Faschismus - Und wie man ihn stoppt

Faschismus - Und wie man ihn stoppt

von: Paul Mason

Suhrkamp, 2022

ISBN: 9783518770061

Sprache: Deutsch

300 Seiten, Download: 1622 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Faschismus - Und wie man ihn stoppt



9Einleitung


Die Faschisten sind zurück – aber warum?

Was wäre, wenn das NS-Regime eine Zeitmaschine erfunden und sich in den letzten Wochen des Zweiten Weltkriegs entschlossen hätte, eine SS-Einheit in die Zukunft zu schicken, um das »Vierte Reich« zu errichten? Für welches Jahr wäre wohl die Landung programmiert worden?

75 Jahre dürften damals wie ein angemessener Zeitraum erschienen sein. Die meisten Zeugen des Holocaust würden bis dahin tot sein. Machen wir ein Gedankenexperiment: Nehmen wir an, im März 2020 landet ein Trupp nationalsozialistischer Zeitreisender in Europa. Die Mitglieder der Einheit sind schockiert vom Ultraliberalismus der westlichen Gesellschaft. Sie staunen über unsere digitalen Technologien, und zu ihrem Entsetzen stellen sie fest, dass die Musik von Afroamerikanern die Welt erobert hat. Aber dann …

Dann sehen sie, dass hinduistische Mobs in Delhi mit Eisenstangen auf linke Studenten einprügeln. Sie sehen, dass die rechtsextreme Partei Vox die spanischen Medien mit einer gewalttätigen Rhetorik gegen Migranten, Feministen und die Linke überflutet und damit bei der Parlamentswahl 2019 3,7 Millionen Stimmen gewonnen hat. Sie entdecken, dass eine Million chinesische Muslime in Anlagen interniert worden sind, die große Ähnlichkeit mit Konzentrationslagern haben – und dass sich offenbar niemand dafür interessiert.

Als sie erst einmal herausgefunden haben, wie das Internet funktioniert, und wissen, was ein Meme ist, bringt sie eine Karikatur, in der ein Frosch mit dem Namen »Honk Honk10ler« zu sehen ist, zum Lächeln. Ihr Lächeln wird breiter, als sie erfahren, dass in Deutschland eine Bundeswehreinheit aufgelöst worden ist, weil sie von Neonazis infiltriert war. Als sie tiefer schürfen, stellen sie fest, dass alle Ideen in ihren Köpfen – rassische Reinheit, männliche Suprematie, Antisemitismus und Führerkult – weltweit in Discord-Kanälen und Whatsapp-Gruppen verbreitet werden und Millionen wütende Anhänger haben.

Als sie sich eingewöhnt haben, wird ihnen klar, dass sich etwas noch Größeres zusammenbraut. Es ist eine Krankheit. Sie tötet Menschen. Als sich das Virus Covid-19 in den Vereinigten Staaten ausbreitet, sehen sie, wie rechtsextreme Demonstranten, von denen einige automatische Waffen tragen, durch die Straßen ziehen und das Recht einfordern, sich mit dieser Krankheit anzustecken.

George Floyd wird ermordet. In den Internetforen der Alt-Right brodelt die Vorfreude: Es ist so weit, »Boogaloo« ist da, das Codewort der weißen Suprematisten für einen zweiten amerikanischen Bürgerkrieg. Zehntausende Demonstranten, die auf die Straße gehen, um gegen die Ermordung Floyds zu protestieren, werden von rechtsextremen Milizen attackiert, die teilweise mit der Polizei unter einer Decke stecken.1

Trump verliert die Wahl, aber da sie aus den dreißiger Jahren angereist sind, kann das, was als Nächstes geschieht, unsere Faschisten nicht überraschen: Trump ruft einen rassistischen Mob auf, sich in Washington vor dem Kapitol zu versammeln, und stachelt die Menge dazu auf, das Gebäude zu stürmen. Es überrascht die Zeitreisenden auch nicht, dass Parlamentarier der Republikanischen Partei den Angriff rechtfertigen. Schließlich war es in den dreißiger Jahren eine unter Politikern verbreitete Praxis, Gewalt zu legitimieren.

Was tun die Besucher aus der faschistischen Vergangenheit, 11während die extreme Rechte einen vierjährigen Aufstand gegen die Regierung Biden beginnt? Sie kaufen Popcorn, entspannen sich und genießen das vergnügliche Spektakel. Ihre Mission war nicht erforderlich.

Der Faschismus ist zurück – ohne dass jemand nachhelfen musste. Etwas anderes war bereits da. Aber was? Und was können wir dagegen tun? In diesem Buch werde ich versuchen, diese Fragen zu beantworten.

Als meine Generation in den siebziger Jahren Skinheads »Nie wieder!« zurief, verstanden wir diesen Slogan nicht als Ziel, sondern als Tatsache. Der Faschismus war Geschichte: ein Produkt für immer beseitigter gesellschaftlicher Hierarchien, ein Phänomen, das durch eine Art von Wirtschaftskrise heraufbeschworen worden war, die sich nie wiederholen würde. Wir hatten gute Gründe für diesen Glauben. Der Historiker Ernst Nolte, der im Jahr 1963 die erste vergleichende Studie des internationalen Faschismus vorgelegt hatte, hatte das Phänomen für »tot« erklärt. Wir hätten alle möglichen Varianten des Faschismus gesehen, schrieb Nolte: Diese historische Episode sei abgeschlossen.2

Als die digitale Ära anbrach und Staaten und Unternehmen ihr Monopol auf Informationen verloren, hatte es den Anschein, als könnten die Eliten nie wieder die öffentliche Meinung manipulieren wie einst Hitler und Mussolini. Noch im Jahr 2008 konnte der Historiker Giuseppe Finaldi in einem Lehrbuch über Mussolini schreiben: »Der Faschismus sagt uns heute nichts mehr, und viele seiner Obsessionen wirken nicht nur absurd, sondern unverständlich.«3 Wir nahmen an, dass der Faschismus nie wiederauferstehen könne, da wir die Wahrheit über ihn herausgefunden hatten.

Mittlerweile ist klar, dass alle diese Annahmen falsch waren.

12Im Lauf des vergangenen Jahrzehnts sind rechts vom Mainstream-Konservatismus drei politische Bewegungen aufgeblüht: Rechtsextremismus, Rechtspopulismus und autoritärer Konservatismus. Eine ganze Teildisziplin der Politikwissenschaft beschäftigt sich mit den Unterschieden zwischen den drei Strömungen und hat zahlreiche Typologien, Definitionen und Etiketten entwickelt.4

Rechtsextremisten befürworten normalerweise einen »Rassenkrieg«, begehen Gewaltakte und kämpfen offen für die Beseitigung der Demokratie. Rechtspopulisten bekämpfen die Menschenrechte, stigmatisieren Minderheiten, versuchen, die Massen zu mobilisieren, sind jedoch im Allgemeinen nicht gewalttätig, sondern konzentrieren sich darauf, Wahlen zu gewinnen, wozu sie oft neue politische Parteien gründen. Autoritäre Konservative übernehmen die Rhetorik der Populisten, sind jedoch innerhalb von Mainstream-Parteien, Netzwerken der Elite und traditionellen staatlichen Institutionen tätig.

So weit die Theorie. Das Problem ist, dass diese drei Strömungen in der Realität begonnen haben, ganz bewusst Synergien zu erzeugen. Seit den neunziger Jahren nahmen die Politikwissenschaftler an, rechtspopulistische Parteien würden als Brandmauer gegen den eigentlichen Faschismus dienen. Tatsächlich ist das Gegenteil geschehen. Die Brandmauer hat Feuer gefangen.

Seit 2008 haben die Bewegungen rechts von der politischen Mitte eine gemeinsame Sprache, einen gemeinsamen Raum im Internet und ein gemeinsames Ziel gefunden: Sie wollen illiberale Demokratien errichten, die in der Lage sind, Koalitionen von Populisten und Autoritären dauerhaft an der Macht zu halten, den Rechtsstaat zu untergraben und die auf Regeln beruhende Weltordnung zu zerschlagen.

13In den zehner Jahren wurden drei der bevölkerungsreichsten Demokratien – die USA, Indien und Brasilien – rasch und gründlich untergraben. In mehr als der Hälfte der entwickelten Länder ist die Qualität der Demokratie in den letzten vierzehn Jahren gesunken. »Die Funktionstüchtigkeit des Staates, die Meinungs- und Religionsfreiheit sowie die Rechtsstaatlichkeit sind die Bereiche, in denen die meisten Einbußen zu beobachten sind«, erklärt die Monitoring-Gruppe Freedom House.5 Dieser als »demokratischer Verfall« bezeichnete Prozess hat unsere Widerstandskraft gegen den eigentlichen Faschismus verringert und einen Raum geschaffen, in dem die Faschisten operieren können.

Der französische Neofaschist Maurice Bardèche, der sein Leben der Leugnung des Holocaust widmete, sagte bereits 1961 eine Rückkehr des Faschismus in anderer Form voraus: »Mit einem anderen Namen, einem anderen Gesicht und ohne jeden Hinweis auf den Entwurf der Vergangenheit, in Gestalt eines Kindes, das wir nicht wiedererkennen, und mit dem Kopf einer jungen Medusa wird der Orden Spartas wiedergeboren werden.«6

Bardèche erklärte, nicht die SS-Einheiten und die Folterzellen hätten das Wesen des faschistischen Projekts ausgemacht, sondern sein Konzept von »Mensch und Freiheit«. Heute ist das faschistische Konzept von Mensch und Freiheit im Internet nur...

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