Mein Israel und ich - entlang der Road 90 - Vom See Genezareth durch das Westjordanland bis ans Rote Meer

Mein Israel und ich - entlang der Road 90 - Vom See Genezareth durch das Westjordanland bis ans Rote Meer

von: Nicola Albrecht

Polyglott, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2022

ISBN: 9783846408971

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 14438 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mein Israel und ich - entlang der Road 90 - Vom See Genezareth durch das Westjordanland bis ans Rote Meer



EINLEITUNG


Mein Weg in den Nahen Osten


Der Himmel über Peking war grau und smogverhangen, als an einem Nachmittag im Frühling 2014 mein Telefon klingelte: Ob ich mir vorstellen könne, als Korrespondentin im Nahen Osten zu arbeiten? Schock, Freude, Sprachlosigkeit.


Von einem solchen Angebot hatte ich schon lange geträumt. Dann wurde mir flau: Zu der Freude und der Neugier auf die Menschen vor Ort und der Lust auf spannende Entdeckungen gesellte sich die Sorge vor einem Leben mit meiner Familie mitten in einem der großen Krisengebiete der Welt. Aufgeregt erzählte ich meinem Mann von dem Angebot. Wir diskutierten nicht lange, waren uns schnell einig: Das war das Abenteuer, auf das wir gewartet hatten.

Schon mehrfach war ich als Reporterin mit meinen Kolleginnen und Kollegen in Tel Aviv, in Jerusalem und in Gaza gewesen, meistens wenn der Konflikt wieder einmal aufgeflammt war. Damals arbeitete ich ausschließlich als Kriegs- und Krisenreporterin, und für eine wirklich tiefgehende Auseinandersetzung mit den Orten und den Menschen blieb, offen gestanden, wenig Zeit. Die heiligen Stätten waren reine Kulisse, und selbst das leckere Essen in der Region stillte lediglich den Hunger zwischen Reportagen und Live-Schalten. Doch nun sollte es ein Teil von mir werden: das Heilige Land – Mythos und Sehnsuchtsort, Ursprung unzähliger Geschichten. Das Zuhause von Menschen, die ihr Leben lieben, aber um ihr Dasein kämpfen müssen, sollte nun auch mein Zuhause werden. Ein Zuhause zwischen Leichtigkeit und Ausnahmezustand, ganz gleich ob in der hedonistischen Partywelt von Tel Aviv, den engen Gassen der Jerusalemer Altstadt oder auf den quirligen Märkten von Ramallah bis Jenin. Die in ihrer Heimat tief verwurzelten Menschen, die auf der Suche nach Zugehörigkeit und Selbstbestimmung waren, sollten meine Nachbarn werden. Das war vor allem eines: aufregend.

Im Juli 2014 ging es los. Ich flog von Peking nach Tel Aviv, um nach einer Wohnung für uns drei und einer Kita für unseren Sohn Jonas Ausschau zu halten. Kurz nach der Landung brach der Konflikt wieder einmal aus. Raketenalarm in Tel Aviv. Das war für mich zwar nichts Neues, doch diesmal fühlte es sich anders an. Schließlich sollte meine Familie ja schon bald mit hierherkommen.

Ich hatte zehn Tage Zeit, um alles vorzubereiten. An den Vormittagen besichtigte ich Wohnungen, und die zentrale Frage lautete plötzlich: Effo ze mamad ? Wo befindet sich der Schutzraum in der Wohnung? Ließe sich der vielleicht zum Kinderzimmer umfunktionieren, so dass wir bei Alarm mitten in der Nacht unseren Sohn nicht wecken müssen? Die Maklerin zeigte mir in dieser Zeit 30 Wohnungen. Jeden Morgen holte sie mich um neun Uhr vor meinem Hotel mitten in Tel Aviv ab und fuhr dann kreuz und quer mit mir durch die Stadt. Ich erinnere mich noch gut an ein schönes Garten-Apartment im Stadtteil Neve Tzedek, das allerdings schon von einer Vielzahl von Mücken bewohnt wurde, an eine Wohnung in einem Hochhaus mit tollem Blick über die ganze Stadt, von wo aus ich die Raketen fliegen sehen konnte, und an eine kleine, gewölbeartige Behausung in der historischen Altstadt von Jaffa, ohne Parkplatz und ohne Schutzraum, dafür aber mit einem Zugang über hundert Treppenstufen – nicht gerade ideal, wenn man mit einem Buggy unterwegs ist. Unser Sohn war gerade erst ein Jahr alt geworden.

Mittags setzte mich die Maklerin dann immer vor dem ZDF-Studio ab, denn die politische Lage spitzte sich wieder einmal zu, und der damalige Korrespondent, mein Vorgänger Christian Sievers, musste täglich für diverse Sendungen berichten und Schaltgespräche führen. Ich war also eine willkommene Verstärkung und wurde gleich in die Berichterstattung eingebunden. Das Team im Studio war mir vertraut. In den Jahren 2010 und 2011 hatte ich ein paar Wochen lang mit den Kollegen zusammengearbeitet, auch in Gaza war ich bereits mehrfach gewesen.

Doch was am 8. Juli 2014 geschah, hat mich so erschüttert, dass ich es wohl nie vergessen werde – auch weil es beinah surreale Züge hatte. Diese Ereignisse haben mir wieder einmal vor Augen geführt, dass auf unserer Welt so unfassbar vieles gleichzeitig geschieht. Selbst für uns Reporter, die wir zwischen den Realitäten pendeln, wird es da manchmal schwierig: nämlich wenn wir Tod und Zerstörung zu einem Fernsehpublikum transportieren sollen, das an diesem Tag ausgelassen vor der Flimmerkiste sitzt und sich fast im Minutentakt freut, weil das Runde ins Eckige geschossen wird. Es war Fußball-WM, Deutschland stand im Halbfinale. Mein Mann Telis meldete sich aus China und fragte, ob alles o.k. sei. »Alles bestens«, antwortete ich, aber natürlich wusste er: Das sage ich auch, wenn es vielleicht nicht ganz der Wahrheit entspricht … Er wollte wegen der Zeitverschiebung nachts aufstehen, um das Spiel gegen Brasilien live im deutschen Fernsehen sehen zu können. »Mach das«, sagte ich ihm, »ich schaue wohl mit den Kollegen im Studio, wir müssen vermutlich arbeiten und lassen das Spiel nebenher laufen.« Und dann rollte die Militäroperation »Protective Edge« an, hierzulande besser bekannt als Gaza-Krieg von 2014. Radikale Palästinenser feuerten Dutzende Raketen aus dem Gazastreifen auf Tel Aviv ab. Alle paar Minuten rannten wir in den Schutzraum in unserem Bürogebäude, bis wir beschlossen, beim nächsten Alarm aufs Dach zu gehen und zu filmen, wie die Raketen vom israelischen Abwehrsystem abgefangen werden. Unser Kamerateam war in Tel Aviv unterwegs, unsere palästinensischen Kollegen in Gaza berichteten von dort. Die israelische Armee flog Luftangriffe, bald war klar, dass eine Bodenoffensive vorbereitet wurde. Wir teilten uns auf: Christian Sievers analysierte in den Schaltgesprächen die Lage, ich führte Interviews und machte die Berichte. So ging das fast im Stundentakt. Dann begann das Halbfinale. Das ZDF übertrug das Spiel, und für die Halbzeitpause war eine Ausgabe des »heute journal« vorgesehen. Dafür sollte ich einen Bericht machen und die Lage erklären, und Christian würde anschließend ein Live-Gespräch mit Claus Kleber führen.

In unserem Schneideraum standen mehrere Monitore. Auf dem einen sahen Cutter Tim und ich uns an, was wir geschnitten hatten, auf dem anderen traf laufend neues Material von unseren Teams und den Nachrichtenagenturen ein, auf dem dritten lief das Halbfinale. Es fiel ein Tor nach dem anderen, Tim und ich kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Manchmal wussten wir nicht, was wir da gerade hörten: Torjubel, Explosionsgeräusche der Bomben auf Gaza oder den Raketenalarm – und war der gerade live oder kam das Getöse aus dem Lautsprecher? Unser Beitrag über den Beginn des Gaza-Kriegs war kurz vor der Halbzeitpause fertig. Es stand unglaubliche 6:0 für Deutschland, und Christian steckte seinen Kopf durch die Tür: »So viele Zuschauer hatten wir noch nie und werden wir wohl auch nie wieder haben«, bemerkte er und spielte darauf an, dass an diesem Tag die Einschaltquote wohl extrem hoch sein dürfte. »Nee, den Krieg schaut sich keiner an«, rief ich zurück, »du weißt doch, in der Halbzeitpause gehen alle auf die Toilette oder holen sich ein Bier.« In Extremsituationen neige ich manchmal dazu, mein eigenes Entsetzen mit einer blöden Bemerkung zu kaschieren.

Tatsächlich gab es an diesem Abend einen Quotenrekord: 32,57 Millionen Zuschauer hatten das Halbfinale im ZDF verfolgt. Wie viele davon nach dem Torhagel auch die Zusammenfassung über den Raketen- und Bombenhagel im Nahen Osten gesehen haben, ist nicht dokumentiert. Einer jedoch hatte sich auch unseren Bericht angeschaut: mein Mann Telis. Unser Sohn hatte sich pünktlich zur Halbzeitpause mit dem Wunsch nach seiner nächtlichen Flasche Milch gemeldet. Die bekam er, während das »heute journal« lief und mein Mann von den schlechten Neuigkeiten aus Israel und Gaza erfuhr. »Sieht ja nicht sehr einladend aus bei euch«, lautete seine Nachricht. »Ich hoffe, ihr seid an sicheren Orten.«

Die darauffolgenden Tage verliefen auf ähnliche Weise, nur ohne Fußball: Es war Krieg, und ich suchte immer noch eine Wohnung und eine Kita. Letztere fand ich immerhin recht schnell, in einer kleinen Straße in Jaffa. Sie wirkte etwas heruntergekommen, aber die Erzieherin begrüßte mich so herzlich, dass ich mich auf der Stelle in sie verliebte. Und einen Schutzraum gab es dort auch. Darüber war ich besonders froh, denn am Vortag meines Besuchs waren Raketenteile über der Kita niedergegangen. Glücklicherweise war niemand zu Schaden gekommen. Die Trümmer waren in den Garten gefallen, während die Kinder mit ihren Betreuern sicher im Schutzraum saßen.

Nach zehn erlebnisreichen und denkwürdigen Tagen stieg ich wieder in den Flieger, es ging zurück nach China. Der Gaza-Krieg dauerte noch an. Einen Kitaplatz hatte ich, eine Wohnung allerdings nicht. Und es blieb das mulmige Gefühl bei dem Gedanken, mit der Familie bald dauerhaft nach Tel Aviv zu ziehen.

Plötzlich mit der Familie mitten im (heiligen) Krisengebiet


Im Oktober 2014 landeten wir drei in Tel Aviv und machten uns als Erstes auf die Suche nach einer Wohnung.


Der Gaza-Krieg war zwar vorbei, und es herrschte Waffenstillstand, doch die Lage war noch immer angespannt. Die Stimmung auch. Irgendwie wirkte selbst das sonst so fröhliche Tel Aviv deprimiert. Vor allem die jungen Israelis bezweifelten, dass die Zukunft besser und sicherer werden würde.

Wir kamen vorerst in einer Ferienwohnung unter, während unsere Möbel irgendwo zwischen Peking und Tel Aviv auf einem Containerschiff über die verschiedenen Ozeane schipperten. Die Maklerin war nun jeden Morgen mit der ganzen Familie auf Besichtigungstour. Für uns stand fest, dass unser Sohn Jonas möglichst in einem ortsüblichen Umfeld aufwachsen sollte:...

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