So B. lt - Heidis Geschichte

So B. lt - Heidis Geschichte

von: Sarah Weeks

Carl Hanser Verlag München, 2021

ISBN: 9783446273221

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 1540 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

So B. lt - Heidis Geschichte



Kapitel 3

Hallo


Mama hatte keinen Beruf und auch Bernadette ging nicht arbeiten. Ich war die Einzige in der Familie, die eine Beschäftigung hatte. Mit neun fing ich an, zweimal in der Woche auf die Zwillinge der Chudacoffs aufzupassen, die im fünften Stock wohnten. Mrs C. gab Kindern aus der Nachbarschaft Geigenunterricht und währenddessen betreute ich für 2,50 Dollar pro Stunde ihre Sprösslinge. Ich verdiente zehn Mäuse pro Woche. Damals fand ich das ziemlich viel Geld, obwohl Mama und ich natürlich nicht annähernd davon leben konnten.

Jeden Monat trudelten bei Bernie auf den Tag genau Rechnungen für Gas und Strom, Telefon und Miete ein, während sich bei Mama und mir nie jemand meldete. Wir besaßen zwar kein Telefon, lebten aber in einer ausreichend großen Dreizimmerwohnung, die mit Heizung und Strom versorgt wurde wie bei allen anderen Mietern auch; nur zahlten wir nichts dafür.

»Wenn Mama und ich nichts bezahlen, dann stehlen wir doch, oder?«, fragte ich Bernadette eines Tages.

»Nun, vielleicht sieht der eine oder andere das so, aber ich denke da anders, Heidi. Manche Leute fallen durch das Raster und landen auf der Straße. Du und deine Mama, ihr seid nur ein bisschen weicher gefallen, mehr nicht.«

Bernadette entdeckte als Erste meine Glückssträhne. Wir spielten ein neues Spiel, das sie für mich bestellt hatte; es hieß Memory. Es besteht aus kleinen Pappkarten mit Bildern drauf, die man mischt und dann mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch verteilt. Dann dreht man abwechselnd immer zwei Karten um und versucht, passende Pärchen zu finden. Das Ganze soll das Gedächtnis testen, indem man sich zu erinnern versucht, wo man die kleine Katze oder den Schirm schon mal gesehen hat, damit man die gleiche Karte wieder umdrehen kann, wenn man das Gegenstück später irgendwo anders findet. Aber für mich hatte das Spiel nichts mit Gedächtnis zu tun.

Beim ersten Mal deckte ich die Karte in der Mitte auf. Eine gelbe Ente. Dann drehte ich aus keinem besonderen Grund die Karte links oben in der Ecke um. Da war die zweite gelbe Ente.

»Gut geraten!«, sagte Bernadette.

Allerdings gelang mir das Gleiche noch zwanzigmal hintereinander. Bernadette kam überhaupt nicht zum Zug. Bei jedem Versuch landete ich einen Treffer. Ich musste mein Gedächtnis nie testen, weil ich alle Pärchen ohne Fehlgriff fand. Es war kinderleicht. Ich musste auch nicht lange überlegen — ich streckte nur die Hand aus, drehte eine Karte nach der anderen um und schon hatte ich die richtigen Pärchen.

»Wie hast du das bloß gemacht, Heidi-Ho?«, fragte Bernadette, wobei sie auf die Kärtchen sah und sich am Kinn kratzte.

Ich wusste nicht, wie ich es gemacht hatte. Doch kaum hatte sie die Karten neu gemischt und mit dem Bild nach unten auf dem Tisch verteilt, gelang es mir wieder.

»Ich werd verrückt«, sagte Bernadette.

Ich bin nicht telepathisch veranlagt — ich kann weder die Zukunft voraussagen noch Dinge sehen, die anderswo passieren, oder mit Leuten reden, die gestorben sind. Das weiß ich, weil Bernadette nach meiner Glückssträhne beim Memoryspielen das alles an mir getestet hat. Immer wieder erklärte ich ihr, dass ich die zweite Karte nicht im Kopf sah, sondern nur riet, wo sie sein könnte. Es war nichts Weltbewegendes wie übersinnliche Wahrnehmung oder so. Ich hatte schlicht und einfach nur Glück.

Im Sudsy Duds, unserem Waschsalon an der Ecke, kam mir mein glückliches Händchen besonders gelegen. Hinten bei den Toiletten gab es da einen Spielautomaten und mit dem konnte ich richtig gut umgehen. Obwohl mich Bernadette nur äußerst ungern zum Sudsy Duds schickte, musste ich doch ziemlich regelmäßig hingehen. Mein Babysitter-Geld reichte nur für die Lebensmittel.

Bernadette hätte mir und Mama ohne mit der Wimper zu zucken den letzten Wassertropfen gegeben, wenn wir in der Wüste am Verdursten gewesen wären, aber Geld hatte sie nicht zu verschenken. Bevor Mama und ich nach Reno kamen, hatte Bernie mit ihrem Vater zusammen gewohnt, nur die beiden. Am Abend seines fünfundsiebzigsten Geburtstags gingen sie in einem Diner essen. Er aß ein Sandwich mit Schmorbraten und zwei Stücke Sandkuchen und auf dem Heimweg hatte er einen Herzanfall und fiel tot um. Ich dachte mir oft, dass wir beide keinen Vater hatten, war etwas, was Bernadette und mich verband, aber es gab einen großen Unterschied: Mir fehlte mein Vater nicht. Ich hatte ihn nie kennen gelernt, kannte nicht mal seinen Namen. Ich dachte auch nie an ihn. Aber Bernadette vermisste ihren Vater. Kurz nach seinem Tod fing das mit ihrer Agoraphobie an.

Bernies Vater hatte ihr etwas Geld hinterlassen. Es war nicht viel, aber sie bewahrte es in der Bank auf und bezeichnete es als ihren Notgroschen. Für sie reichte es, um über die Runden zu kommen. Wenn wir zusätzliches Geld für Lebensmittel oder etwas Außerplanmäßiges brauchten, beispielsweise ein Ersatzteil für den Staubsauger, diente meine Glückssträhne als Blechdose, mit der wir unser Boot ausschöpften und uns über Wasser hielten.

»Du weißt, wie ungern ich dich da runterschicke, Heidi, aber solange du deine Gabe nicht missbrauchst oder — Gott bewahre — du erwischt wirst, ist es wohl keine Sünde, wenn du am Automaten spielst«, sagte Bernie immer, wenn ich zum Sudsy Duds ging. »Schließlich gibt es einen guten Grund dafür. Aber wenn der Tag kommt, an dem ich dich runterschicke, um dem Automaten genug Geld zu entlocken, damit ich mich mit einer Nerzstola herausputzen kann, an diesem Tag soll mich der Blitz treffen, keine Frage.«

Mir war nicht ganz klar, was Bernadette mit »meine Gabe missbrauchen« meinte, aber ich wusste genau, was ich tun musste, um nicht erwischt zu werden. In Reno sind Glücksspiele für Minderjährige verboten, aber es gab Mittel und Wege, das zu umgehen. Ich war immer groß für mein Alter, und da Bernie ziemlich klein war, konnte ich um die Zeit, als ich zehn war, einen Großteil ihrer Kleidung tragen — und sogar ihre Schuhe. Viele von Bernies Blusen und Kleidern waren alt und verwaschen, die Knöpfe passten nicht zusammen und die Reißverschlüsse waren mit Sicherheitsnadeln festgesteckt. Säume wurden in der Regel mit Heftklammern hochgetackert, weil das schneller ging als mit Nadel und Faden. Ich stellte mich mit dem, was wir für mich ausgesucht hatten, auf einen Stuhl, dann ging Bernie mit der Heftmaschine um mich herum und tackerte schnell hier und da, bis alles richtig saß.

Ich hatte dickes, dunkles und unglaublich lockiges Haar. Manchmal war es so verfilzt, dass es nur eine Möglichkeit gab, um mit dem Kamm durchzukommen: Man musste die Knoten mit einem Nagelknipser herausschneiden. Ich wünschte mir immer glattes Haar wie das von Bernie. Wenn sie es offen trug, konnte sie die Spitzen unter ihren Hintern ziehen und sich sogar draufsetzen. Ich wollte mir auch so lange Haare wachsen lassen, aber irgendwie reichte es immer nur bis zu den Schulterblättern. Bernie kämmte und bürstete mein Haar jeden Morgen und dann wieder am Abend vor dem Schlafengehen. Sie nannte es meine wilde Mähne, und im Scherz sagten wir immer, dass sie die Einzige ist, die sie wirklich bezähmen kann. Sobald ein Besuch im Sudsy Duds anstand, musste ich mich auf einen Küchenstuhl setzen und sie »machte« mir die Haare. Sie zog sie straff nach hinten, verzwirbelte sie und steckte sie zu einer Frisur zusammen, die sie »Kringel« nannte.

»Genau wie Tippi Hedren in Die Vögel«, erklärte sie mir.

Mit der Frisur, einem Kleid und einem Paar Pumps von Bernie fehlte mir nur noch ein Hauch Lippenstift, um meine Aufmachung zu vervollkommnen.

»Halt dich im Schatten, Heidi«, sagte Bernadette dann und band mir einen dünnen Schal um den Kopf, damit meine Frisur nicht vom Wind zerzaust wurde. »Und vergiss nicht, Herzchen, hör auf die Augen

Bernie war überzeugt, dass sich die Vertrauenswürdigkeit eines Menschen nur feststellen lässt, wenn man auf das hört, was einem die Augen sagen.

»Die Leute wenden alle möglichen Tricks an, um ihr wirkliches Wesen vor anderen zu verbergen, Heidi, aber glaub mir, die Augen verraten sie immer«, sagte sie.

Bernie entdeckte alle möglichen Eigenschaften in den Augen von Leuten, die mir nie aufgefallen wären. Zur Übung musste ich Bilder von Gesichtern in Zeitschriften beurteilen. Meiner Ansicht nach sahen sie immer richtig nett aus, bis Bernie mich auf ein fieses Schimmern oder ein hängendes Lid hinwies, die mir das windige Wesen der betreffenden Person sofort hätten verraten müssen.

Wenn ich zum Sudsy Duds ging, gewann ich...

Kategorien

Service

Info/Kontakt