Fabrik der Schatten - Kriminalroman

Fabrik der Schatten - Kriminalroman

von: Matthias Wittekindt, Rainer Wittkamp

Heyne, 2022

ISBN: 9783641267162

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 3532 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Fabrik der Schatten - Kriminalroman



LOTZIN/DEUTSCHES KAISERREICH

Die Heeresversuchsanstalt Lotzin lag in der Schorfheide nördlich von Berlin und war erst ein Jahr zuvor vom Großen Generalstab als Testgebiet für Artilleriewaffen und schwere Kampfgeräte auserkoren worden. Es handelte sich um ein weiträumig eingezäuntes Waldgelände mit mehreren gerodeten Heideflächen und aufgelassenen Forstgebäuden. Für den heutigen Tag stand ein wichtiger Waffentest an.

Auch Major Albert Craemer war abkommandiert, daran teilzunehmen. Dabei arbeitete er eigentlich beim militärischen Nachrichtendienst, einer Untersektion des Großen Generalstabs. Mit Artilleriewaffen hatte er für gewöhnlich nur auf dem Papier zu tun, denn wer in der Abteilung III b Dienst tat, war eher zum Planen bestellt als zum Feuern. Craemer wusste um das übergeordnete Ziel der Behörde, denn in seiner Abteilung am Königsplatz 6, nur wenige Schritte vom Deutschen Parlament entfernt, wurden jene Pläne erstellt, die dem Reich bei zukünftigen Kriegen den Sieg garantieren sollten. Von der Mobilmachung, dem Einsatz der Streitkräfte, der Beschaffung von Kriegsmaterial bis hin zur Spionageabwehr wurde hier alles strategisch erdacht und organisiert.

Nach ihrer Gründung im Jahr 1889 hatte die Abteilung III b zunächst ein Schattendasein geführt. Gerade einmal eine Handvoll Offiziere waren mit geheimdienstlichen Aufgaben betraut gewesen. Da die Welt, und mit ihr die Konflikte, täglich komplexer wurden, fand zwanzig Jahre später ein Umdenken statt. Für die militärische Elite schien ein Krieg unvermeidlich. Man brauchte Männer, die diesen neuen Aufgaben gewachsen waren.

Daher war das Personal massiv aufgestockt worden, und man hatte geeignete Personen mit militärischer Ausbildung eingestellt. Einer dieser Männer war Albert Craemer.

Von Berlin aus war Lotzin bequem mit der Heidekrautbahn erreichbar, ein Umstand, der Craemer die ungeliebte Pflichtaufgabe etwas erträglicher machte. Die Heide stand in voller Blüte, und der Anblick der farbenfrohen Kräuter nahm sein Auge gefangen.

Der Major und Leiter der Abteilung Spionage Frankreich hatte sich in ein Abteil mit ihm unbekannten Offizieren gesetzt, um einer Konversation möglichst aus dem Weg zu gehen. Er hatte noch immer nicht die geringste Ahnung, warum er vom Großen Generalstab zu dieser Vorführung einbestellt worden war.

Auf dem Versuchsgelände von Lotzin angekommen, war eins für Craemer sofort klar: Ein großer Tag für das Heer, keine Frage.

Eine militärtechnische Novität sollte vorgeführt und erprobt werden. Ein Minenwerfer, von dem man sich im Grabenkampf des Stellungskriegs bei der Erstürmung feindlicher Verteidigungsposten große Wirkung versprach. Hunderte Offiziere der Artillerie, Infanterie und Kavallerie hatten sich am Leitstand der Heeresversuchsanstalt eingefunden. Sie bestaunten den Minenwerfer, der einige Meter entfernt stand und an dem mehrere Kanoniere letzte Vorbereitungen trafen. Die Männer trugen die feldgraue Litewka, den bequemen Uniformrock der Kanoniere sowie die preußische Schirmmütze der Mannschaften.

»Die Kröte«, wie Craemer den Minenwerfer in Gedanken sofort nannte, war erheblich kürzer als ein herkömmliches Geschütz. Er sah aus, als würde er am Boden hocken, wirkte gedrungen und trutzig.

Bereits nach wenigen Minuten entdeckte Craemer unter den Offizieren seinen Kollegen Oberst Gottfried Lassberg, der die Inlandspionage Deutsches Reich leitete, sowie dessen Stellvertreter Hauptmann Ferdinand Kurzhals. Lassberg war ein mittelgroßer, feingliedriger Mann von Anfang fünfzig, mit unruhig hin und her eilendem Blick. Hauptmann Kurzhals, ein Enddreißiger mit kahl geschorenem Schädel und einer Hasenscharte, die nur notdürftig von einem Oberlippenbärtchen kaschiert wurde, wirkte so sehr in sich ruhend, dass es schon fast etwas Stumpfes hatte.

Die drei Männer begrüßten sich militärisch knapp und begannen ein Gespräch über die anstehende Präsentation. Kurzhals schien nun zu erwachen und äußerte sich begeistert über die neue Waffe.

»Sie hat eine maximale Reichweite von 1050 Metern, das müssen Sie sich mal vorstellen. Mit ihrem Steilfeuer können wir sämtliche Arten von Unterständen in null Komma nichts auseinandersprengen.«

»Sie arbeitet mit Wurfminen, nicht wahr?«, fragte Oberst Lassberg.

»Die Dinger haben eine ungeheure Zerstörungskraft, obwohl sie nicht danach aussehen«, antwortete Kurzhals. »Es wurde ja auch dringend Zeit, dass das deutsche Heer sich um Modernität bemüht und nicht länger ausschließlich traditionellen Methoden verhaftet bleibt. Die französische Militärdoktrin ist uns leider auf manchen Gebieten inzwischen stark überlegen.«

»Worauf führen Sie das zurück?«, fragte Craemer.

»Vorsichtig ausgedrückt würde ich von einer ›taktischen Stagnation‹ sprechen. Das unveränderte Festhalten an den militärischen Strategien Graf von Moltkes und Graf von Roons ist eindeutig kontraproduktiv.«

»Diesen genialen Generalfeldmarschällen haben wir den Sieg über unseren französischen Erbfeind zu verdanken«, sagte Lassberg mit deutlicher Schärfe. »Das ist Ihnen schon klar, Kurzhals, oder?«

In diesem Moment ertönte eine Signalpfeife, die Gespräche brachen ab, und alle Militärs drehten sich zu dem Minenwerfer. Mit einer Signalflagge gab der Geschützführer seinen Kanonieren das Zeichen zum Einsatz. Routiniert wurde die Kanone gerichtet, die Munition eingelegt und kurz darauf abgefeuert. Die Wurfmine schoss aus dem Rohr, flog etwa achthundert Meter weit und schlug dann in einen großen Holzstapel ein, der sofort in Flammen aufging.

Während all das geschah, kurbelte ein Operateur wie verrückt an seiner hölzernen Kamerabox, um keinen Moment zu verpassen. Begeisterung machte sich unter den vierhundert Offizieren breit, viele klatschten, man hörte Bravo-Rufe.

Dann wiederholte die Geschützmannschaft den Vorgang neun weitere Male mit anderen Zielen in verschiedenen Entfernungen. Ein präziser Vorgang ohne Abweichung. Das Auswischen des Rohres, die Neuausrichtung des Geschützes und das Einlegen der Wurfmine nahmen bei jedem weiteren Vorgang ein paar Sekunden weniger in Anspruch.

Der leitende Offizier der Heeresversuchsanstalt wandte sich an die Anwesenden. »Meine Herren, Sie sehen, dass die deutsche Armee über ungeheure Fähigkeiten verfügt. Und dies ist nur eine von vielen neuen Waffen, die wir Ihnen schon bald zu präsentieren hoffen.«

Lautes Klatschen, heftiger Applaus und Hochrufe auf den Kaiser erschallten.

»Ich darf Sie jetzt alle zu einer zünftigen Mahlzeit einladen«, sagte der Offizier. »Es gibt leckeres Hirschragout aus der Gulaschkanone und ein ganz vorzügliches Schwarzbier. Lassen Sie es sich schmecken.«

»Das hört sich doch gut an«, sagte Kurzhals zu Craemer.

»Muss leider passen. Ich habe in zwei Stunden einen Termin im Großen Generalstab.«

»Schade. Dann ein anderes Mal«, sagte Lassberg.

Craemer nickte seinen Kollegen zu und verschwand in der Menge der Offiziere.

◆ ◆ ◆

Der Major sinnierte noch immer über das Gespräch mit Oberst Lassberg und Hauptmann Kurzhals, als er das Gebäude des Großen Generalstabs betrat. Merkwürdig – der eine scheint die Franzosen zu mögen, der andere hasst sie geradezu. Was für ein Gespann …

Im Büro erwartete ihn bereits seine Mitarbeiterin Lena Vogel. Sie trug ein sportlich geschnittenes zweiteiliges Kostüm, dessen Rocksaum mit den Fußknöcheln abschloss. Ihre üppigen kastanienbraunen Haare hatte sie hochgesteckt, was sie wenigstens fünfzehn Zentimeter größer machte. Wie immer trug Lena auch heute keinen Hut. Auf Außenstehende wirkte sie mit ihrer kecken Stupsnase und den zahlreichen Sommersprossen oft so, als wäre sie gerade von einer ausgedehnten Landpartie zurückgekehrt.

»Gibt’s was Neues?«, fragte Craemer.

»Nachricht aus Bingen. Auf Ihrem Tisch.«

Lena Vogel arbeitete zwar erst seit einem Jahr für ihn in der Abteilung III b, doch in dieser Zeit war sie zu seiner wichtigsten Vertrauten geworden.

Craemer überflog die Fernschreiben.

»Nun gut, eine schlimme Sache«, erklärte Craemer, während er die Papiere zurück auf seinen Schreibtisch legte. »Da haben sich offenbar einige Schwerverbrecher ein Duell geliefert. Oder sehen Sie mehr darin, Fräulein Vogel?«

»Ein Insasse schwer verletzt, ein zweiter tot – Kopf fast abgerissen.«

»Hab ich gelesen.«

»Und trotzdem noch zwei Schüsse in die Stirn und zwei in die Brust? Für mich sieht das nicht nach Gaunern aus, eher nach einer militärischen Operation. Das war, wenn Sie mich fragen, eine regelrechte Exekution.«

»Meinen Sie? Und warum, wenn das Profis waren, lagen dann Patronenhülsen neben dem Toten?«

Lena zeigte auf die Fernschreiben.

»Die Sache hat sich nachts ereignet, und das Zugunglück hat die halbe Stadt geweckt. Vermutlich blieb schlicht keine Zeit, die Hülsen zu suchen.«

»Sie hören mal wieder die Eulen pfeifen, Fräulein Vogel.«

»Sie meinen, dass Eulen pfeifen können?«

»Ich bewundere Ihren Scharfsinn und Ihre Kenntnisse, das wissen Sie, aber … Warten wir erst mal ab, ob noch was kommt.«

Es war sicher verfrüht, aus einem Duell zwischen Ganoven – denn das war es nach Craemers Ansicht – auf etwas Großes zu schließen, das möglicherweise einen für den Geheimdienst relevanten Hintergrund hatte.

Craemer überlegte, ob er vielleicht seinen...

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