auerbach, der zwischen 1942 und 1945, als er in Istanbul im Exil weilte, ein bemerkenswertes Buch verfasste: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Darin vertrat Auerbach die These, zu einer sozialrealistischen Sichtweise komme es, wenn die uralte aristotelische Unterteilung literarischer Stile, wonach nur die Hoch- und Wohlgeborenen geeigneter Gegenstand der Tragödie sein könnten, aufgebrochen werde und das Alltägliche, Gewöhnliche, Niedere Gegenstand «ernster, problematischer, ja sogar tragischer Darstellung» werde.[7] Auerbachs Test – wann kann ein Subjekt oder eine Gruppe wahrhaft...

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