Spielarten des Kompromisses

Spielarten des Kompromisses

von: Véronique Zanetti

Suhrkamp, 2022

ISBN: 9783518772935

Sprache: Deutsch

287 Seiten, Download: 1517 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Spielarten des Kompromisses



20II. Was verstehen wir unter einem Kompromiss, und wann ist er gut?


1. Begriffsklärung


Kompromisse gehören neben Mediationen zum Instrumentarium der Konfliktlösung. Sie sind die letzte Zuflucht, wenn trotz der Bemühungen der Beteiligten, ihre Position zu vermitteln und rational annehmbar zu verteidigen, jeder bei seiner Ausgangsüberzeugung bleibt und gleichzeitig eine Entscheidung getroffen werden muss. Kompromisse kommen also unter Handlungsdruck zustande.

Das Wort »Kompromiss« hat seine Wurzeln im lateinischen Kompositum compromissum, compromittere (»sich gegenseitig versprechen, eine Entscheidung dem Schiedsrichter zu überlassen«).[1]  Die römische Rechtsprechung bestätigt diese Wortgeschichte: Sie verstand das Compromissum als ein wechselseitiges Versprechen zweier Konfliktparteien oder mehrerer Personen, den Schiedsspruch eines von ihnen gewählten Schiedsrichters (compromissarius) zu akzeptieren.[2]  Diese Deutung entspricht allerdings nicht dem aktuellen Verständnis des Wortes, welches eine direkte Verhandlung zwischen Betroffenen bezeichnet. Die Deutung des Kompromisses als eine pragmatische Vereinbarung zwischen streitenden Parteien, die nicht mehr an den Schiedsspruch eines Dritten gebunden sind, findet sich zum Beispiel Anfang des 17. Jahrhunderts im Oxford Englisch Dictionary (OED): Der Kompromiss ist »eine Übereinkunft (coming to terms) oder Beilegung eines Streits, durch Zugeständnisse beider Seiten; unter teilweiser Aufgabe der eigenen Posi21tion, um eine Einigung zu erzielen; in das Zugeständnis oder die Bedingungen willigen beide Seiten ein«.[3] 

In beiden Deutungen steckt der Kerngedanke, dass die Parteien, um eine Kooperation möglich zu machen, ihre Zielverwirklichung durch Teilverzicht zugunsten einer für alle akzeptablen Lösung preisgeben. Die zweite suggeriert außerdem, dass die betroffenen Seiten eine Lösung nur dann anerkennen und an ihr festhalten, wenn und weil es sich um eine Lösung handelt, die sie selbst ausgehandelt und vereinbart haben.

Ich schlage vor, allen weiteren Überlegungen/Ausführungen die folgende Definition zugrunde zu legen, um die verschiedenen Kontexte zu analysieren, in denen Verhandlungspartner sich eines Kompromisses bedienen, um ihren Konflikt zu lösen:

Ein Kompromiss bezeichnet den Prozess oder das Ergebnis einer Entscheidung oder einer Verhandlung, bei denen die beteiligten Parteien das Ziel ihrer Handlung oder ihre Handlung selbst im Hinblick auf divergierende und unversöhnliche Überzeugungen in einer für alle Parteien annehmbaren, aber von keiner als optimal angesehenen Richtung modifizieren.

Mit Prozess ist nicht die Dauer gemeint, die für die Verhandlung in Anspruch genommen wird, sondern eine Technik, eine Methode. Sie legt die Weise fest, wie eine Handlung durch abwechselndes Geben und Nehmen, stets im Blick auf die jeweiligen Interessen der Parteien, zur Ausführung kommt. So verstanden, stellt der Kompromiss qua Kompromiss ein neutrales Verfahren dar. Das Verfahren muss zwar minimale Bedingungen erfüllen, um sich unter anderem von gewalttätigen Auseinandersetzungen zu unterscheiden. Es unterliegt jedoch weder der Notwendigkeit ausgewogener Kräfte (zum Beispiel einer Machtsymmetrie), noch verlangt es eine besondere Einstellung der Protagonisten. Bargaining, Taktieren, Pokern gehören ebenso zu den möglichen Techniken der Beteiligten, die am Verhandlungstisch versuchen, so viel wie möglich für sich herauszuholen, wie das Bemühen, dem Partner mit Rücksicht und Respekt zu begegnen und seinem Anliegen so weit als möglich entgegenzukommen.

22Die Definition lässt dennoch nicht alle Formen von kommunikativen Verzerrungen zu, wie gleich deutlich werden soll.

2. Allgemeine Merkmale des Kompromisses


Zu Kompromissen kommt es dann, wenn trotz aller Bemühungen der Beteiligten, ihre Position wechselseitig zu vermitteln und rational annehmbar zu verteidigen, jeder bei seinem Standpunkt oder Wunsch bleibt und gleichzeitig eine zeitlich unaufschiebbare Entscheidung getroffen werden muss. Das bedeutet, dass die Parteien einer Option zustimmen, von der sie nicht im letzten Grunde ihres Herzens überzeugt sind. Sie schlucken die »bittere Pille«, weil sie keine andere Wahl haben: Entweder weil eine Partei damit erhofft, den Opponenten von einer Position abzubringen, die noch weniger annehmbar wäre als die durch Kompromiss verhandelte, oder weil beide Parteien wissen, dass der Preis, den sie bezahlen müssten, wenn sie auf ihrer Position beharrten, höher ist als der Preis eines Zugeständnisses an den andern. Lässt sich allerdings nur eine der beiden Seiten auf Zugeständnisse ein, kann meiner Meinung nach von einem »Kompromiss« nicht die Rede sein. Ein Kompromiss zeugt also von der Bereitschaft jeder Partei, auf die Verwirklichung ihres Interesses teilweise zu verzichten, auch wenn dieser Verzicht nicht notwendig auf beiden Seiten gleich groß ausfallen muss.

Kompromisse sind kein Selbstzweck. Sie sind nicht das, was man primär erreichen möchte. Sie treten an die Stelle einer optimalen Lösung, die sich unter den gegebenen Umständen nicht durchsetzen ließ. Insofern unterscheiden sie sich von einem Konsens. Bei einem Konsens kommen mehrere Akteure, die zuvor divergierende Positionen vertreten hatten, in ihren Überzeugungen überein. Ein Konsens kann durchaus einschließen, dass eine oder mehrere Parteien (oder sogar alle) ihre Positionen verändern. Sie tun es dann aber im Hinblick auf eine nunmehr gemeinsam anerkannte Überzeugung. Wenn diese jedoch nicht besteht, wenn Parteien sich über die Lösung eines Konflikts oder über politische Maßnahmen uneinig sind und es auch im Verlauf einer fairen und friedlichen Auseinandersetzung bleiben, bleibt ihnen – vorausgesetzt, sie wollen in Frieden miteinander leben – nichts anderes übrig, als Kompromisse zu schließen. Ein Kompromiss wird ausgehandelt, ein Konsens, da 23er auf Einsicht beruht, nicht. Kompromisslösungen kennen Grade, Konsense nicht.

Die Parteien, die mittels einer Verhandlung eine Einigung suchen, meinen jeweils, dass die Position, die die gegnerische Partei vertritt, nicht richtig oder nicht berechtigt sei. Hingegen haben sie keine Zweifel an der Richtigkeit der eigenen Position oder an der Berechtigung des eigenen Anspruches. Es ist deshalb, wie schon gesagt, ein wesentliches Merkmal des Kompromisses – im Unterschied zum Konsens –, dass die Beteiligten bei ihrer Überzeugung oder bei ihrem Wunsch bleiben. Insofern befinden sich die Individuen in einer Form von kognitiver Dissonanz, denn sie stimmen einer Sache zu, die nach ihrem Ermessen falsch (oder wenigstens nicht wünschenswert) ist. Kompromisse sind insofern eine zweite Wahl. Darum ist es ein notwendiges Merkmal von Kompromissen, dass sie für beide Partner mit einer nicht aufgelösten Unbefriedigung enden; beide sehen die erzielte Lösung als suboptimal und dennoch als die zweitbeste an.

Eine kognitive Dissonanz kann natürlich den Konfliktpartnern nicht als erstrebenswertes Ziel vor Augen stehen. Unter gewissen Umständen kann es jedoch richtig sein, das unter anderen Umständen für falsch Gehaltene zu tun. In der überschaubaren Literatur zum Kompromiss wird entsprechend die scheinbare kognitive Dissonanz wie folgt aufgelöst: Beim Akt der Kompromissschließung handelt es sich um einen Akt zweiter Stufe.[4]  Auf der ersten Stufe werden die moralischen Grundsätze eines Menschen ausgebreitet, die in Bezug auf moralische Gründe oder Werte bevorzugt werden, und in eine hierarchische Ordnung gebracht. Da diese Grundsätze sich wegen ihrer Inkompatibilität mit denen der anderen Partei nicht realisieren lassen, überlegt die Person, ob sie bei ihren Überzeugungen bleibt oder...

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